23 Dezember 2013

Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)

Im nächsten Europäischen Parlament werden die roten Balken wohl etwas länger, die blauen etwas kürzer werden. Und auch sonst ist einiges in Bewegung.
Vor einigen Tagen habe ich an dieser Stelle beschrieben, wie sich mithilfe nationaler Umfragen aus den einzelnen EU-Mitgliedstaaten eine Prognose für die Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl erstellen lässt. Das Ergebnis dieser Berechnung lässt sich in Zahlen schnell zusammenfassen: Die christdemokratische EVP-Fraktion würde von 275 auf 217 Mandate zurückfallen, die sozialdemokratische S&D von 197 auf 208 steigen. Die liberale ALDE sinkt von 85 auf 73, die grün-regionalistische G/EFA von 58 auf 38. Die linke GUE/NGL wächst von 35 auf 57 Sitze. Die nationalkonservative ECR fällt von 56 auf 40, die rechtspopulistisch-europaskeptische EFD von 32 auf 30 Sitze. Zudem gäbe es 39 (statt bisher 20) rechtspopulistische und rechtsextreme sowie 11 nationalkonservative Abgeordnete, deren Parteien noch keiner bestehenden Fraktion angehören. Die Zahl der sonstigen Fraktionslosen würde von 11 auf 38 steigen.

Aber welche konkreten Veränderungen verbergen sich hinter diesen Zahlen (die sich hier noch einmal im Einzelnen nachlesen lassen)? Was bedeuten sie für die Machtverhältnisse im nächsten Europäischen Parlament? Welche Sieger und Verlierer zeichnen sich ab, wie werden die künftigen Mehrheiten aussehen? Hierzu ein paar Gedanken.

Kopf-an-Kopf-Rennen der großen Parteien

Das Erste, was an der Prognose ins Auge springt, ist der knappe Abstand zwischen EVP und S&D: Auch wenn sie derzeit noch leicht zurückliegen, haben die Sozialdemokraten zum ersten Mal seit 1999 die Chance, die Europäische Volkspartei als stärkste Fraktion im Europäischen Parlament abzulösen. Dabei muss die EVP, die in den letzten Jahren mit Abstand die einflussreichste Partei in Europa war, in fast allen Mitgliedstaaten zurückstecken: In den zehn größten Ländern können nur die deutsche CDU/CSU und die griechische ND ihr derzeitiges Niveau halten. In Frankreich, Italien, Polen und Rumänien drohen der EVP deutliche Verluste. Die Sozialdemokraten hingegen können sich in vielen Ländern leicht verbessern und profitieren vor allem von der veränderten Stimmung in Großbritannien, wo sie 2009 ein sehr schwaches Ergebnis einfuhren.

Besonders spannend ist diese Konkurrenz zwischen EVP und S&D auch, weil die europäischen Parteien für die Europawahl 2014 erstmals Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen: Für die Sozialdemokraten wird Martin Schulz (SPD/SPE) ins Rennen gehen, bei den Christdemokraten gelten Michel Barnier (UMP/EVP), Viviane Reding (CSV/EVP) und Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) als mögliche Interessenten. Und bereits vor einigen Monaten haben die Parlamentsfraktionen in einer gemeinsamen Entschließung ihre Erwartung geäußert, dass
der Kandidat für das Amt des Präsidenten der Kommission, der von der europäischen Partei unterstützt wurde, die die meisten Sitze im Parlament errang, als Erster den Versuch unternehmen darf, sich die Unterstützung der benötigten absoluten Mehrheit im Parlament zu sichern.
„Als Erster den Versuch zu unternehmen“ bedeutet nun freilich noch nicht, dass der Kandidat der stärksten Fraktion das Amt des Kommissionspräsidenten tatsächlich schon sicher hat. Dennoch geht es bei dem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen EVP und S&D nicht nur um einen rein symbolischen Sieg, sondern auch darum, welcher der Bewerber seinem Anspruch auf den wichtigsten Posten der EU den meisten Nachdruck verleihen kann.

Gewinne der Linken in Südeuropa

Dass die Christdemokraten so herbe Verluste erleiden, dürfte vor allem an der Eurokrise liegen: Die Rekordarbeitslosigkeit in der Währungsunion setzt natürlich vor allem jener Partei zu, die in den vergangenen Jahren die europäischen Institutionen dominierte. Allerdings profitiert von dieser Entwicklung keineswegs überall die S&D – in Spanien und Griechenland, wo sich die wirtschaftlichen Verhältnisse besonders drastisch verschlechtert haben, werden die Sozialdemokraten sogar Sitze verlieren. Mit großen Zugewinnen können hier hingegen die Vertreter der Europäischen Linken rechnen, die sich zum Sprachrohr gegen die Austeritätsprogramme gemacht haben. Nach der Prognose würde sich die griechische Syriza von einem auf sieben, die spanische IU sogar von einem auf neun Mandate verbessern. Und auch sonst legt die GUE/NGL-Fraktion in mehreren Ländern zu und könnte von der sechst- zur viertstärksten Gruppierung im Parlament aufsteigen.

Verluste erleiden hingegen Liberale und Grüne, die jeweils unter der Schwäche einzelner wichtiger Mitgliedsparteien leiden. Bei der ALDE ist dies vor allem die deutsche FDP, die von zwölf auf vier Mandate absacken würde, sowie die italienische IdV, die bei der letzten Wahl noch auf sechs Sitze kam und nun wohl ganz aus dem Parlament ausscheiden wird. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, kann die ALDE hingegen sogar zulegen und dürfte daher ihre Stellung als drittstärkste Fraktion behalten.

