19 Mai 2022

The good, the bad and the ugly: Lehren aus der Konferenz zur Zukunft Europas

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Sophia Russack.
Grafik: Institutionelle Struktur der EU-Zukunftskonferenz
“Das komplexe institutionelle Gefüge der Konferenz stellte sich als eine EU-eske Kompromisslösung dar.“

Die Konferenz über die Zukunft Europas ist vorbei. Sie ist eigentlich gut verlaufen, zumindest was das partizipatorische Element und den Enthusiasmus der teilnehmenden Bürger:innen betrifft. Doch wie jede Beobachter:in mit einem auch nur flüchtigen Verständnis der institutionellen Machtspiele in der EU voraussehen konnte, ließ die Zusammenarbeit zwischen den wichtigsten EU-Institutionen einiges zu wünschen übrig. Während die Konferenz auf jeden Fall als Inspiration für künftige Versuche dienen sollte, die Bürgerbeteiligung stärker im politischen Entscheidungsprozess der EU zu verankern, bleibt noch einiges zu tun, damit nicht die Institutionen selbst zu einem dauerhaften Fortschrittshindernis werden.

Leider hatten das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten von Anfang an völlig gegensätzliche Vorstellungen vom Zweck und der Funktionsweise der Konferenz. In der Folge wurde die Struktur der Konferenz selbst zu einer weiteren Manifestation typisch interinstitutioneller Spannungen, aufgelöst durch einen skurrilen EU-esken Kompromiss. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, und für die Zukunft können – und sollten – aus der Konferenz einige Lehren gezogen werden.

The good: Bürgerbeteiligung

Beginnen wir mit dem Guten, speziell mit dem, was dieses Unterfangen einzigartig machte: seine partizipatorische Dimension. Diese war überraschend fruchtbar, auch wenn der Prozess selbst noch verbessert werden könnte. Allein dass es die Bürgerforen, den ersten Versuch der EU, auf so direktem Weg mit den Bürger:innen in Kontakt zu treten, überhaupt gab, war bedeutsam und wurde noch verstärkt durch den Enthusiasmus und das Engagement, das die Bürger:innen mitbrachten.

Und als Zeichen dieses Erfolgs hat die Konferenz nun einen Bericht mit 49 Empfehlungen und mehr als 200 Vorschlägen zur Verbesserung der EU vorgelegt. Dazu gehören eine stärkere Integration der EU in der Klima-, Sozial- und Gesundheitspolitik sowie die Umstellung von Einstimmigkeit auf Mehrheitsentscheidungen im Rat in allen Politikbereichen

Ob diese Vorschläge umgesetzt werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt …

The bad: Revierstreitigkeiten

... und das führt uns zum Schlechten. Selbst die enthusiastischsten Bürger:innen können die mangelnde Unterstützung durch ihre Regierungen nicht ausgleichen, von denen die meisten kaum Interesse an der Konferenz gezeigt haben.

Viele der Empfehlungen der Konferenz können durch den Vertrag von Lissabon umgesetzt werden (z. B. die Einführung transnationaler Europawahllisten). Einige der wichtigsten Punkte allerdings würden eine Vertragsänderung erfordern (z. B. dem Europäischen Parlament ein Recht zur Gesetzesinitiative zu geben oder die Gesundheitspolitik als geteilte Zuständigkeit zu verankern).

Wenig überraschend zögern die Mitgliedstaaten, diesen heiklen Weg einer Vertragsänderung zu beschreiten (einige von ihnen haben sich sogar ausdrücklich dagegen ausgesprochen). Stattdessen würden sie sich lieber mit der Feinabstimmung konkreter Maßnahmen im Rahmen ihrer eigenen (Strategischen) Agenda beschäftigen. Auf der anderen Seite steht ein kampfbereites Europäisches Parlament, das mit Freuden die ehrgeizigsten Empfehlungen aufgreifen will. Mit der Einberufung eines Konvents, der auf die Konferenz folgen soll, hat es bereits den ersten Schritt getan.

Das Parlament drängt seit jeher auf weitreichende institutionelle Reformen, wobei das Streben nach mehr europäischer Demokratie und supranationalen Kompetenzen mit der Ausweitung seiner eigenen Macht Hand in Hand geht. Und auch wenn der Versuch des Parlaments, seine Macht zu vergrößern, nicht per se zu verurteilen ist, hat er doch denjenigen Mitgliedstaaten Auftrieb gegeben, die die Konferenz diskreditieren wollen, indem sie behaupten, sie sei vom Parlament gekapert worden.

