29 Juni 2020

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (Juni 2020): Sozialdemokraten und Rechte verlieren – EVP auf Fünfjahreshoch

GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 39 68 146 98 187 62 76 29
April 20 47 53 151 88 202 66 66 19 13
Juni 20 48 55 143 91 203 64 63 20 18
dynamisch 49 57 144 93 203 69 63 27

Basis-Szenario,
Stand: 25.6.2020.


Dynamisches Szenario,
Stand: 25.6.2020.
Wie wird die „neue Normalität“ nach Corona aussehen? Wo wird es eine Rückkehr zum vorherigen Zustand geben, welche Veränderungen werden auf Dauer sein? Neben vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen stellt sich diese Frage auch für die europäischen Wahlumfragen. Diese wurden durch die Corona-Krise heftig durcheinandergewirbelt: Die letzte Sitzprojektion von Ende April zeigte in Folge der Pandemie einen deutlichen Rally-’round-the-flag-Effekt, bei dem in sehr vielen EU-Mitgliedstaaten die Partei des jeweiligen Regierungschefs stark dazugewann. In der Summe profitierten davon die beiden größten europäischen Fraktionen, nämlich die konservative EVP und die sozialdemokratische S&D, deren Umfragewerte auf dem Höhepunkt der Krise einen Sprung nach oben machten.

Inzwischen hat die Rally ʼround the flag jedoch ihr Ende erreicht: In den letzten acht Wochen gab es fast nirgendwo in der EU noch weitere Zugewinne der nationalen Regierungsparteien, in den meisten Fällen gingen ihre Werte wieder leicht zurück. (Lediglich die niederländische VVD, Mitglied der liberalen RE-Fraktion, die litauische LVŽS/G-EFA sowie die lettische JV/EVP konnten noch einmal etwas nachlegen.) Allerdings fielen auch nur wenige Regierungsparteien auf den Stand vor der Pandemie zurück; einige von ihnen – insbesondere die deutsche CDU/CSU (EVP) – konnten ihre starken Krisenzuwächse sogar vollständig erhalten. Deutliche Einbußen erfuhren lediglich die polnischen Rechtskonservativen (PiS/EKR), die zum Höhepunkt der Krise in Umfragen an der absoluten Mehrheit kratzten, im Zuge des nationalen Präsidentschaftswahlkampfs zuletzt jedoch an die oppositionelle PO (EVP) verloren.

EVP gewinnt, S&D verliert

Über die gesamte EU hinweg brachten die letzten Wochen der EVP damit noch einmal eine leichte Verbesserung in der Sitzprojektion. Außer in Polen legten oppositionelle EVP-Mitgliedsparteien auch in Belgien und Portugal zu und konnten damit die leichten Verluste der EVP-Regierungsparteien in Rumänien, Österreich und der Slowakei ausgleichen. Mit insgesamt 203 Sitzen (+1) erreicht die EVP in der Projektion ihren besten Wert seit Herbst 2015; ihr Sitzanteil wäre aufgrund der inzwischen durch den Brexit verringerten Gesamtsitzzahl sogar so hoch wie zuletzt im Herbst 2014.

Für die S&D-Fraktion waren die Umfragen der letzten zwei Monate hingegen von Rückschlägen geprägt. Zum einen gingen die Werte der sozialdemokratischen Regierungsparteien in Spanien, Dänemark und Deutschland zurück. Zum anderen konnten aber auch sozialdemokratische Oppositionsparteien kaum vom Abklingen der Corona-Krise profitieren und verloren in Polen, Belgien, Lettland, Griechenland und Zypern an Zustimmung. Einen leichten Aufschwung erfuhren lediglich die österreichische SPÖ und die rumänische PRO. In der Summe würde die S&D-Fraktion derzeit noch 143 Sitze erreichen (–8). Gegenüber der März-Projektion, die größtenteils auf Umfragen aus der Vor-Corona-Zeit basierte, liegt die S&D allerdings noch immer fünf Sitze im Plus.

Rekordvorsprung der EVP

Sitzvorsprung der EVP (Basis-Szenario).

Die sich öffnende Schere führt zu einem neuen Rekordvorsprung der EVP in der Sitzprojektion: Die Konservativen würden nun 60 Sitze mehr erreichen als die Sozialdemokraten. Das ist zwar ein niedrigerer Wert als beim Ergebnis der Europawahl 2009, als die EVP noch einen Vorsprung von 81 Sitzen erzielte. Im Zuge der Eurokrise hatte die EVP diesen Vorsprung jedoch weitgehend eingebüßt; in den seit 2014 regelmäßig berechneten Sitzprojektionen auf diesem Blog kam die S&D Mitte 2016 bis auf sieben Mandate heran.

Vor allem durch den Brexit und damit den Austritt der Labour Party vergrößerte sich der Abstand später wieder auf rund 40-50 Sitze; im aktuellen Parlament sind es 41. Die 60 Sitze in der Sitzprojektion wären demgegenüber noch einmal eine deutliche Verbesserung für die EVP. Sollte sich dieser Vorsprung stabilisieren, dürfte das auch Auswirkungen auf die Debatte über das Spitzenkandidaten-Verfahren und die umstrittene Frage haben, ob die stärkste Kraft im Europäischen Parlament auch einen automatischen Anspruch auf die Kommissionspräsidentschaft erheben kann.

Liberale, Grüne, Linke im Plus

Bei den übrigen Fraktionen im Europäischen Parlament gab es in den vergangenen acht Wochen nur kleinere Veränderungen. Die liberale RE-Fraktion konnte – zum ersten Mal seit der Europawahl im vergangenen Jahr – gegenüber der letzten Sitzprojektion zulegen. Dank etwas verbesserter Werte in den Niederlanden, Spanien und Ungarn käme sie nun auf 91 Sitze (+3).

Ebenfalls dazugewinnen kann die Fraktion der Grünen/EFA (55/+2). Hier sind es vor allem die auf nationaler Ebene relativ großen Mitgliedsparteien, denen es gelingt, sich im Nachklang der Corona-Pandemie bemerkbar zu machen: die deutschen Grünen – die in der April-Projektion deutlich verloren hatten, sich nun aber wieder stabilisiert haben –, die tschechischen Piráti sowie die litauische LVŽS. (Zudem konnte die französische EELV bei den gestrigen französischen Kommunalwahlen stark dazugewinnen. Allerdings schlägt sich das nicht in der Sitzprojektion nieder, da es in Frankreich keine aktuellen nationalen Umfragen gibt und sich aus dem Kommunalwahlergebnis aufgrund des völlig anderen Wahlsystems keine sinnvolle Projektion für die Europawahl berechnen lässt.)