Bei den Grünen wiederum ist es vor allem die französische EELV, die 2009 überraschend gut abschnitt und nun von vierzehn auf sechs Mandate zurückfallen könnte. Ungemach droht der Fraktion aber auch von einem anderen ihrer Mitglieder, nämlich der N-VA aus Belgien. Diese flämisch-nationalistische Partei gehört der Europäischen Freien Allianz (EFA) an, einem Bündnis von Regionalparteien, die mit den Grünen eine Fraktionsgemeinschaft bilden. Bereits seit einiger Zeit mehren sich jedoch die inhaltlichen Konflikte zwischen der N-VA und dem Rest der Fraktion. Nach der Europawahl könnte die N-VA deshalb geneigt sein, sich neue Bündnispartner zu suchen – umso mehr, als sie mit starken Zugewinnen rechnen darf. Die G/EFA, die schon heute die größte Geschlossenheit unter allen Fraktionen aufweist, könnte daher zuletzt noch homogener werden als bisher, zugleich aber auch deutlich kleiner und deutscher: Stammten bisher 14 ihrer 58 Abgeordneten aus Deutschland, wären es künftig 10 von 38.

Radikalisierung des rechten Spektrums

Größere Veränderungen sind ferner im rechten Spektrum des Parlaments zu erwarten. Zum einen dürfte hier eine deutliche Radikalisierung stattfinden. Während die nationalkonservative ECR und die europaskeptisch-populistische EFD mit Verlusten rechnen müssen, wird sich die Zahl der bislang fraktionslosen bzw. nicht im Parlament vertretenen rechten und rechtsextremen Parteien nahezu verdoppeln. Zum anderen könnten sowohl die ECR als auch die EFD in ihrer jetzigen Zusammensetzung an der Mindestanforderung scheitern, nach der zur Bildung einer Fraktion Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten notwendig sind.

Der ECR dürfte dies allerdings nur kleinere Schwierigkeiten machen: Mit der deutschen AfD, der griechischen ANEL oder der tschechischen Úsvit dürften gleich mehrere neue Parteien ins Parlament einziehen, die ihr programmatisch nahestehen und sich an der Fraktion beteiligen könnten. Ähnliches gilt für die italienische FdI, die bislang noch der EVP-Fraktion angehört, und vielleicht für die schon erwähnte N-VA. Die ECR dürfte deshalb auch künftig in ähnlicher Form wie heute weiterbestehen. Verändern könnten sich allerdings die Kräfteverhältnisse innerhalb der Fraktion: Entstammten bisher 25 ihrer 56 Abgeordneten aus der britischen Conservative Party, so wären es künftig nur noch 16 von 40. Stärkste Einzelpartei in der Fraktion würde die polnische PiS, die sich von 7 auf 19 Mandate verbessern würde.

Das Ende der EFD?

Schlechtere Aussichten hat hingegen die EFD, die bereits erste Auflösungserscheinungen zeigt: Jedenfalls steht die italienische LN, eines ihrer wichtigsten Mitglieder, seit einigen Wochen in Gesprächen mit dem französischen FN, der österreichischen FPÖ, der niederländischen PVV und der belgischen VB. All diese Parteien waren bislang fraktionslos, wollen sich nun jedoch zu einer neuen Rechtsgruppierung zusammenschließen. Ob dieses Projekt langfristig Bestand hat, ist offen: Schon 2007 waren FN, FPÖ und VB an der kurzlebigen ITS-Fraktion beteiligt, die sich wenige Monate nach ihrer Gründung wieder auflöste, da sich ihre Mitglieder – Nationalisten aus sieben verschiedenen Ländern – über diverse Grenz- und Migrationsfragen zerstritten hatten. Und auch jetzt zeichnen sich etwa beim Umgang mit Israel oder mit dem Thema Homosexualität neue Konfliktfelder ab. Dennoch erscheint es derzeit wahrscheinlich, dass es nach der Wahl zur Gründung einer neuen Rechtsfraktion kommen wird. Diese könnte dann noch weitere bisherige EFD-Mitglieder (zum Beispiel die slowakische SNS oder die finnischen PerusS) aufnehmen und zuletzt etwa 35 bis 40 Abgeordnete umfassen.

Der große Verlierer einer solchen Entwicklung wäre die britische UKIP. Diese ist bislang die stärkste Einzelpartei der EFD und könnte bei der Europawahl noch einmal dazugewinnen. Allerdings hat Parteichef Nigel Farage mehrfach betont, dass er an einer Zusammenarbeit mit der neuen Rechtsfraktion nicht interessiert ist. Zugleich dürfte ihm auch der Wechsel in die gemäßigtere ECR versperrt sein, solange dort die Conservative Party, der britische Hauptkonkurrent der UKIP, ein führendes Mitglied ist. Wenn sich die EFD auflöst, könnte die UKIP deshalb am Ende ganz ohne Fraktion dastehen – ebenso übrigens wie die ungarische Jobbik oder die griechische XA, deren offen neonazistische Positionen auch für FN, FPÖ und PVV zu radikal sein dürften.

Die Fraktionslosen

Doch nicht alle fraktionslosen Abgeordneten im nächsten Europäischen Parlament werden nationalkonservativ oder rechtsextrem sein. Auch ohne sie bleiben in der Prognose noch immer 38 Sitze, die sich keiner der bestehenden Gruppierungen zuordnen lassen. In einigen Fällen liegt dies schlicht daran, dass es sich dabei um neu gegründete Parteien handelt, die bislang noch nicht vor der Entscheidung standen, wie sie sich auf europäischer Ebene positionieren wollen. Beispiele hierfür sind die liberal-konservative OL aus der Slowakei, die linksliberalen DK und E2014 aus Ungarn oder die gemäßigt linke PS aus Slowenien. Sie alle dürften nach der Wahl wohl einer der bestehenden Fraktionen beitreten, um ihren Einfluss im Parlament zu steigern. Und auch die spanische UPyD ist bislang nur deshalb nicht Mitglied der ALDE, weil dort auch ihre innenpolitischen Gegner aus Katalonien und dem Baskenland vertreten sind. Sie plant jedoch, sich nach der Wahl einer Fraktion anzuschließen, auch wenn noch nicht klar ist, welche das sein wird.

