„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Claudia Gamon. (Zum Anfang der Serie.)
- „Klar ist, dass die Konferenz den Rahmen bieten muss, um auch über die Entscheidungsstrukturen der Union zu sprechen.“
Man sagt, Krisen können sowohl das Beste als auch das Schlechteste in Menschen hervorbringen. Um das Beste aus der Politik hervorzubringen, ist für globalisierte Krisen die internationale Zusammenarbeit ein unabdingbares Vehikel. Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet eine Plattform, um zu zeigen wie diese Zusammenarbeit heute und morgen aussehen kann: gemeinsam mit den Bürger_innen, mutig und werteorientiert.
Die Eindämmung des Coronavirus ist eine Herkulesaufgabe. Die Pandemie stellt eine Herausforderung für unsere sozialen Systeme, unsere Wirtschaft, und somit für letztlich jeden Einzelnen von uns dar. Leider hat diese Pandemie auch gezeigt, dass in Krisenzeiten die europäische Solidarität leidet und einige Regierungen auf nationale Lösungen setzen. Insbesondere zu Beginn der Krise haben Mitgliedstaaten zuallererst auf sich selbst geachtet und damit an vielen Stellen innereuropäisches Chaos ausgelöst. Man denke an Blockaden von Lieferungen nach Italien oder an die unterschiedlichen Grenzregelungen, die zu kilometerlangen Staus geführt haben und teilweise noch immer führen. Das vorsichtige Herantasten an eine gemeinsame finanzielle Bewältigung der Konsequenzen von Corona, etwa durch einen Aufbaufonds, könnte als Beispiel dienen, wie ein gemeinsamer europäischer Weg aus der Krise eingeschlagen werden kann.
Insgesamt
hat uns das Verhalten der einzelnen Mitgliedstaaten sowie der
Institutionen der EU in der Corona-Krise jedoch schmerzlich vor Augen
geführt, dass wir noch etliche große Schritte von einer echten
europäischen Handlungsfähigkeit entfernt sind. Um diese zu setzen,
werden wir an tiefgreifenden Reformen der Europäischen Union nicht
vorbeikommen. Die Konferenz zur Zukunft Europas kann hierfür als
Startschuss dienen.
Erstes
Ziel: Vertrauen durch Bürgerbeteiligung
Das
erste Ziel der Konferenz muss sein, das europaweite Vertrauen in die
Institutionen der EU zu stärken. Um das zu erreichen, darf die
Einbindung der Bürger_innen in diesen Prozess kein leeres
Versprechen sein. Egal welche Formate schlussendlich gewählt werden,
muss sichergestellt sein, dass die Diskussion an vorderster Front
moderner Bürgerbeteiligung steht. Natürlich ist dies eine große
Herausforderung, aber Bürger_innen aus 27 Mitgliedstaaten müssen in
ausreichender Zahl und die Vielfalt unseres Kontinents
widerspiegelnd, eingeladen werden. Auf inhaltlicher Ebene muss
sicherstellt werden, dass die Ideen und Einwände auch tatsächlich
gehört werden und die Konferenz nicht zu einem Schaulaufen der
Politiker_innen mutiert.
Ein
spannendes und lehrreiches Beispiel, wie eine derartige Einbindung
der Bürger_innen stattfinden kann, hat der 2012 in Irland
einberufene Verfassungskonvent gezeigt. Durch diese Initiative kam
die Bevölkerung zusammen und setzte sich an die Hebel politischer
Entscheidungen, was zu wesentlichen Reformen innerhalb Irlands
führte. Von 2016 bis 2018 wurde in Irland erneut ein ähnliches
Format in Form von Bürgerversammlungen abgehalten. Auch diese
Zusammenkunft führte zu neuen Ideen und zwang die irische Politik,
beispielsweise im Kampf gegen den Klimawandel, konkretere Maßnahmen
zu setzen.