Minimale Gewinne gab es schließlich auch bei der Linksfraktion GUE/NGL (48/+1). Hier war es die spanische Mitgliedspartei UP, die nach längerer Durststrecke in den Umfragen leicht hinzugewinnen konnte.

Erneut Verluste für Rechtsfraktionen

Während die Mitte-links-Fraktionen – abgesehen von der S&D – in den vergangenen Wochen leicht zulegen konnten, konnten die Parteien rechts der EVP wie schon im April nicht von der Corona-Krise profitieren. Die beiden Rechtsfraktionen EKR und ID müssen in den Umfragen erneute Verluste hinnehmen und erreichen gemeinsam ihren niedrigsten Wert seit zwei Jahren.

Bei der rechtskonservativen EKR-Fraktion konnte zwar die italienische Mitgliedspartei FdI erneut leicht dazugewinnen und damit ihren spektakulären Aufstieg fortsetzen: Noch im Herbst 2018 wäre sie an der nationalen Vierprozenthürde gescheitert und kam in der Europawahl-Sitzprojektion nicht vor; bei der Wahl 2019 erreichte sie fünf Sitze; aktuell wäre sie mit dreizehn Mandaten zweitstärkste Partei ihrer Fraktion. Stärker als die Gewinne der FdI schlugen zuletzt jedoch die Verluste der polnischen Mitgliedspartei PiS ins Gewicht, sodass die EKR insgesamt noch auf 64 Sitze käme (–2).

Das Spiegelbild zum Aufstieg der FdI bildet der Niedergang der anderen italienischen Rechtsaußenpartei Lega, die in der aktuellen Projektion zum wiederholten Mal Sitze verliert. Zwar ist die Lega in den Umfragen immer noch sowohl die stärkste Kraft in Italien als auch die stärkste rechtsextreme Einzelpartei in Europa. Doch die Verluste der Partei um Matteo Salvini ziehen die europäische Rechtsaußenfraktion ID insgesamt nach unten (63/–3). Erstmals seit Anfang 2018 ist die ID damit in der Sitzprojektion auch wieder schwächer als die EKR, wenn auch nur minimal.

Mehrere neue Kleinparteien

Wenig Veränderungen gibt es schließlich auch bei den fraktionslosen Parteien (20 Sitze/+1). Hier können die italienische Regierungspartei M5S sowie die rechtsextreme ĽSNS aus der Slowakei leicht dazugewinnen, während die ebenfalls rechte Jobbik aus Ungarn leicht verliert.

Deutlich zulegen können hingegen die „weiteren“ Parteien, die derzeit nicht im Parlament vertreten sind und auch keiner europäischen Partei angehören (18 Sitze/+5). Dies liegt zum einen an Zugewinnen der rechtspopulistischen Konfederacja aus Polen. Zum anderen erscheinen im Tableau mehrere Kleinparteien, die nun erstmals (oder erstmals wieder) einen Sitz im Parlament erringen würden:
  • MeRA25 wurde 2018 von dem früheren griechischen Finanzminister Janis Varoufakis gegründet und ist der griechische Ableger der links-proeuropäischen Bewegung DiEM25.
  • Die dänischen Nye Borgerlige spalteten sich 2015 von den Konservativen (EVP) ab und vertreten einen rechtsoffenen, wirtschaftsliberalen und europafeindlichen Nationalismus.
  • Eesti 200 ist eine 2018 gegründete klassisch liberale Partei, die vor der Europawahl 2019 bereits ihr Interesse an einem Beitritt zur RE-Fraktion bekundet hat. Sie wäre damit bereits die dritte Mitgliedspartei der europäischen Liberalen aus dem viertkleinsten EU-Mitgliedstaat.
  • Die zyprische DIPA spaltete sich 2018 von der sozialliberalen Partei DIKO ab und strebt eine Modernisierung der zyprischen Politik aus der politischen Mitte heraus an.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dabei dem Basisszenario, in dem nationale Parteien in der Regel jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet und Parteien ohne klare Zuordnung als „weitere Parteien“ ausgewiesen werden. Demgegenüber geht das dynamische Szenario von stärkeren Annahmen aus und ordnet insbesondere die „weiteren Parteien“ der Fraktion zu, der diese plausiblerweise am nächsten stehen. Die Veränderungen im dynamischen Szenario sind in der Tabelle durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter den Tabellen erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 39 68 146 98 187 62 76 29
April 20 47 53 151 88 202 66 66 19 13
Juni 20 48 55 143 91 203 64 63 20 18
dynamisch 49 57 144 93 203 69 63 27

GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
DE 7 Linke 17 Grüne
1 Piraten
1 ÖDP
1 Volt
1 Partei
14 SPD 5 FDP
2 FW
35 Union 1 Familie 9 AfD 1 Partei 1 Tier
FR 7 FI 14 EELV 11 PS 19 LREM 14 LR
14 RN

IT

19 PD
6 FI
1 SVP
13 FdI 23 Lega 14 M5S
ES 8 UP
1 Bildu
1 ERC 17 PSOE 5 Cʼs
1 PNV
15 PP 9 Vox
1 JxC 1 MP
PL

5 Lewica
16 KO
4 KP
22 PiS

5 Konf
RO

10 PSD
3 PRO
7 USR-PLUS 13 PNL



NL 2 SP 3 GL 3 PvdA 9 VVD
2 D66
3 CDA
1 CU
2 FvD
1 SGP
3 PVV

EL 6 Syriza
1 KINAL
11 ND 1 EL
1 KKE 1 MeRA25
BE 3 PTB-PvdA 1 Groen
1 Ecolo
1 sp.a
2 PS
1 O-VLD
2 MR
1 CD&V
1 cdH
1 CSP
3 N-VA 4 VB