Die größte Einzelpartei in dieser Gruppe aber ist das italienische M5S, das mit 16 Mandaten rechnen kann. Von dem Komiker Beppe Grillo gegründet, ist es bis heute in erster Linie eine fundamentaloppositionelle Protestbewegung und wird wohl auch auf europäischer Ebene ohne Verbündete bleiben (auch wenn es vereinzelte Spekulationen gibt, dass es sich der GUE/NGL oder der G/EFA anschließen könnte). Ähnliches gilt für die polnische TR und die tschechische ANO. Nach der Europawahl 2014 könnte die Zahl der Fraktionslosen im Europäischen Parlament deshalb höher sein als je zuvor – und damit die Mehrheitsbildung weiter erschweren.

Ein politischer Linksruck

Wie also könnten sie aussehen, die Mehrheiten, die das nächste Europäische Parlament beherrschen? Bekanntlich gibt es hier traditionell keine festen Koalitionen, sondern je nach Abstimmung wechselnde Bündnisse zwischen den Fraktionen. Bereits seit Jahrzehnten fällt dabei ein Großteil der Entscheidungen nach einem Kompromiss der beiden größten Gruppierungen EVP und S&D. Daneben gibt es aber immer wieder auch Abstimmungen, bei denen sich entweder ein „Mitte-Rechts-Bündnis“ aus EVP, ALDE und ECR oder ein „Mitte-Links-Bündnis“ aus S&D, ALDE, G/EFA und GUE/NGL zu einer Mehrheit zusammenfindet – gegebenenfalls unterstützt durch einzelne fraktionslose Abgeordnete oder Abweichler aus den anderen Fraktionen. Auch wenn diese Bündnisvarianten jeweils nur vereinzelt vorkommen, spielen sie doch eine wichtige Rolle, da sie den Verhandlungsspielraum von EVP und S&D abstecken: Je glaubwürdiger eine der großen Parteien der anderen drohen kann, dass sie notfalls auch eine alternative Mehrheit mobilisieren könnte, desto besser wird sie bei einem Kompromiss ihre eigenen Positionen durchsetzen.

Geht man von dieser Überlegung aus, so ist für das Europäische Parlament in den nächsten Jahren ein politischer Linksruck zu erwarten. Denn gegenüber der jetzigen Zusammensetzung des Parlaments dürfte das Mitte-Links-Bündnis leicht zulegen: Bislang kamen Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke gemeinsam nur auf 372 der insgesamt 766 Sitze (48,6%) und waren deshalb für eine Mehrheit stets auf die Unterstützung weiterer Abgeordneter aus anderen Fraktionen angewiesen. Nach der Prognose hingegen würden sie nun 376 von 751 Sitzen (50,1%) erreichen.

Das Mitte-Rechts-Bündnis hingegen würde von bislang 416 (54,3%) auf 330 Sitze (43,9%) zurückfallen – was selbst dann nicht für eine eigene Mehrheit genügt, wenn man noch die 30 bisherigen EFD-Mitglieder sowie die 11 neuen nationalkonservativen Abgeordneten hinzuzählt. Eine Mehrheit rechts der Mitte wäre daher nur noch durch eine Zusammenarbeit mit der neuen Rechtsfraktion möglich, worauf sich EVP und ALDE aber vermutlich nicht einlassen werden. Insgesamt dürfte sich der Spielraum der Christdemokraten deshalb im neuen Parlament deutlich verkleinern. Und auch wenn die meisten Entscheidungen sich weiterhin auf eine Mehrheit aus EVP und S&D stützen werden, könnten die Sozialdemokraten in diesem Bündnis künftig das größere Gewicht haben.

Aber noch ist natürlich nichts entschieden: Bevor die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament wirklich feststehen, erwartet uns in den nächsten 150 Tagen ein Europawahlkampf, der spannender zu werden verspricht als jeder seiner Vorgänger. Auch in diesem Blog wird darüber noch einiges zu lesen sein. Zuvor jedoch geht es für eine Weile in die Winterpause – allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein glückliches Jahr 2014!

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Nach der Europawahl

Bild: Eigene Grafik.

18 Dezember 2013

Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)

Hinweis: Dieser Artikel behandelt eine Prognose auf der Grundlage der Umfragewerte von Mitte Dezember 2013. Regelmäßig aktualisierte Prognosen zur Europawahl finden sich inzwischen hier.

Was wäre eine Wahl ohne bunte Grafiken? Der innere Kreis zeigt das Europäische Parlament heute, der äußere die Prognose für 2014.
Dass die Europawahlen im kommenden Mai spannend werden, steht außer Frage. Inhaltlich sowieso: Die Krise der letzten Jahre hat deutlich gemacht, wie viel in der Europapolitik auf dem Spiel steht. Außerdem personell: Erstmals werden die europäischen Parteien mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten. Dabei haben sich die Sozialdemokraten bereits auf Martin Schulz (SPD/SPE) festgelegt, während bei den Christdemokraten in den letzten Tagen verschiedentlich der Name von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) laut wurde. Und schließlich ist da auch noch die Bedrohung der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien in ganz Europa, von deren guten Erfolgsaussichten in den letzten Monaten immer wieder zu lesen war.

