28 August 2020

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Mark Speich. (Zum Anfang der Serie.)

Committee of the Regions building
„Wir brauchen europäische Lösungen mit regionaler Verantwortung. Kommunale und regionale Politikerinnen und Politiker und insbesondere der Europäische Ausschuss der Regionen sollten die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen.“

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance; eine Chance, grundlegend über die Zukunft der Europäischen Union nachzudenken, über ihre politischen Ziele und Prozesse, ihre institutionelle Struktur und darüber, was wir von Europa erwarten und was wir bereit sind, zu ändern oder sogar aufzugeben. Es ist außerordentlich wichtig für die Europäische Union, die Möglichkeiten eines solchen Partizipationsprozesses am Ende auch tatsächlich zu nutzen. Eine Beteiligungssimulation mit wenig greifbaren Ergebnissen und keinerlei Auswirkungen darf es nicht geben. Eine reine Kommunikationsübung ist den Herausforderungen, vor denen Europa steht, nicht angemessen. Die Schlussfolgerungen der Konferenz müssen vielmehr konkrete Konsequenzen für die zukünftige Politik der Europäischen Union haben.

Das erfordert Mut, Kreativität und Kompromissbereitschaft. Nicht nur die europäischen Institutionen, auch die Politikerinnen und Politiker aller Ebenen sowie die Bürgerinnen und Bürger der Union sind aufgerufen, konkrete Vorstellungen über die Europäische Union der Zukunft zu entwickeln. In den letzten Monaten hat sich die Debatte um die Konferenz zur Zukunft Europas weiterentwickelt. Auch Überlegungen zu möglichen Vertragsänderungen stehen im Raum. Dies ist eine positive Entwicklung, die zeigt, dass eine ernsthafte und tiefgreifende Diskussion im Gange ist.

Mut zur Veränderung – auch bei den europäischen Verträgen

Gerade in der Konferenz zur Zukunft Europas sollten Vertragsänderungen kein Tabu darstellen – auch wenn die politische Durchsetzung zweifellos große Hürden aufweist. Es wäre jedoch fatal, aus Furcht vor einem Scheitern von Vertragsänderungen in Referenden oder nationalen Parlamenten schon jetzt die Agenda der Konferenz zu beschneiden. Die Europäische Union muss reformfähig bleiben.

Dies gilt insbesondere im Hinblick auf ein Phänomen, das Verfassungsrechtler als „Überkonstitutionalisierung“ bezeichnen. Was bedeutet das?

Auch wenn eine Bezeichnung der europäischen Verträge als Verfassungsverträge umstritten ist, da sie nicht von den Institutionen der Europäischen Union, sondern nur durch einen einstimmigen Beschluss aller Mitgliedstaaten der Union verändert werden können, kann die Systemgestaltung der Europäischen Union und ihr Vertragswerk als „quasi-konstitutionell“ beschrieben werden. Mit den Vertragsveränderungen beziehungsweise -vertiefungen im Laufe der Entwicklung der Europäischen Union wurden die quasi-konstitutionellen Grundlagen mehrfach erheblich verändert und ergänzt. Sie haben einen erheblichen Umfang erhalten.

Eine Verfassung ist die Grundordnung einer politischen Einheit, die die Struktur und das Zusammenleben einer Gemeinschaft regelt und die Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger verankert. Sie beschränkt sich in der Regel auf einen Katalog von Grundregeln. Die europäischen Verträge gehen weit über das hinaus, was in den einzelnen Mitgliedstaaten an verfassungsrechtlichen Bestimmungen existiert. Auf nationaler Ebene wäre ein großer Teil der Vertragsbestimmungen der Europäischen Union gewöhnliches Recht und hätte keinen Verfassungsstatus. Die Europäischen Verträge erheben einfache Regelungen in einen quasi-konstitutionellen Status.

Überkonstitutionalisierung abbauen

Namhafte Verfassungsrechtler sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Überkonstitutionalisierung“. Diese Überkonstitutionalisierung manifestiert sich darin, dass die europäischen Verträge eine Regelungstiefe und -breite haben, die weit über das hinausgeht, was in einer Verfassung niedergeschrieben werden sollte.

Dieter Grimm schlägt eine „Politisierung der Entscheidungsprozesse“ vor, die dadurch erreicht werden kann, dass die Verträge auf ihren verfassungsrechtlichen Kern beschränkt werden (Grimm, The Constitution of European Democracy, OUP 2017, S. 18). So sollen die zur Quasi-Verfassung gewordenen Verträge auch inhaltlich wie eine Verfassung ausgestaltet werden. Hierbei soll es insbesondere um eine Umprogrammierung der Rechtsprechung gehen. Dies könnte das demokratische Defizit und die Legitimationslücke in der Europäischen Union verringern, die sich auch in der Überkonstitutionalisierung begründen.