PT 2 BE

10 PS
7 PSD
1 CDS-PP



1 CH
CZ 1 KSČM 4 Piráti 1 ČSSD 8 ANO 2 TOP09
1 KDU-ČSL
3 ODS 1 SPD

HU

3 DK
1 MSZP
3 MM 13 Fidesz

1 Jobbik
SE 2 V
7 S 2 C 4 M
1 KD
5 SD


AT 3 Grüne 4 SPÖ 1 Neos 9 ÖVP
2 FPÖ

BG

6 BSP 2 DPS 6 GERB
1 DB



2 NTD
DK 1 Enhl. 1 SF 5 S 3 V
1 RV
1 K
1 DF
1 NB
FI 1 Vas 2 Vihreät 3 SDP 2 Kesk 3 Kok
3 PS

SK

3 SMER 1 PS 4 OĽANO 2 SaS 2 SR 2 ĽSNS
IE 4 SF

3 FF 6 FG



HR

5 SDP
5 HDZ


2 DPMŠ
LT
3 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
1 DP
3 TS-LKD


1 LT
LV

1 SDPS 1 AP!
1 ZZS
2 JV
1 JKP
1 NA

1 Prog
SI 1 Levica
1 SD 2 LMŠ 3 SDS-SLS
1 NSi




EE


3 RE
2 KE


1 EKRE
1 E200
CY 2 AKEL
1 EDEK
2 DISY


1 DIPA
LU
1 Gréng 1 LSAP 1 DP 2 CSV 1 ADR


MT

4 PL
2 PN




Verlauf (Basisszenario)


GUE/
NGL
G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
25.06.2020 48 55 143 91 203 64 63 20 18
26.04.2020 47 53 151 88 202 66 66 19 13
10.03.2020 51 58 138 88 188 67 82 21 12
09.01.2020 49 58 135 93 186 65 82 24 13
23.11.2019 48 57 138 99 181 62 82 22 16
23.09.2019 49 61 139 108 175 56 82 24 11
30.07.2019 47 64 138 108 180 57 82 22 7
Wahl 2019 40 68 148 97 187 62 76 27

Die Zeile „Wahl 2019“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 2. Juli 2019, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2019.
Angegeben sind jeweils die Werte im Basisszenario ohne das Vereinigte Königreich. Eine Übersicht der Werte mit dem Vereinigten Königreich für die Zeit bis Januar 2020 ist hier zu finden.
Eine Übersicht älterer Projektionen aus der Wahlperiode 2014-2019 gibt es hier.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Sofern eine Partei im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet ist als im Basisszenario, ist dies ebenfalls im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Fraktionszuordnung

Basisszenario: Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Europawahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden im Basisszenario als „Weitere Parteien“ eingeordnet.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Im dynamischen Szenario werden alle „weiteren Parteien“ einer schon bestehenden Fraktion (oder der Gruppe der Fraktionslosen) zugeordnet. Außerdem werden gegebenenfalls Fraktionsübertritte von bereits im Parlament vertretenen Parteien berücksichtigt, die politisch plausibel erscheinen, auch wenn sie noch nicht öffentlich angekündigt wurden. Um diese Veränderungen gegenüber dem Basisszenario deutlich zu machen, sind Parteien, die im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet werden, in der Tabelle mit der Farbe dieser Fraktion gekennzeichnet; zudem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Die Zuordnungen im dynamischen Szenario basieren auf einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien und sind daher im Einzelnen oft recht unsicher; in der Gesamtschau kann das dynamische Szenario jedoch näher an der wirklichen Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl liegen als das Basisszenario.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wird bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wird der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet, wobei jedoch von jedem einzelnen Umfrageinstitut nur die jeweils letzte Umfrage berücksichtigt wird. Stichtag für die Berücksichtigung einer Umfrage ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Feldforschung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung.
Für Länder, in denen es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, wird stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament bzw. der Durchschnitt aller Umfragen für das nationale oder das Europäische Parlament aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten verfügbaren Umfrage verwendet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wird auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel werden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. Für Länder, in denen die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (aktuell Belgien und Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion werden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass mehrere Parteien als Wahlbündnis auf einer gemeinsamen Liste antreten, werden der Projektion plausibel erscheinende Listengemeinschaften zugrunde gelegt. Dies betrifft folgende Parteien: Spanien: Más País (1., 3. Listenplatz), Compromís (2.) und Equo (4.); ERC (1., 3.-4.), Bildu (2.) und BNG (5.); PNV (1.) und CC (2.); Niederlande: CU (1., 3.-4.) und SGP (2., 5.); Slowakei: PS (1.) und Spolu (2.).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 2 Sitze für PARTEI und FW, je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, Volt und Familienpartei).
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb stets mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Feldforschung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 12.-22.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Kommunalwahl-Umfragen, 23.1.2020, Quelle: Wikipedia.
Italien: nationale Umfragen, 11.-23.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 9.-19.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 10.-23.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, Juni 2020 (PNL, PSD, USR-PLUS) 20.-27.5.2020 (kleinere Parteien), Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 9.-21.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 27.5.-9.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 15.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 15.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Portugal: nationale Umfragen, 4.-13.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 1.-5.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 31.5.-5.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 11.-21.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 11.-13.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 10.2.2020, Quelle: Europe Elects.
Dänemark: nationale Umfragen, 10.-21.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Finnland: nationale Umfragen, 2.-14.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 10.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 14.-20.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 25.5.-7.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 13.6.2020, Quelle: Vilmorus.
Lettland: nationale Umfragen, 31.5.2020, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: nationale Umfragen, 4.-17.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 8.-15.6.2020, Quelle: Wikipedia.
Zypern: nationale Umfragen, 14.5.2020, Quelle: Europe Elects.
Luxemburg: nationale Umfragen, 23.11.2019, Quelle: Europe Elects.
Malta: nationale Umfragen, 9.4.2020, Quelle: Europe Elects.

Bilder: Eigene Grafiken.

26 Juni 2020

Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Gustav Spät. (Zum Anfang der Serie.)

Kinder mit Europaflaggen und Luftballons
„Die Konferenz zur Zukunft Europas sollte sicherstellen, dass alle Bevölkerungsgruppen, EU-BefürworterInnen und auch EU-SkeptikerInnen, an den Gesprächen partizipieren.“
Eine zwei Jahre andauernde Konferenz zur Zukunft Europas. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, sie wünsche sich, dass die Menschen im Mittelpunkt der gesamten Politik stehen. Da hat sie recht – wenn das Versprechen denn eingelöst wird.