Aber wer wird sie denn nun gewinnen, die Europawahlen? Wie sind die Chancen zwischen Schulz und seinem christdemokratischen Widersacher verteilt? Werden die Rechtspopulisten wirklich das nächste Europäische Parlament dominieren? Und was ist mit den kleineren Fraktionen – mit Liberalen, Linken, Grünen und Nationalkonservativen? Wenn es darum geht, wie genau die Kräfteverhältnisse im nächsten Europäischen Parlament sein werden, dann bleiben die meisten Medienberichte ausgesprochen vage. Ein halbes Jahr vor der Europawahl ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, wie viele Bürger ihre Stimme welcher europäischen Partei geben würden. Der Grund dafür ist einfach: Obwohl das Europäische Parlament 2014 bereits zum achten Mal direkt gewählt wird, gibt es bis heute keine europaweiten Umfragen, auf deren Grundlage sich eine Prognose für das Wahlergebnis abgeben ließe.

Wahlumfragen gehören zur Demokratie

In der nationalen Politik sind Wahlumfragen heute kaum noch wegzudenken. Die „Sonntagsfrage“ ist längst zu einer öffentlichen Instanz (mit eigenem Wikipedia-Eintrag) geworden; es gibt Fernsehsendungen und Internetseiten, die sich mit nichts anderem befassen als mit den kleinen und großen Ausschlägen in der Beliebtheit der verschiedenen Parteien. Und indem Demoskopen den Puls der öffentlichen Meinung messen, strukturieren sie auch die politische Debatte: Zum einen vermitteln sie Politikern ein Bild von der Stimmung in der Bevölkerung; zum anderen verdeutlichen sie auch den Bürgern selbst, wie die Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft liegen. Und schließlich lenken sie gerade in den Monaten vor einer Wahl das öffentliche Interesse auf die politischen Parteien – also auf jene Institutionen, die in einer parlamentarischen Demokratie der zentrale Transmissionsriemen zwischen Bürgern und Politik sein sollen.

Auf europäischer Ebene hingegen gibt es mit Unternehmen wie TNS, Ipsos oder YouGov zwar eine ganze Reihe von international tätigen Meinungsforschungsinstituten, doch politische Umfragen führen sie bis heute nur auf einzelstaatlicher Ebene durch. Auch das Eurobarometer, das seit 1973 im Auftrag der Europäischen Kommission die politischen Einstellungen der europäischen Bürger analysiert, beinhaltet keine Frage zur Wahlabsicht.

Europawahlprognosen durch Aggregation nationaler Umfragen

Wenn man mehr über die voraussichtliche Sitzverteilung im nächsten Europäischen Parlament erfahren will, muss man also zu einer anderen Lösung greifen. Tatsächlich existiert eine naheliegende zweitbeste Option: Wenn es schon keine europaweiten Umfragen gibt, können wir wenigstens nationale Umfragen aus allen Mitgliedstaaten zusammentragen und deren Ergebnisse aggregieren. Schließlich besteht die Europawahl bis heute im Wesentlichen aus der Summe von 28 nationalen Einzelwahlen. Wenn man für jedes einzelne Land eine Prognose berechnet, kann man in der Summe also auch eine Aussage über das Europäische Parlament als Ganzes treffen.

Doch auch solche Prognosen auf Basis nationaler Umfragen sind bis jetzt erstaunlich wenig verbreitet. Mir selbst sind jedenfalls nur zwei Versuche bekannt, auf diese Weise Voraussagen für die Europawahl 2014 zu treffen: nämlich eine interne Studie des Europäischen Parlaments, deren Ergebnisse Anfang November bekannt wurden, sowie ein kürzlich erschienenes Papier des Think Tanks Notre Europe. Allerdings ist die Analyse des Europäischen Parlaments nicht öffentlich zugänglich, sodass sich ihre Methodik nicht im Einzelnen nachvollziehen lässt. Notre Europe wiederum beschränkte sich darauf, Umfragen aus den acht größten Mitgliedstaaten zu sammeln und diese dann auf den Rest der EU hochzurechnen. Eine transparent erstellte Prognose mit sämtlichen EU-Mitgliedstaaten gibt es bis heute noch nicht.

Wir basteln eine Prognose

Um diese Lücke zu schließen, habe ich in der letzten Zeit selbst damit begonnen, online zugängliche Wahlumfragen aus möglichst vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammenzutragen. (An dieser Stelle Dank an die Mitglieder der Jungen Europäischen Föderalisten, die mir bei der Suche geholfen haben!) Als ein Hauptproblem erwiesen sich dabei recht schnell die unterschiedlichen nationalen Demoskopie-Kulturen: Während beispielsweise in Deutschland oder Großbritannien fast täglich die Parteipräferenzen abgefragt werden, konzentriert sich die Meinungsforschung in Frankreich oft nur auf die Popularität einzelner Politiker. Dafür wird in Frankreich oder Österreich wenigstens ab und zu auch spezifisch nach der Europawahl gefragt – die deutschen Forschungsinstitute hingegen beziehen ihre Sonntagsfrage stets auf den Deutschen Bundestag.

Will man diese unterschiedlichen Umfragen gesamteuropäisch aggregieren, so muss man also zunächst bestimmte Auswahlkriterien treffen. Für die Prognose hier habe ich deshalb jeweils die jüngste Europawahlumfrage berücksichtigt, die in einem Land durchgeführt wurde. Wo es wie in Deutschland keine spezifischen Europawahlumfragen gab, habe ich stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage zum nationalen Parlament verwendet; wo mehr als eine aktuelle Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt der letzten zwei Wochen genommen. Für einige kleinere Länder schließlich ließen sich überhaupt keine Umfragen finden, sodass ich dort auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlamentswahl zurückgreifen musste. (Näheres dazu im Kleingedruckten am Ende dieses Artikels.)

Welche Partei in welcher Fraktion?

Die unterschiedliche Datengrundlage in den einzelnen Ländern ist allerdings nicht das einzige Hindernis, auf das man beim Basteln einer Europawahl-Prognose stößt. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist das noch immer nicht ganz stabile europäische Parteiensystem. Zwar gehören die meisten wichtigen nationalen Parteien inzwischen einer Europapartei an, sodass sie sich auch recht leicht einer Fraktion im Europäischen Parlament zuordnen lassen: der christdemokratischen EVP, der sozialdemokratischen S&D, der liberalen ALDE, der nationalkonservativen ECR, der grün-regionalistischen G/EFA, der linken GUE/NGL oder der rechtspopulistisch-europaskeptischen EFD.