Die
gestiegene Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen 2019 hat gezeigt, dass
das Interesse an politischem Engagement auch jenseits der irischen
Grenze vorhanden ist. Diesem Engagement muss Gehör verschafft
werden. Das verstärkte Einbinden der Bürger_innen soll dabei nicht
nur auf die Zeit der Konferenz beschränkt sein, sondern muss ein
integraler Teil des politischen Entscheidungsprozesses in der EU
werden. Das heißt: rechtzeitige Inklusion vorher, offenes Einbinden
währenddessen, und bindende Übereinkünfte danach.
Zweites
Ziel: Entscheidungsfähigkeit der Union
Als
zweiten Schwerpunkt sehe ich die Frage der Entscheidungsfähigkeit
der Union. Von Klimaneutralität 2050 bis hin zur Digitalisierung hat
die Europäische Kommission große Pläne. Wenn es hier jedoch nicht
zu rechtlich bindenden Entscheidungen kommt, könnten sich diese
Pläne bald als leere Versprechen herausstellen. Um das zu vermeiden,
muss die Konferenz handfeste Resultate, wenn nötig auch in Form von
Vertragsänderungen hervorbringen.
Ich
werde nicht müde zu betonen, dass wir bei aller wichtigen Kritik an
der Europäischen Union nicht vergessen dürfen, was diese Union ist.
Es gibt gemeinsame europäische Institutionen, aber keine wesentliche
Entscheidung wird ohne die direkte Einbindung der Mitgliedstaaten
getroffen. Diese sind in Form des Rats der Europäischen Union als
gesetzgebende Institution stets involviert. Eine funktionierende und
handlungsfähige Union ist daher oft nur so stark wie ihr trägstes
Mitglied.
Die
Rolle des Rates überdenken
Zu
Beginn der Corona-Krise haben einige Mitgliedstaaten versucht, das
Problem innerhalb ihrer nationalstaatlichen Grenzen zu lösen, was
letztlich auch negative Konsequenzen nach sich zog. Hätte man schon
im Jänner 2020 an einer effektiven europäischen Lösung gearbeitet,
wären uns vielleicht so manche innereuropäischen Schwierigkeiten
erspart geblieben. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die
Verfügbarkeit von Medizinprodukten. Es hätte hier eine
gesamteuropäische Strategie gebraucht, welche die Versorgungsketten
und Zulieferungen von Masken und Schutzausrüstung gewährleistet.
Diese
nationale Engstirnigkeit kommt auch immer wieder im Rat der
Europäischen Union zum Tragen. Der Rat tritt oft als blockierende
Instanz in Erscheinung. Dass politische Stagnation in diesem Ausmaß
möglich ist, liegt vor allem auch daran, dass viele wesentliche
Entscheidungen noch immer einstimmig getroffen werden müssen –
etwa in Fragen der Außen- oder der Steuerpolitik. Wir müssen daher
dringend mehr Reformwillen kultivieren. Das Einstimmigkeitsprinzip im
Rat mit einer qualifizierten Mehrheit zu ersetzen, wäre ein
wesentlicher Schritt in diese Richtung. Dies würde im Rückschluss
zu einer Verbesserung europäischer Handlungsfähigkeit führen –
eine notwendige Verbesserung, in Anbetracht der großen
Herausforderungen wie dem European Green Deal oder der
Digitalisierung.
Ich
würde einen Schritt weiter gehen und meine, dass die derzeitige
Rolle des Rates in der Legislative an sich in Frage gestellt werden
muss. Langfristig ist meine Vision, dass die Gesetzgebung der Union
in einem Zwei-Kammern-Parlament geschieht. Ich möchte hier
ausdrücklich nicht den Ergebnissen der Konferenz vorgreifen. Klar
ist jedoch, dass die Konferenz den Rahmen bieten muss, um auch über
die Entscheidungsstrukturen der Union zu sprechen. Es ist Zeit, hier
mehr Mut zu beweisen.