Meine große Hoffnung als überzeugter Europäer ist, dass es wirklich so kommt. Zumindest sollte es maßgebliche Schritte in diese Richtung geben. Für die gesamte Konferenz muss gelten: Europa steht ab jetzt an erster Stelle vor den Nationalstaaten. Die sich andeutenden Verschiebungen und Unsicherheiten im globalen Kräfteverhältnis in Richtung China, Rechtssicherheit, gemeinsame Werte und ein gemeinsames Verständnis von Freiheit sowie der Klimawandel und das Coronavirus machen die Notwendigkeit eines starken, demokratischen und für die Zukunft gerüsteten Europas noch deutlicher als bisher erkennbar.

Die Konferenz

Zwei Jahre sind eine lange Zeit für eine Konferenz. Sie bedarf deshalb einer klaren Grundstruktur, um nicht undurchsichtig für Teilnehmende und Mitverfolgende zu sein. Ein gelungenes Konzept für die Konferenz sollte einen klaren Weg vorgeben und einen Rahmen bieten, an dem man sich orientieren kann.

Wie eine grobe Struktur aussehen könnte, hat eine Mitteilung der EU-Kommission gezeigt. Sie schlägt vor, zwei große Themenbereiche vorzugeben: Ziele der EU in Sachfragen und institutionelle Fragen zur weiteren Demokratisierung der EU. Ich denke, dass durch einen solch offenen Rahmen genug Freiraum, aber auch Halt gegeben ist. Auch ist es sinnvoll, dass die geplanten Bürgerkonferenzen jeweils einen thematischen Schwerpunkt haben sollen. So können sich Teilnehmende gezielter vorbereiten.

Ein dritter konferenzübergreifender Schwerpunkt sollte das Beteiligungskonzept an sich sein. Die Entwicklung eines Konzepts, welches den Rückhalt europäischer Entscheidungen in der Bevölkerung erhöht, ist eine grundlegende Notwendigkeit, eine enorme Herausforderung und eine große Chance.

Der Name der Konferenz muss durch das Resultat gerechtfertigt werden. Es sollte diskutiert werden, wie wir die EU in Zukunft gestalten wollen, welche gemeinsamen Grundlagen wir haben, nicht wie das System möglichst unverändert erhalten werden kann. Ich wünsche mir, dass die aktuelle Krise als Chance begriffen wird und die Themenschwerpunkte dementsprechend gesetzt werden. Nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise ist dies die nächste Möglichkeit, unser System neu auszurichten und Mechanismen anzupassen.

Bürgerbeteiligung

Eine der größten Fragen der Konferenz ist die Ausgestaltung sowie das Ausmaß an Bürgerbeteiligung. Wie von der Kommission vorgeschlagen, sollten die BürgerInnen selbst, mit ihren Interessen und Bedürfnissen, maßgeblich für den Verlauf und das Ergebnis der Konferenz sein. Es darf nicht passieren, dass die Bürgerbeteiligung gelobt wird, am Ende aber Forderungen aus der Zivilgesellschaft ungehört bleiben und nicht politisch umgesetzt werden. Die Europaverdrossenheit der EU-BürgerInnen bewältigt man so nicht.

Aber welche BürgerInnen sollen sich beteiligen? Klar ist, dass, abgesehen von Online-Beteiligungsverfahren, eine Auswahl für die Bürgerkonferenzen getroffen werden muss. Hier hoffe ich, dass gerade junge Menschen eine gewichtige Stimme erhalten. Schließlich geht es um ihre Zukunft. Man könnte über eine Jugendquote in einem ansonsten zufälligen Auswahlverfahren nachdenken, die die Altersverteilung der Teilnehmenden im Voraus festlegt.

Nicht nur die Europabegeisterten erreichen

Für die ansonsten zufällige Auswahl der Teilnehmenden spricht noch ein weiterer Aspekt: Bei den meisten Bürgerdialogen ist es so, dass die ohnehin Politikinteressierten und Europabegeisterten zusammenkommen. Dadurch sind immer die gleichen Personenkreise unter den Teilnehmenden vertreten und große Bevölkerungsteile nicht repräsentiert.

Die Konferenz zur Zukunft Europas sollte demgegenüber sicherstellen, dass alle Bevölkerungsgruppen, EU-BefürworterInnen und auch EU-SkeptikerInnen, an den Gesprächen partizipieren. Dafür muss ein niedrigschwelliges Beteiligungskonzept her, das die Frage beantwortet, wie eine alle Gesellschaftsschichten umfassende Partizipation gelingen kann. Natürlich kann niemand zur Teilnahme gezwungen werden. Der glaubhafte Versuch, alle Gruppen zu erreichen, muss jedoch erkennbar sein.

Breite Partizipation erschwert spätere Blockaden

Der Effekt könnte groß sein: Wenn Entscheidungen gemeinsam mit BürgerInnen aus allen Ländern und Schichten diskutiert und erarbeitet werden, bietet sich im Nachhinein weniger Angriffsfläche für national orientierte Regierungschefs. Schließlich hat eine europäische Mehrheit aus BürgerInnen und PolitikerInnen sich gemeinsam für eine Entscheidung ausgesprochen. Solche Mehrheiten unterstützen auch das Europäische Parlament in seiner Rolle als einziges direkt gewähltes Organ der EU. Vetostimmen im Europäischen Rat oder das schlichte und gesetzeswidrige Ignorieren von Beschlüssen sind dann schwieriger zu rechtfertigen. Das Argument, eine Entscheidung im Interesse der BürgerInnen zu blockieren oder nicht umzusetzen, verlöre an Glaubwürdigkeit.

Neben der aktiven Bürgerbeteiligung bietet die Konferenz auch die Möglichkeit, bei allen BürgerInnen einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen – im Positiven wie im Negativen. Sichtbare Präsenz in den Medien oder gut durchdachte Online-Beteiligungsverfahren bieten eine Chance, um Bürgernähe und Interesse seitens der Politik zu demonstrieren. Denn dass eine solche Konferenz ins Leben gerufen wird, ist toll – und das sollen alle BürgerInnen auch sehen können.

Beteiligung von WissenschaftlerInnen

Eine Gruppe darf unter keinen Umständen vergessen werden, wenn es um zukunftsweisende Entscheidungen geht: WissenschaftlerInnen. Sie sind GarantInnen für überparteiliche Sachbezogenheit. Dafür müssen sie über die gesamte Konferenz beteiligt sein und ihre Expertise in die Diskussionen einbringen können. Dies kann während der Bürgerkonferenzen passieren, aber auch im Folgeprozess, wenn es unter EntscheidungsträgerInnen um die Umsetzung von Ideen geht.