Ein Problem entsteht jedoch bei nationalen Parteien, die bei der Europawahl 2014 zum ersten Mal ins Europäische Parlament einziehen könnten und sich bis jetzt noch nicht auf die Zusammenarbeit mit der einen oder anderen Fraktion festgelegt haben. Hierzu zählen zum Beispiel Protestparteien wie das italienische M5S, die polnische Twój Ruch oder die tschechische ANO, aber auch die griechische Dimar (eine Abspaltung der sozialdemokratischen Pasok) oder die rechtskonservativ-nationalliberale deutsche AfD.

Und als sei das nicht genug, ist nach der Europawahl 2014 auch noch eine Neugruppierung der politischen Rechten im Europäischen Parlament zu erwarten: So könnten ECR und EFD in ihrer jetzigen Zusammensetzung zu klein werden, um die notwendigen Voraussetzungen zur Bildung einer Fraktion (mindestens 25 Abgeordnete aus sieben verschiedenen Mitgliedstaaten) zu erfüllen. Um weiterzubestehen, müsste es ihnen deshalb gelingen, weitere Abgeordnete aus bislang fraktionslosen Parteien zu gewinnen. Zugleich könnte es jedoch auch zu der Gründung einer neuen, noch weiter rechts stehenden Fraktion kommen, die derzeit unter anderem von der österreichischen FPÖ, der niederländischen PVV und der französischen FN angestrebt wird.

Annahmen, die dieser Prognose zugrunde liegen

Für eine Voraussage über die Sitzverteilung im nächsten Europäischen Parlament ist es also notwendig, gewisse Annahmen über die Zuordnung der nationalen Parteien zu den verschiedenen Fraktionen treffen. In der Prognose hier gehe ich jeweils davon aus, dass die Parteien, die in der derzeitigen Wahlperiode bereits Mitglied einer Fraktion sind, dieser auch nach 2014 angehören werden. Außerdem wurden den Fraktionen auch neue Parteien zugeordnet, die wie Dimar eine deutliche programmatische Nähe zeigen.

Die fraktionslosen Parteien schließlich wurden nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung differenziert: Erstens eine Gruppe von nationalkonservativen Parteien, die teilweise eine gewisse programmatische Nähe zur ECR zeigen und möglicherweise zu deren Fortbestand beitragen könnten. Zweitens die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, aus denen sich die neue Rechtsfraktion rekrutieren könnte. Und schließlich eine Gruppe von „Sonstigen“, die vor allem die neu gegründeten Protestbewegungen umfasst, aber auch einige andere Parteien, die sich in keine der existierenden Fraktionen einsortieren lassen. Dass diese Zuordnungen jeweils auch auf subjektiven Einschätzungen beruhen, ist selbstverständlich. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Das Ergebnis

Und hier ist nun also das Ergebnis all der Rechnerei: Nach den aktuellen Umfragen und Ergebnissen aller EU-Mitgliedstaaten würde die Europäische Volkspartei auch im nächsten Europäischen Parlament erneut die stärkste Fraktion stellen – allerdings mit herben Einbußen gegenüber der derzeitigen Zusammensetzung (217 statt 275 Sitze). Nahezu gleichauf folgen die Sozialdemokraten, die sich leicht verbessern würden (208 statt 194). Die größten Zugewinne hätte die Linksfraktion, die von 35 auf 57 Sitze wachsen würde. Liberalen (73 statt 85) und Grünen (38 statt 58) drohen hingegen deutliche Verluste.

Auch die nationalkonservative ECR würde klar verlieren (40 statt 56), könnte jedoch 11 neue Mitglieder von Parteien gewinnen, die bislang nicht im Parlament vertreten waren. Ungewiss ist hingegen der Fortbestand der EFD (30 statt 32), besonders falls sie noch Mitglieder an eine neue Rechtsfraktion verlieren sollte. Deren Potenzial wiederum beläuft sich auf 39 (statt 20) Angehörige rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien, die bislang noch keiner Fraktion angehören. Die Zahl der „sonstigen“ Fraktionslosen schließlich würde von 11 auf 38 steigen – davon fast die Hälfte aus dem italienischen M5S.

Und was bedeutet dies nun für das Kräftegleichgewicht im neuen Europäischen Parlament? Werden die Zugewinne nationalistischer Parteien zu dem befürchteten Rechtsrutsch führen? Rückt das Parlament mit den Erfolgen von Sozialdemokraten und Linken weiter nach links? Oder verfestigt sich die informelle „große Koalition“ zwischen EVP und S&D, die auch in den vergangenen Wahlperioden dominiert hat? Dazu demnächst mehr im zweiten Teil dieses Artikels.