„Verfassungen entziehen bestimmte Fragen der politischen Entscheidung“ (ebd., S. 9). Insofern könnte die Europäische Union neu belebt werden, indem bestimmte Regelungen, die derzeit mit quasi-Verfassungsstatus in den europäischen Verträgen verankert sind, Teil des europäischen Gesetzgebungsprozesses und damit der politischen Debatte werden. Es wäre falsch, anzunehmen, dass diese Argumente sich letztlich gegen die europäische Integration wenden. Das Gegenteil ist der Fall, denn hier geht es darum, nach neuen Wegen zu suchen, um die Kernprinzipien der Union zu stärken.

Aktive Subsidiarität: europäische Lösungen mit regionaler Verantwortung

Ein Kernprinzip der Europäischen Union, das bei der Konferenz zur Zukunft Europas gestärkt werden sollte, ist die Subsidiarität und der in der Subsidiarität inhärente föderale Gedanke. In der derzeitigen politischen Struktur der Europäischen Union wird den gewählten Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften kein angemessenes Mitspracherecht am Gesetzgebungsprozess zugesprochen. Es können aber zielführende Entscheidungen nur dann getroffen und Verständnis für politische Entscheidungen auf den unterstaatlichen Ebenen nur dann erzeugt werden, wenn das Wissen und die Erfahrung der kommunalen und regionalen Ebenen bei der Ausarbeitung der Rechtsvorschriften der Europäischen Union wirkungsvoll eingebracht werden können.

Wir brauchen deshalb europäische Lösungen mit regionaler Verantwortung. Kommunale und regionale Politikerinnen und Politiker müssen in Zukunft stärker als bisher am europäischen Rechtsetzungsverfahren beteiligt werden. Sie selbst und insbesondere der Europäische Ausschuss der Regionen (AdR) als Versammlung der legitimierten Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen und regionalen Ebenen sollten die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen. Sie sollten sich für eine am Prinzip einer „aktiven Subsidiarität“ ausgerichtete Arbeitsweise einsetzen, die zu einem gemeinsamen Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sowie einer stärkeren Beteiligung und mehr Mitsprache der nationalen, regionalen und lokalen Ebene bei der Politikgestaltung und Rechtsetzung der EU führt.

Die Rolle des Ausschusses der Regionen neu definieren

Um eine Stärkung des Mitspracherechts der kommunalen und regionalen Politikerinnen und Politiker zu erreichen, muss auch der AdR zu einer wirksameren Vertretung der subnationalen Ebene ausgebaut werden.

Ein möglicher Weg, um die politische Schlagkraft des AdR zu erhöhen, ist eine Fokussierung seiner Ressourcen und Aktivitäten auf selbstgewählte Kernfelder. Der Leitgedanke hierbei ist: Weniger, aber wirkungsvolleres Handeln. In einer internen Analyse könnte der AdR das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis je Themenfeld oder politischer Aktivität aufschlüsseln, um ihre Wirkung zu analysieren und Kernkompetenzen zu definieren. Es ist nicht erforderlich, dass der AdR zu allen Angelegenheiten der europäischen Politik Stellung nimmt. Vielmehr sollte er seine Aktivitäten auf Themenfelder konzentrieren, die zu den Kernkompetenzen der Regionen und Kommunen gehören.

In diesen Feldern können die kommunalen und regionalen Politikerinnen und Politiker sich zu Recht auf ihre Expertise berufen und im Gegenzug ein entsprechendes Gewicht ihrer Beteiligung im europäischen Gesetzgebungsverfahren verlangen. So könnte in bestimmten Materien die im Vertrag über die Arbeitsweise der EU verankerte Anhörungspflicht um konkretere Berücksichtigungspflichten der anderen Organe oder gar um Mitbestimmungsrechte des AdR ergänzt werden.

Die Chance zur Veränderung ergreifen

Wir müssen sehr grundlegend über die künftige Ordnung der Europäischen Union nachdenken. Das bedeutet auch, nicht im Vorfeld der Konferenz Wege zu versperren, weil auf diesen größere Hindernisse zu erwarten sind als auf anderen. Einen solchen Partizipationsprozess anzustoßen und in dessen Verlauf mögliche Ergebnisse zu beschneiden, würde die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union massiv beschädigen.

Es gibt neben der Europäischen Union kein anderes Modell eines solchen Verbundes von Staaten und Gesellschaften und einer solchen Struktur ihres Zusammenwirkens. Die Konferenz zur Zukunft Europas stellt die Chance dar, die Europäische Union weiter zu reformieren und sie damit zu stärken.



Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: Ausschuss der Regionen: CristinaBruxelles [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Porträt Dr. Mark Speich: Land NRW / R. Sondermann [Copyright].

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