Die letzten Wochen und Monate haben gezeigt, wie wichtig und richtig es ist, auf sie zu hören. Gerade beim Thema Umweltschutz ist eine andere Priorisierung unumgänglich. Der klare Unterscheid zwischen Anti-Corona-Maßnahmen und Klimapolitik ist mit Sicherheit der zeitliche Rahmen von Interessen, Kosten und Nutzen. Während die ergriffenen Maßnahmen in der Coronakrise kurzfristigen Nutzen gebracht haben, sind Klimaschutzmaßnahmen auf lange Sicht nützlich, kosten aber heute schon viel Geld.

Das heißt aber nicht, dass wir mit dem Klimaschutz warten können. Dann wird es zu spät sein. Die Priorisierung von kurzfristigen Interessen gegenüber langfristigen mag menschlich oder wahltaktisch verständlich sein, ist aber aus der Sicht von zukünftigen Generationen verantwortungslos. Die enormen Folgekosten von verschobenen Maßnahmen müssen in die Debatten um den Klimaschutz mit einbezogen werden. In dieser Diskussion ist die Stimme der Wissenschaft von grundlegender Wichtigkeit.

Sachthemen

Ob Umweltschutz, Digitalisierung oder Steuer- und Finanzpolitik, nach einer Krise bieten sich viele neue Möglichkeiten der Gestaltung an. Diese Möglichkeiten müssen wir nutzen, und eine Zukunftskonferenz schafft den Rahmen für die notwendigen Diskussionen. Die französische Regierung macht es vor: Air France soll im Gegenzug für staatliche Hilfen Inlandsflüge, die mit der Bahn in unter 2,5 Stunden erreicht werden können, streichen. Auf europäischer Ebene könnten vergleichbare Vorgaben entwickelt werden.

Sollte es zu einem großen Wiederaufbauprogramm im Sinne des Vorschlages von Angela Merkel und Emmanuel Macron kommen, muss klar sein, wer Hilfen und Fördergelder zu welchen Bedingungen bekommen kann und soll. Der Prozess zu diesen Entscheidungen muss durch Transparenz geprägt sein. Die langfristigen Prioritäten sollten gemeinsam bestimmt werden. Auch hier gilt: Sollten sich gesellschaftliche Mehrheiten im Zuge der Bürgerkonferenzen herausbilden, so ist es schwieriger für die politischen EntscheidungsträgerInnen, Forderungen zu ignorieren oder zu blockieren. Daher ist neben dem Ergebnis vor allem auch die ergebnisrelevante Beteiligung der EuropäerInnen so wichtig.

Europäische Institutionen

Vertragsänderungen, die das langfristige Zusammenwirken der Institutionen bestimmen, dürfen in der Diskussion neben aktuell dringenden Sachthemen nicht vernachlässigt werden. Ohne Veränderungen, denen einige Regierungschefs kritisch gegenüberstehen, ist die Handlungsfähigkeit der EU weiterhin eingeschränkt.

Deshalb muss mit den BürgerInnen auch über das Institutionengefüge diskutiert werden: In welche Richtung möchten wir die EU entwickeln? Ist ein föderales, supranationales System gefordert, in dem gerade das Europäische Parlament eine wichtige Rolle einnimmt, oder doch ein intergouvernementales System mit einer starken Position der nationalen Regierungen? Wie lassen sich gescheiterte Demokratisierungsversuche, Stichwort Spitzenkandidatenprinzip, verhindern? Ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten eine Lösung? Was ist notwendig, um zukünftige Aufgaben erfüllen zu können?

Diese Fragen sollten mit den BürgerInnen diskutiert werden und nicht lediglich unter den Regierungschefs, die viel zu oft nur im nationalen Interesse handeln. Ein konkretes Beispiel, das ich für mit am dringlichsten halte, ist das Ersetzen des Einstimmigkeitsprinzips im Europäischen Rat durch eine alternative Beschlussform wie der qualifizierten Mehrheit. Ich hoffe, dass es ein wichtiger Bestandteil der Konferenz wird. Aus einer europäischen Perspektive ist das Vetorecht vor allem hinderlich, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen.

Wir sollten uns diese Chance nicht entgehen lassen

Die Konferenz zur Zukunft der EU kann einen entscheidenden Beitrag zur politischen und institutionellen Weiterentwicklung der EU leisten. Richtig angegangen, kann Bürgerbeteiligung die Legitimität richtungsweisender Entscheidungen erhöhen.

Wir sollten uns diese erneute Chance zur Veränderung nicht entgehen lassen. Der Zeitpunkt ist angesichts der globalen Lage, des Klimawandels und des Coronavirus zwingend und gut.


Gustav Spät studiert seit September 2019 im Master Economics an der KU Leuven. Er hat an dem europaweiten Jugendbeteiligungsprojekt #EngagEU teilgenommen und ist Co-Autor des Manifests „Junge Ideen für die Zukunft Europas“.

Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: Kinder mit Europaflaggen und Luftballons: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Gustav Spät: privat [alle Rechte vorbehalten].

19 Juni 2020

Gesamteuropäische Listen – aber wie? Einige Ausgestaltungsoptionen und ihre Vor- und Nachteile

Europawahl-Stimmzettel
Transnationale Listen zur Europawahl sind wünschenswert. Aber wie genau sollen sie ausgestaltet sein?
Die öffentliche Debatte über gesamteuropäische (oder, im Brüsseler Jargon: „transnationale“) Europawahllisten ist im letzten Jahr etwas leiser geworden. Nach der Ablehnung durch eine Mehrheit im Europäischen Parlament Anfang 2018 verschwand der Vorschlag zunächst von der unmittelbaren Agenda. Allerdings dürfte damit noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Die meisten europafreundlichen Parteien im Parlament – Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – sind recht klar für gesamteuropäische Listen, und auch die bisher skeptische Europäische Volkspartei könnte ihre Position anpassen, um damit das Spitzenkandidaten-Verfahren zu retten.