Tabellarische Übersicht


EVP S&D ALDE ECR G/EFA GUE/
NGL
EFD fʼlos 
nat.kons.
fʼlos
rechts
fʼlos
sonst.
bisher 275 194 85 56 58 35 32 - 20 11
Progn. 217 208 73 40 38 57 30 11 39 38
DE42 CDU/CSU26 SPD4 FDP
10 Grüne10 Linke
4 AfD

FR17 UMP15 PS9 MoDem
6 EELV9 FG

18 FN
GB
27 Lab9 LibDem16 Cons4 Greens
17 UKIP


IT 16 FI
5 NCD
4 UdC
2 FdI
22 PD
4 SEL




4 LN

16 M5S
ES18 PP17 PSOE2 CEU
3 EdP-V9 IU


5 UPyD
PL13 PO
4 PSL
10 SLD
19 PiS




3 TR
RO7 PDL
2 UDMR
14 PSD7 PNL



1 PPDD1 PRM
NL 3 CDA3 PvdA4 VVD
4 D66
1 CU1 GL3 SP1 SGP
4 PVV1 PvdD
EL6 ND1 Pasok
1 Dimar



7 Syriza
1 KKE

2 ANEL3 XA
BE2 CD&V
1 CDH
1 CSP
2 sp.a
3 PS
2 OpenVLD
3 MR

1 Groen
1 Ecolo
4 N-VA



1 VB
PT6 PSD
2 CDS
8 PS


3 CDU
2 BE




CZ3 TOP09
2 KDU-CSL
5 CSSD
2 ODS
3 KSCM
2 Úsvit
4 ANO
HU11 Fidesz4 MSzP





3 Jobbik2 E2014
1 DK
SE 5 Mod
1 KD
7 S1 FP
1 C

2 MP1 V

2 SD
AT5 ÖVP5 SPÖ1 Neos2 Grüne


5 FPÖ
BG7 GERB6 BSP2 DPS




2 Ataka
DK
3 S3 V
1 RV
1 LA

1 SF2 EL2 DF


FI 3 Kok2 SDP3 Kesk
1 SFP

1 Vihr1 Vas2 PeruS


SK1 KDH
1 SDKU
1 SMK
1 M-H
6 SMER1 SaS


1 SNS

1 OL
IE 4 FG1 Lab3 FF

3 SF



HR4 HDZ
1 HSS
4 SDP1 HNS-LD

1 HL-SR



LT 2 TS-LKD2 LSDP3 DP
1 LRLS
1 LLRA

1 LDP

1 DK
LV 2 V2 SC
1 TB1 ZZS

2 RP

SI 2 SDS
1 SLS
1 SD






2 PS
1 DeSUS
EE1 IRL1 SDE2 RE
2 KE







CY2 DISY1 DIKO
1 EDEK



2 AKEL



LU 3 CSV1 LSAP1 DP
1 Gréng




MT3 PN3 PL








Datengrundlage: Für folgende Länder wurde bei der Sitzberechnung die jeweils jüngste verfügbare Europawahl-Umfrage herangezogen: Frankreich (9.10.), Großbritannien (13.10.), Spanien (20.11.), Rumänien (5.10.), Österreich (8.11.). Aktuelle Umfragen für das nationale Parlament liegen den Werten folgender Länder zugrunde: Deutschland, Italien, Polen, Niederlande, Griechenland, Schweden, Ungarn, Dänemark, Irland, Kroatien. Bei folgenden Ländern war die jüngste verfügbare Umfrage für das nationale Parlament bereits mehr als zwei Wochen alt: Belgien (wallonische Parteien: 6.9., flämische Parteien: 11.10.), Portugal (9.11.), Tschechien (26.10.), Finnland (November). Bei folgenden Ländern schließlich wurden die Ergebnisse der letzten nationalen Wahl herangezogen: Bulgarien (12.5.2013), Slowakei (10.3.2012), Litauen (28.10.2012), Lettland (17.9.2011), Slowenien (4.12.2011), Estland (6.3.2011), Zypern (22.5.2011), Luxemburg (20.10.2013), Malta (9.3.2013). Für den Vertreter der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens wurde auf die letzte regionale Wahl (2009) zurückgegriffen.

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Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
Nach der Europawahl

Bild: Eigene Grafik.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Artikels war die italienische Partei SEL als der GUE-NGL nahestehend einsortiert worden. Tatsächlich hat die Partei allerdings bereits im April 2013 ihr Interesse an einer Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Europas und damit der S&D-Fraktion bekundet. Zudem war in der früheren Version des Artikels nicht berücksichtigt, dass die Sitze für Belgien nach Sprachgemeinschaften quotiert sind (12 für Flandern, 8 für Wallonien, 1 für die Deutschsprachige Gemeinschaft). Deshalb waren CD&V (EVP) und VB (fraktionslos) je ein Sitz zu viel, CSP (EVP) und MR (ALDE) ein Sitz zu wenig zugerechnet worden.

09 Dezember 2013

Freizügigkeit, Armutsmigration und Sozialtourismus: Wenn Bürgerrechte und Wohlstandsängste aufeinandertreffen

David Cameron (Cons./AECR) ist kein Freund einer allzu freien Freizügigkeit. Jedenfalls wenn es um Europa geht und ein Wahlkampf bevorsteht.
Die Überschrift des Gastbeitrags, den der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) am 26. November in der Financial Times veröffentlichte, hätte kaum aussagekräftiger sein können: Free movement within Europe needs to be less free – Die Freizügigkeit in Europa muss weniger frei werden. Anlass des Artikels war das baldige Ende einer Übergangsregelung aus den Beitrittsverträgen mit Rumänien und Bulgarien. Obwohl diese beiden Länder schon 2007 Mitglied der Europäischen Union wurden, hatten die übrigen Mitgliedstaaten für eine Frist von sieben Jahren die Möglichkeit, die Zuwanderung von dort einseitig einzuschränken. Ab 1. Januar 2014 entfällt diese Option. Auch Rumänen und Bulgaren werden dann in den vollen Genuss ihrer Rechte nach Art. 21 AEU-Vertrag kommen, der es jedem Unionsbürger erlaubt, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.

Deutsch-britische Angst vor „Sozialtourismus“

Für David Cameron ist dieses Freizügigkeitsrecht für Rumänen und Bulgaren besorgniserregend, und er ist damit weder der Erste noch der Einzige. So befürchtet nach einer Umfrage von letztem Februar eine große Mehrheit der Briten, dass die Einwanderung von Menschen aus diesen Ländern „negative Effekte“ haben würde. Und fast die Hälfte der Befragten sprach sich dafür aus, die Freizügigkeit von Rumänen und Bulgaren auch künftig einzuschränken, selbst wenn das bedeutete, europäisches Recht zu brechen. Bereits im August zeichnete sich deshalb ab, dass die britische Regierung das Thema in den Monaten vor der Europawahl 2014 auf die Tagesordnung bringen würde.