Drittes
Ziel: Stärkung der Grundwerte
Als dritten Schwerpunkt müssen wir die Konferenz nutzen, um jene
europäischen Grundwerte zu stärken, die unsere Union erst möglich
gemacht haben. Diese geraten derzeit von vielen bisher unerwarteten
Seiten unter Druck. Die Zunahme autoritärer Regime in der Welt, wie
wir sie beispielsweise in Russland unter Wladimir Putin, in China
unter Xi Jinping oder in der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan
sehen, ist eine besorgniserregende Entwicklung. Gleichzeitig zeichnet
sich mancherorts auch innerhalb der Union ein Rückgang
demokratischer Werte ab. Beispiele hierfür finden wir in Ländern
wie Ungarn und Polen. Vor allem in Hinblick auf Ungarn, wo die
Corona-Krise zur Aushebelung des Parlamentarismus genutzt wurde, muss
die europäische Wertegemeinschaft ein starkes Zeichen setzen.
Die
Konferenz muss daher auch an das eigentliche Ziel der Europäischen
Union erinnern: ein friedliches und prosperierendes Miteinander, das
sich an Freiheit, Gleichheit und Solidarität orientiert.
Entwicklungen zurück zu Nationalismus und Populismus gefährden das
Europäische Projekt als solches. Wir müssen daher im Rahmen der
Konferenz Wege finden, wie wir diese Werte innerhalb der Union
stärken können. Im Fall antidemokratischer Entwicklungen innerhalb
der einzelnen Mitgliedstaaten könnten vorübergehende Reduktionen
von EU-Förderungen als effiziente Sanktion dienen. Die gemeinsamen
europäischen Werte sind die Quintessenz unserer Union. Wenn wir
diese zurücklassen, bleibt vom europäischen Geist und der
Zusammenarbeit nicht viel übrig.
Eine
Konferenz für die Zukunft
Wenn
uns die Probleme und Herausforderungen wie der Klimawandel, die
Corona-Krise oder die notwendige Veränderung durch die
Digitalisierung eines lehren, dann, dass wir sie nur gemeinsam
meistern können. Nationalismus und Populismus bieten keine Lösungen
für diese Probleme. In diesem Sinne ist mehr Handlungsfähigkeit für
die Europäische Union ein zentraler Schritt, damit Europa aus diesen
Krisen gestärkt hervortritt.
Effektives und nachhaltiges Handeln im Namen der EU kann jedoch nur gelingen,
wenn wir mit den Bürger_innen arbeiten, mit mutigen Lösungen in die
Zukunft gehen und uns an unseren gemeinsamen europäischen Werten
orientieren. Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet Raum, diese
Aspekte nicht nur laut anzudenken, sondern in Taten umzuwandeln.
Claudia Gamon (Neos/ALDE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion Renew Europe. |
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
- Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
- Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
- Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
- Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
- Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
- Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
- Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
- Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
- Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
- Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
- Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller
Bilder: Blick auf das Europäische Parlament: © European Union 2013 – Source: EP [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt Claudia Gamon: © NEOS.
Diese drei Ziele mögen richtig und erstrebenswert sein, bieten aber wenig Konkretes. Es fehlt eine ehrliche Fehleranalyse, die jedem Reformkonzept vorangehen muss.
AntwortenLöschenAußerdem benötigen wir für nachhaltige und mehrheitsfähige Reformen, die einer ausführlichen Debatte bedürfen, genügend Zeit. Wir brauchen daher Sofortmaßnahmen zur Konsolidierung unserer Gemeinschaft, die in erster Linie eine Rechtsgemeinschaft ist. Und hier liegen auch die Hauptprobleme, die sofort angegangen werden müssten: Es geht um die spürbare Verbesserung der europäischen Gesetzgebung einschließlich fundamentaler verfassungsrechtlicher Klarstellungen (vgl. EZB-Urteil). Diese wären allerdings auch ohne Vertragsänderungen, allein aufgrund geänderter Praxis der Kommission und des EuGH, möglich.
Mehr hier: https://www.xing.com/communities/posts/gutes-recht-fuer-europa-durchdacht-einfach-demokratisch-1013988499