Zugleich wächst auch im Rat die Zustimmung für transnationale Listen: Nachdem der Vorschlag zunächst vor allem von Frankreich, Italien und Spanien getragen wurde, erklärte im Juni 2018 auch die deutsche Bundesregierung ihre Unterstützung dafür. Und auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) sprach sich in ihren politischen Leitlinien 2019 für eine solche Wahlrechtsreform aus. Die Chancen stehen also gut, dass gesamteuropäische Listen noch vor der nächsten Europawahl wieder auf die politische Agenda zurückkehren – sei es im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas oder, falls diese sich weiter verzögert, in einem davon getrennten Verfahren.

Wie genau sähen gesamteuropäische Listen aus?

Warum ich selbst sehr für europäische Listen bin, habe ich an anderer Stelle mehrfach beschrieben, etwa hier, hier und hier (S. 15). Europäische Listen würden die strukturelle Loyalität der Abgeordneten zur europäischen (statt zur nationalen) Partei erhöhen und den europäischen Parteien mehr öffentliche Sichtbarkeit geben. Beides würde transnationale Meinungsbildungsprozesse befördern und helfen, nationale Gegensätze zu überwinden. Durch die bessere Vertrautheit der Wähler mit den zentralen Figuren im Europäischen Parlament würde zudem die Europapolitik bürgernäher. Und schließlich könnten gesamteuropäische Listen helfen, die derzeit noch fehlende transnationale Wahlgleichheit herzustellen.

Wie aber würden europäische Listen genau aussehen? Das Grundprinzip ist klar: Die europäischen Parteien stellen vor der Europawahl gesamteuropäische Listen auf, die dann in der ganzen EU wählbar sind – wobei jede Wählerstimme, egal aus welchem Land, gleich viel zählt. Im Einzelnen aber gibt es für diesen Ansatz eine Vielzahl von Ausgestaltungsmöglichkeiten und Modellen. Dieser Artikel soll eine Übersicht über die wichtigsten Optionen und ihre wesentlichen Vor- und Nachteile geben.

1. Wie viele Sitze?

Die erste, offensichtlichste Frage ist natürlich, wie viele Sitze über die gesamteuropäischen Listen verteilt werden sollten. Die Vorschläge hierzu variieren massiv:
Die Zahl der gesamteuropäischen Sitze beeinflusst die Stärke ihrer Wirkung. Ist die Zahl sehr niedrig, wäre der Effekt nur eher symbolischer Art: Bei 25 Sitzen etwa würden selbst die größten europäischen Parteien wie die konservative EVP und die sozialdemokratische SPE nur vier bis fünf Mandate über die gesamteuropäische Liste erhalten. Für die grüne EGP oder die linke EL wären es sogar nur ein bis zwei. Die Listenaufstellung wäre für diese Parteien damit kaum mehr als eine formalisierte Version der jetzigen Nominierung europäischer Spitzenkandidaten.

Auch mit langen Listen ist die Zahl sicherer Sitze überschaubar

Umgekehrt würde eine sehr große Zahl an gesamteuropäischen Sitzen zu langen Listen führen – mit vielen Kandidaten, die auch bei einem unterdurchschnittlichen Wahlergebnis ihrer Partei noch ins Parlament einziehen, zugleich aber so weit von der Spitze entfernt sind, dass sie nur wenig Medienaufmerksamkeit erhalten. Solche sicheren Sitze schwächen die politische Verantwortung, sodass man lange Wahllisten üblicherweise zu vermeiden sucht.

Ganz ohne Beispiel sind sie aber nicht: Auch das nationale deutsche Sitzkontingent bei der Europawahl umfasst derzeit immerhin 96 Sitze, die großteils über Bundeslisten vergeben werden. Hinzu kommt, dass das europäische Parteiensystem recht fragmentiert ist: Bei 100 gesamteuropäischen Sitzen entfielen deshalb selbst auf die EVP als größte Partei nur rund 20 Mandate. Mehrere nationale Parteiendelegationen im Europäischen Parlament haben mehr sichere Sitze zu vergeben.

2. Vorzugsstimmen: Offene oder geschlossene Listen?

Eine zweite Grundsatzfrage ist die Entscheidung zwischen offenen und geschlossenen (bzw. „starren“) Listen. In vielen Ländern besteht die Möglichkeit, nicht nur die Liste einer Partei anzukreuzen, sondern auch einzelnen Kandidaten sogenannte Vorzugsstimmen zu geben. Ins Parlament ziehen dann nicht unbedingt die Kandidaten an der Spitze der Liste ein, sondern diejenigen mit den meisten Vorzugsstimmen. Durch ein solches System offener Listen verschiebt sich politischer Einfluss von den Parteien auf die Wähler, die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste verliert an Bedeutung und das Problem der sicheren Sitze wird reduziert. Unter anderem in Italien hat das nationale Verfassungsgericht deshalb Vorzugsstimmen bei nationalen Wahlen für verbindlich erklärt, sobald Wahllisten mehr als nur eine Handvoll Kandidaten umfassen.

Speziell für gesamteuropäische Listen gibt es allerdings auch gute Gründe, die gegen offene Listen sprechen. Zunächst einmal ist das Kernproblem hier ja gerade nicht der übermäßige Einfluss der europäischen Parteien auf die Kandidatenauswahl. Ganz im Gegenteil sollen gesamteuropäische Listen dazu dienen, die Relevanz der europäischen Parteien zu stärken, indem die nationalen Mitgliedsparteien dazu gezwungen werden, sich in transnationalen Verhandlungen auf eine gemeinsame Liste zu einigen. Durch Vorzugsstimmen würden diese Listenverhandlungen an Bedeutung verlieren: Nationale Parteien müssten nur noch versuchen, ihre eigenen Kandidaten irgendwo auf der Liste unterzubringen, und sich dann auf einen Vorzugsstimmenwahlkampf konzentrieren.

Vorzugsstimmen wären für kleinere Staaten zum Nachteil

Hinzu kommt die nationale Fragmentierung der europäischen Öffentlichkeit und damit das Risiko, dass Wähler Vorzugsstimmen vor allem an Kandidaten aus ihrem eigenen Land geben, einfach weil diese ihnen vertrauter sind. Kandidaten aus kleineren Mitgliedstaaten hätten dadurch einen strukturellen Nachteil. Einige von ihnen würden das womöglich zu kompensieren versuchen, indem sie außer in ihrem eigenen Herkunftsland auch in großen Ländern einen Vorzugsstimmenwahlkampf betreiben – ähnlich wie schon die Spitzenkandidaten bei den letzten Europawahlen neben den europaweiten englischsprachigen Fernsehdebatten noch spezielle TV-Duelle eigens für den deutschsprachiger Raum durchführten.