Im Mittelpunkt der Debatte steht dabei die Angst vor „Sozialtourismus“: Zum einen handelt es sich bei Rumänien und Bulgarien um die beiden ärmsten Mitgliedstaaten – das Pro-Kopf-Einkommen liegt in beiden Ländern etwa bei der Hälfte des EU-Durchschnitts. Zum anderen zählen sie (mit einem Gini-Koeffizienten von jeweils über 33) auch zu den Staaten, in denen das Einkommen besonders ungleich verteilt ist. Besonders Sinti und Roma leiden häufig an wirtschaftlicher Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Steht also zu befürchten, dass der Europäischen Union eine Welle von Binnenmigranten bevorsteht, die in ihren Herkunftsländern keine Zukunftschancen sehen und deshalb in die großzügigeren Wohlfahrtssysteme der wohlhabenden nord- und westeuropäischen Staaten flüchten?

Unterstützung erhielt Cameron jedenfalls vor allem aus Deutschland: Bereits im Februar wies der Deutsche Städtetag auf die Gefahr einer steigenden „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ hin, im Sommer warnte die CDU/CSU (EVP) in ihrem Bundestagswahlprogramm vor einer „Zuwanderung, die darauf gerichtet ist, die europäische Freizügigkeit zu missbrauchen und die sozialen Sicherungssysteme unseres Landes auszunutzen“. Und während der Städtetagspräsident Ulrich Maly (SPD/SPE) sich jüngst etwas zurückhaltender äußerte, verschärften die CDU/CSU-Innenpolitiker ihre Linie in den letzten Tagen eher noch.

Die Argumente der Europäischen Kommission

In der Europäischen Kommission stößt die deutsch-britische Angst vor Sozialmissbrauch indessen auf wenig Verständnis. Schon in einer Stellungnahme von Februar erklärte sie die Befürchtungen der Freizügigkeitskritiker kurzerhand für „Mythen“, und nach Camerons Artikel in der Financial Times legten Sozialkommissar László Andor (MSZP/SPE) und Justizkommissarin Viviane Reding (CSV/EVP) zuletzt noch einmal in scharfen Worten nach.

Die Argumente, auf die sich die Kommission dabei stützt, sind zweierlei: Zum einen zeigen wissenschaftliche Studien, dass innereuropäische Migranten öfter berufstätig sind und seltener Sozialleistungen empfangen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wer in ein anderes Land zieht, der tut dies in aller Regel, um dort eine Arbeit aufzunehmen (oder um Familienangehörige zu begleiten, die dort eine Arbeit aufnehmen) – nicht, um sich in ein ausländisches Wohlfahrtssystem einzuschleichen. Selbst eine Untersuchung, die von der britischen Regierung selbst in Auftrag gegeben wurden, sieht keine Anzeichen für den „Sozialtourismus“, den Cameron befürchtet.

Die Grenzen der europäischen Freizügigkeit

Zum anderen argumentiert die Kommission, dass Art. 21 AEUV das Freizügigkeitsrecht nicht absolut garantiert, sondern eben nur „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“. Tatsächlich muss nach der einschlägigen Richtlinie ein Unionsbürger, der sich länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten will, entweder erwerbstätig sein oder anderweitig über „ausreichende Existenzmittel“ für sich und seine Angehörigen verfügen, „so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“. Erst nach mindestens einjähriger Beschäftigung entsteht ein langfristiges Aufenthaltsrecht auch für Arbeitssuchende, und erst nach fünf Jahren haben Migranten schließlich ohne jede Vorbedingung ein Recht zum Daueraufenthalt in der neuen Heimat. (Für eine detailliertere Übersicht der Regelungen siehe hier.)

Wenn also die nationalen Sozialsysteme in den Zielländern der Migranten ein Problem haben, so kann dies aus Sicht der Europäischen Kommission nicht an der ohnehin eher restriktiven europäischen Gesetzgebung liegen. Allenfalls könnte es daran liegen, dass nationale Gerichte in ihren Urteilen über die EU-rechtlichen Mindeststandards hinausgehen – oder dass die lokalen Behörden damit überfordert sind, das komplexe Regelwerk zu durchschauen und Missbrauchsfälle zu erkennen. Ein Fünf-Punkte-Aktionsplan, den Viviane Reding vor einigen Wochen präsentierte, drehte sich deshalb fast ausschließlich darum, die Kommunalverwaltungen besser aufzuklären, ohne im Kern etwas am rechtlichen Status quo zu verändern.

Deutsche und britische Gegenvorschläge

In Berlin und London, aber auch in Wien und Den Haag stieß dieser Aktionsplan allerdings auf wenig Gegenliebe. Auf einem Ratstreffen am vergangenen Donnerstag kritisierten der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) und seine britische Amtskollegin Theresa May (Cons./AECR) die Vorschläge der Kommission als ungenügend und präsentierten ihre eigenen Ideen. Wenigstens im Falle der Bundesregierung blieben diese allerdings eher unkonkret: So drohte Friedrich damit, dass die Mitgliedstaaten „notfalls außerhalb der EU-Strukturen eine multilaterale Verständigung“ herbeiführen würden. Wie diese aussehen könnte, blieb allerdings unklar – da es sich bei der Freizügigkeit um eine vertraglich garantierte Grundfreiheit der einzelnen Unionsbürger handelt, dürften die nationalen Regierungen kaum eine Möglichkeit haben, sie auf einem anderen Weg als dem europarechtlich vorgesehenen einzuschränken.