The ugly: Prozessfixierung

Was die beiden Institutionen – sowie die eher gleichgültige Europäische Kommission – außerdem einte, war ihre gemeinsame Fixierung auf den Prozess und ihre jeweilige Rolle darin.

Man darf nicht vergessen, dass die Konferenz über einer Meinungsverschiedenheit, wer den Vorsitz führen sollte, ein ganzes Jahr verlor. Die Pandemie diente dabei als bequemer Vorwand. Dabei ist es fraglich, ob die Konferenz ohne die Pandemie tatsächlich früher begonnen hätte.

Das komplexe institutionelle Gefüge der Konferenz stellte sich als eine EU-eske Kompromisslösung dar. Sie löste keine Revierkämpfe, sondern verschob sie lediglich in die Zukunft. Viele Verfahrensfragen mussten während der laufenden Konferenz geklärt werden, und viel Zeit und Energie floss in die Frage, wer was wie entscheiden darf. Wertvolle Zeit, die besser in Inhalte hätte investiert werden können.

Was den Unterschied machen könnte: Bürgerbeteiligung und Krieg

Für die künftige Bedeutung der Konferenz könnten zwei Aspekte den Ausschlag geben.

Erstens: Ein repräsentativer Querschnitt der europäischen Bürger:innen fordert eine ehrgeizige institutionelle Reform und hat dafür konkrete Empfehlungen formuliert. Die langjährige Annahme, die Bürger:innen interessierten sich nicht für institutionelle Mechanismen, sondern nur für konkrete Politikergebnisse, scheint sich als falsch erwiesen zu haben. Sie interessieren sich sehr wohl dafür und fordern demokratische Standards, wie sie sie von der nationalen Ebene her kennen, etwa ein direktes Mitspracherecht bei der Wahl der Regierungschef:in.

Eine Kernforderung, die sich daraus ergibt, ist die Abschaffung der Einstimmigkeit im Rat, die in allen thematischen Arbeitsgruppen diskutiert wurde. Die Abschaffung der Einstimmigkeit ist zweifellos der Schlüssel, um die Handlungs- und Reaktionsfähigkeit der EU zu verbessern.

Zweitens: Der Krieg in der Ukraine hat die Unzulänglichkeiten der EU deutlich gemacht und gezeigt, dass die einzelnen Mitgliedstaaten in grundlegenden Fragen wie der Sicherheit nicht allein agieren können. In einigen Bereichen (z. B. Energie) arbeiten sie nicht ausreichend zusammen, um wirksam zu sein. Der Krieg hat dem Reformprozess eine neue Dringlichkeit verliehen und zeigt, dass die EU für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit gemacht werden muss.

Die Prognose: Ungewissheit

Welches Schicksal die Empfehlungen der Konferenz nun erfahren und ob die Bürgerforen die Positionen der Mitgliedstaaten in irgendeiner Form beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Einen ersten Hinweis könnte die Tagung des Europäischen Rates am 23./24. Juni geben, wo Präsident Emmanuel Macron eine Debatte über die Einrichtung eines formellen Konvents vorgeschlagen hat.

Die Mitgliedstaaten haben in dieser Frage das Sagen, denn sie müssen jede Vertragsänderung einstimmig beschließen. Die Zeit drängt, da einige dieser Fragen (mit oder ohne Vertragsänderung) vor der Europawahl 2024 geklärt werden müssen – zum Beispiel, wie der nächste Kommissionspräsident ernannt werden soll.

Ob die Konferenz zur Zukunft Europas ein Erfolg wird, hängt letztlich davon ab, welche Maßnahmen ihr folgen. In Zukunft müssen sich die drei EU-Institutionen weniger auf ihre institutionellen Machtspiele und mehr auf konstruktive Kompromisslösungen konzentrieren, die die Ideen der Bürger:innen zur Verbesserung der Politik und des politischen Systems der EU berücksichtigen.

Porträt Sophia Russack

Sophia Russack ist Researcher am Centre for European Policy Studies (CEPS). Ihr Forschungsschwerpunkt sind die institutionelle Architektur und Entscheidungsprozesse der EU sowie institutionelle Reformen, mit einem besonderen Fokus auf die EU-Kommission.


Dieser Beitrag erschien zuerst in englischer Sprache auf der Homepage des CEPS.



Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Struktur der CoFoE: Europäische Union, via CoFoE-Homepage; Porträt Sophia Russack: alle Rechte vobehalten.

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