Eine solche Entwicklung könnte einerseits dem Wahlkampf in den großen Mitgliedstaaten einen stärker transnationalen Charakter geben. Für die kleineren Mitgliedstaaten, die europäischen Listen ohnehin oft skeptischer gegenüberstehen, wäre es aber ein zusätzlicher Nachteil. Alles in allem scheinen mir deshalb die Nachteile von Vorzugsstimmen für gesamteuropäische Listen (noch) zu überwiegen. Eine Öffnung der Listen sollte allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, wenn die europäische Öffentlichkeit noch stärker ausgeprägt ist und es für Wähler nichts Ungewöhnliches mehr ist, ihr Kreuzchen auch an Kandidaten mit anderer nationaler Herkunft zu geben.

3. Vorschlagsrecht: Wer darf Listen aufstellen?

Eine weiter Entscheidung bei der Ausgestaltung gesamteuropäischer Listen betrifft das Vorschlagsrecht. Die Grundidee besteht natürlich darin, dass die europäischen Parteien die Listen vorschlagen sollen. Allerdings sind die Kriterien für eine Anerkennung als europäische Partei derzeit sehr restriktiv. Die Europäische Piratenpartei, das Tierschutzbündnis APEU oder Volt Europa, allesamt eher kleine, aber recht stabile transnationale Organisationen mit klarer politischer Ausrichtung, genießen derzeit nicht diesen Status.

Um die Europawahl nicht schon im Voraus unnötig restriktiv zu gestalten, spricht vieles dafür, das Aufstellungsrecht breiter zu fassen. Kriterien könnten etwa eine bestimmte Anzahl an Unterstützungsunterschriften oder an Kandidaten aus unterschiedlichen Ländern sein; im Duff-Bericht von 2012 wurden „Kandidaten aus mindestens einem Drittel der Staaten“ gefordert.

Das Recht zur Listenaufstellung so breit zu fassen, erhöht zwar das Risiko reiner Zweckallianzen ohne gemeinsame weltanschauliche Basis, bei denen dann jede nationale Mitgliedspartei jeweils im eigenen Land Wahlkampf betreibt. Immerhin müssten sich aber auch solche Zweckallianzen immer noch über eine gemeinsame Liste einigen – und im Wahlkampf gegenüber der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit verantworten, warum sie sich ausgerechnet diese Partner entschieden haben.

4. Wahlmechanismus: Eine oder zwei Stimmen?

Ausgestaltbar ist auch der Wahlmechanismus selbst. Nach dem Modell des Duff-Berichts hätte jeder Wähler künftig zwei Stimmen: Mit einer würde er wie bisher eine nationale Liste wählen, mit der zweiten eine gesamteuropäische Liste. Beide Stimmen würden unabhängig voneinander vergeben. Insbesondere in Deutschland ist das ein vertrautes Modell: Auch bei der Bundestagswahl hat jeder Wähler schließlich eine Erst- und eine Zweitstimme, die nicht unbedingt an dieselbe Partei gehen müssen.

Ein Blick in andere Länder zeigt allerdings, dass das nicht das einzige mögliche Modell ist. Bei der österreichischen Nationalratswahl etwa stellt jede Partei Listen für drei unterschiedliche Ebenen auf. Dennoch hat jeder Wähler nur eine Stimme: Er muss also für Regional-, Landes- und Bundesebene jeweils dieselbe Partei wählen, ohne durch Stimmensplitting differenzieren zu können.

In Bezug auf gesamteuropäische Listen hat die Entscheidung zwischen Ein- oder Zwei-Stimmen-Modell besondere Bedeutung, da die nationalen und europäischen Parteien nicht dieselben Namen tragen. Vor diesem Hintergrund würde ein Ein-Stimmen-Modell den Zusammenhang zwischen nationaler und europäischer Ebene stärker verdeutlichen: Jeder Wähler könnte auf dem Wahlzettel sehen, dass er beispielsweise mit der CDU automatisch auch die EVP wählt, mit der FDP auch die ALDE.

Zwei-Stimmen-Modell zwingt Parteien zu Überzeugungsarbeit

Das bedeutet allerdings auch, dass Wähler weniger Anreiz haben, sich mit den „neuen“ europäischen Listen auseinanderzusetzen – und die nationalen Parteien weniger Anreiz, die europäischen Listen im Wahlkampf sichtbar zu machen. Wenn die europäische Liste einfach „mitgewählt“ wird, könnten Parteien sich weiterhin auf einen rein nationalen Wahlkampf beschränken. Bei zwei getrennte Stimmen müssten die Parteien hingegen mehr Überzeugungsarbeit leisten, um ihre Wähler dazu zu bringen, ihr Kreuz eben nicht nur bei der CDU, sondern auch bei der EVP zu setzen.

Hinzu kommt, dass die politische Linie der nationalen und der europäischen Parteien nicht immer genau übereinstimmt. So steht etwa die EVP im Durchschnitt etwas weiter rechts als die CDU, die ALDE etwas weiter links als die FDP. Besonders für gut informierte Wähler kann deshalb ein Stimmensplitting zwischen nationaler und europäischer Liste durchaus attraktiv sein. Ein Ein-Stimmen-Modell nimmt ihnen diese Möglichkeit.

Insgesamt spricht deshalb wohl etwas mehr für ein Zwei-Stimmen-Modell – jedenfalls sofern nationale und europäische Listen als getrennte Kontingente behandelt werden

5. Sitzzuteilung: separates Kontingent oder Verhältnisausgleich?

Das derzeitige Europawahlsystem unterteilt die EU in 27 nationale Wahlkreise mit jeweils eigenen, voneinander getrennten Sitzkontingenten mit fester Größe. Im Duff-Bericht war vorgesehen, zusätzlich dazu ein weiteres Sitzkontingent für die gesamteuropäischen Listen zu schaffen – ebenfalls mit fester Größe und getrennt von den übrigen, nationalen Kontingenten. Demnach würde also die Verteilung der Stimmen für die nationalen Listen über die Zusammensetzung der jeweiligen nationalen Sitzkontingente entscheiden, die Verteilung der Stimmen für die gesamteuropäischen Listen über die Zusammensetzung des gesamteuropäischen Kontingents.