Konkreter wurde hingegen Theresa May, die sich offen für eine Änderung des Europarechts aussprach. Zum einen, so ihr Vorschlag, solle bei künftigen Erweiterungen die Freizügigkeit so lange eingeschränkt werden, bis das neue Mitgliedsland ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht habe. Zum anderen sollten nationale Regierungen schon jetzt die Möglichkeit erhalten, länderspezifische Quoten einzuführen, falls das Ausmaß der Einwanderung „bestimmte Schwellenwerte“ überschreite.

Die Kommission verhält sich zu passiv

Was ist nun von diesen Vorschlägen zu halten? Mir selbst scheint, dass sich die Kommission in der Frage zu passiv verhält. Zwar ist es ein berechtigter Punkt, dass der viel befürchtete „Sozialtourismus“ in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Doch der Fokus auf dieses Thema geht ohnehin am Kern des Problems vorbei. Liest man etwa die Erklärung des Deutschen Städtetags von Februar etwas aufmerksamer, so spielt der Missbrauch des Wohlfahrtssystems dort durchaus keine zentrale Rolle. Was die Kommunen beklagen, sind vielmehr soziale Probleme, die entstehen, wenn Migranten bedürftig sind, aber trotzdem keine staatliche Unterstützung beantragen, weil sie bereits wissen, dass sie dazu nicht berechtigt sind: von der schlechten Gesundheitsversorgung über überfüllte Wohnungen bis zu Bettelei und Kleinkriminalität.

Diese sozialen Probleme tauchen in den Statistiken der Kommission lediglich als Dunkelziffer auf, da Menschen ohne Krankenversicherung nach der Freizügigkeitsrichtlinie ja sowieso kein Aufenthaltsrecht besitzen. Aber kann man es wirklich allein den Mitgliedstaaten und Kommunen überlassen, damit umzugehen? Die offenen Grenzen in Europa sind ein gemeinsames Interesse der EU und eine Konsequenz der europäischen Politik. Auch die ungewollten sozialen Nebenfolgen müssen deshalb proaktiv auf europäischer Ebene behandelt werden.

Freizügigkeit ist ein Bürgerrecht

Aber auch der britische Ansatz geht klar in die falsche Richtung. Wie Viviane Reding zu Recht betont hat, ist die europäische Freizügigkeit eine der zentralen Grundfreiheiten, die die Europäische Union ihren Bürgern garantiert. Der EU-Vertrag regelt eben nicht nur die Beziehungen zwischen seinen Mitgliedstaaten, sondern schafft auch eine Rechtsgemeinschaft unter den einzelnen europäischen Bürgern. Aus demokratischer Sicht scheint mir deshalb schon die derzeitige Regelung problematisch, da sie das Grundrecht auf Freizügigkeit an bestimmte Wohlstandskriterien koppelt – und damit faktisch dazu führt, dass reiche Unionsbürger bei der Wahl ihres Wohnorts größere Rechte genießen als ärmere.

Die Quotenregelung aber, die Theresa May vorgeschlagen hat, würde offensichtlich gegen das Prinzip in Art. 18 AEUV verstoßen, dass Bürger der Europäischen Union nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden dürfen. Man darf daher getrost davon ausgehen, dass sie – sollte es dafür jemals eine Mehrheit in den europäischen Gesetzgebungsorganen geben, was freilich nicht in Sicht ist – gegebenenfalls ohnehin vom Europäischen Gerichtshof kassiert würde.

Gemeinsame Probleme gemeinsam angehen

Was also sollte man tun, wenn man einerseits die sozialen Probleme ernst nimmt, die sich aus der Freizügigkeit ergeben, und andererseits die Europäische Union als eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger verstehen und stärken will? In meinen Augen kann die Lösung jedenfalls nicht darin bestehen, die Freizügigkeit in irgendeiner Form weiter einzuschränken. Stattdessen muss es die Aufgabe der Europäischen Union sein, dieses Recht für all ihre Bürger unabhängig von deren Wohlstand effektiv sicherzustellen – und dann gegebenenfalls die daraus resultierenden Probleme bei der sozialen Integration von Zuwanderern auf europäischer Ebene anzugehen.

Die beste Nachricht in der innereuropäischen Migrationspolitik, die in der letzten Zeit zu hören war, betrifft deshalb den Europäischen Sozialfonds: Während der Förderperiode 2014-2020 soll der Anteil der Mittel, die der ESF für die gesellschaftliche Eingliederung von Menschen mit besonderen Schwierigkeiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen aufwendet, von 15 auf 20 Prozent erhöht werden. Zusätzlich könnte man sich vorstellen, dass auch die übrigen EU-Strukturfonds künftig Kommunen mit einem starken Wohlstandsgefälle oder mit anderen Problemen, die sich aus der EU-Binnenmigration ergeben können, stärker finanziell unterstützen.

Die Schwierigkeit bei dieser Lösung ist nur, dass das europäische Budget schlicht zu klein ist, um hier allzu große Hilfe zu leisten. Gerade der Europäische Sozialfonds gehörte zu jenen Programmen, die im Herbst 2012 beinahe aus Geldmangel ihre Aktivitäten einstellen mussten. Hinzu kommt, dass der jüngst beschlossene mehrjährige Finanzrahmen für 2014-2020 erstmals niedriger ausgefallen ist als sein Vorgänger. Bei der Finanzierung ihrer Aufgaben befindet sich die EU also schon jetzt hart an der Schmerzgrenze. Zusätzliche Mittel für die soziale Integration von Binnenmigranten werden deshalb wohl nur schwer aufzutreiben sein.

Die führenden Akteure, die in den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen diesen Sparkurs durchsetzten, waren übrigens die britische und die deutsche Regierung. Womit auch dieser Kreis sich schließt.

Bild: By Valsts kanceleja/ State Chancellery from Rīga, Latvija [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.