Dieses Modell eines separaten Sitzkontingents wäre recht einfach umzusetzen, würde jedoch ein demokratisches Potenzial der gesamteuropäischen Listen verschenken – nämlich die Möglichkeit zu einem gesamteuropäischen Verhältnisausgleich. Um den Sinn dieses Vorschlags zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich das Problem der fehlenden transnationalen Wahlgleichheit bei der Europawahl zu vergegenwärtigen: Aufgrund der degressiven Proportionalität der nationalen Sitzkontingente entspricht der Sitzanteil der europäischen Fraktionen heute insgesamt nicht unbedingt der gesamteuropäischen Stimmverteilung.

Fraktionen, die vor allem in kleinen Mitgliedstaaten (und in Mitgliedstaaten mit geringer Wahlbeteiligung) stark sind, benötigen weniger Stimmen für dieselbe Sitzzahl als Fraktionen, die besonders in größeren Mitgliedstaaten (und Mitgliedstaaten mit hoher Wahlbeteiligung) gewählt werden. Wähler in kleinen Mitgliedstaaten haben also größeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments als Wähler in größeren Mitgliedstaaten. Diese fehlende Wahlgleichheit ist ein demokratisches Problem, das EU-Gegnern besonders in größeren Mitgliedstaaten Anlass zur öffentlichen Diskreditierung des Parlaments bietet. Nach dem Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (Rn. 284ff.) ist sie zudem ein verfassungsrechtliches Hindernis, das einer weiteren Stärkung des Parlaments entgegensteht.

Verhältnisausgleich schafft für Fraktionen europaweite Wahlgleichheit

Gesamteuropäische Listen könnten helfen, dieses Problem über einen gesamteuropäischen Verhältnisausgleich zu lösen. Statt das gesamteuropäische Sitzkontingent von den nationalen Kontingenten getrennt zu behandeln, würden nach diesem Modell jeder gesamteuropäischen Liste so viele Sitze zugeteilt, dass zuletzt die Gesamtsitzzahl jeder Fraktion (einschließlich der Sitze aus den nationalen Kontingenten) dem Verhältnis der Stimmen entspricht, die diese Fraktion europaweit über die transnationale Liste erhalten hat.

Mit diesem Modell bliebe es also bei einer degressiv-proportionalen Repräsentation der Mitgliedstaaten im Parlament, die vor allem für die Akzeptanz in den kleineren Mitgliedstaaten notwendig ist. Auf die Stärke der Fraktionen aber hätte jeder Wähler europaweit den gleichen Einfluss. Auch hierfür können die österreichischen Nationalratswahlen als Beispiel dienen, wo ebenfalls die Bundesliste für einen bundesweiten Verhältnisausgleich genutzt wird.

Voraussetzungen für ein Modell mit Verhältnisausgleich

Ein solches Modell mit Verhältnisausgleich hätte also wesentliche Vorteile. Allerdings geht es auch mit einigen Voraussetzungen einher, die bei der Ausgestaltung berücksichtigt werden müssten. Zum einen ist ein vollständiger Verhältnisausgleich nur möglich, wenn auch ein nennenswerter Anteil der Sitze über die europäische Liste vergeben wird – andernfalls ist die Gefahr zu groß, dass eine Fraktion bereits über die nationalen Sitzkontingente mehr Mandate erzielt, als ihr nach ihrem europaweiten Stimmenanteil zustehen. In Österreich etwa sind derzeit rund ein Sechstel der Nationalratsabgeordneten über die Bundesliste gewählt. Für die EU wäre vermutlich ein ähnlicher Anteil erforderlich, was auf immerhin 125 gesamteuropäische Sitze hinausliefe.

Zum anderen ist muss für den Verhältnisausgleich von vornherein feststehen, welche nationalen Parteien mit welcher europäischen Liste verrechnet werden. Es müsste also schon vor der Wahl eine eindeutig Zuordnung zwischen nationalen und europäischen Parteien möglich sein. Am einfachsten ist das – wie in Österreich – über ein Ein-Stimmen-Modell zu erreichen, bei dem die nationale und die europäische Partei schon auf dem Wahlzettel miteinander verbunden sind.

Option europaweite Sperrklausel

Will man ein Ein-Stimmen-Modell vermeiden, wäre als Alternative ein Modell denkbar, bei dem die nationalen Parteien vor der Wahl eine offizielle Zuordnungserklärung abgeben. Allerdings böte das Wahlsystem selbst den Parteien wenig Anreiz, sich auf diese Weise zu einer europäischen Partei zu bekennen – schließlich würde die europäische Liste desto mehr Sitze aus dem Verhältnisausgleich erhalten, je weniger Sitze aus nationalen Kontingenten auf sie angerechnet werden.

Es müsste deshalb ein zusätzlicher Anreiz für nationale Parteien geschaffen werden, sich schon vor der Wahl zu ihrer europäischen Partei zu bekennen. Eine Lösung hierfür könnte eine gesamteuropäische Sperrklausel sein, durch die Parteien – auch für die nationalen Sitzkontingente – nur dann berücksichtigt werden, wenn ihre europäische Partei mindestens 3 Prozent der europaweiten Stimmen erreicht. Ein solches Modell würde nationale Parteien ohne europäische Liste faktisch von der Europawahl ausschließen (und wäre deshalb nur legitim, wenn das Recht zur Aufstellung einer europäischen Liste entsprechend breit gefasst ist). Sie würde aber zugleich sicherstellen, dass jede Partei einer europäischen Liste zugeordnet ist, sodass ein Verhältnisausgleich auch mit einem Zwei-Stimmen-Modell möglich wird.

Zahlreiche Modelle mit Vor- und Nachteilen

Gesamteuropäische Listen sind also nicht gleich gesamteuropäische Listen: Es gibt zahlreiche Modelle mir jeweils eigenen Vor- und Nachteilen. Der Streit über die Frage, ob es überhaupt transnationale Listen geben sollte, hat die Debatte über deren genaue Ausgestaltung bislang weitgehend aus der Öffentlichkeit verdrängt. Für eine informierte Auseinandersetzung mit dem Thema ist aber auch diese Debatte notwendig – spätestens wenn die nächste Wahlrechtsreform auf der europäischen Agenda steht.

Bild: Tim Reckmann [CC BY 2.0], via Flickr.