21 Dezember 2018

Was die EU im Jahr 2019 erwartet

Zeit zu gestalten: Im Europawahljahr 2019 wird die EU neue Form annehmen.
Ende eines Zyklus: Im Wahljahr 2019 werden nicht nur das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und die Präsidentschaft des Europäischen Rates neu besetzt; auch die mittelfristige Politikplanung der europäischen Institutionen – etwa der „Fahrplan“ der Kommission oder die „Leadersʼ Agenda“ des Europäischen Rates – ist nur bis zum Horizont der Europawahl ausgelegt. Entsprechend geht es derzeit vor allem darum, laufende Vorhaben abzuschließen: vom Verbot von Einwegplastik bis zur Reform der Eurozone, auch wenn Letztere nicht alle Hoffnungen erfüllte.

Sogar den Streit über den italienischen Haushalt legte die Kommission jüngst nach begrenzten Zugeständnissen der italienischen Regierung bei, vermutlich um ihn nicht zum zentralen Thema des Europawahlkampfs werden zu lassen. Die EU ist dabei, mit der ausgehenden Wahlperiode reinen Tisch zu machen. Was wird das neue Jahr bringen?

Europawahl und Neubesetzung der Spitzenämter

Über das zentrale europapolitische Thema 2019, die Europawahl am 23.-26. Mai und die Neubesetzung von Kommission und Ratspräsidentschaft in den darauffolgenden Monaten, ist auf diesem Blog regelmäßig und ausführlich zu lesen: Für eine Übersicht über die wichtigsten Fragen siehe hier, für einen Zeitplan der Schlüsselereignisse hier. An dieser Stelle deshalb nur eine kurze Aufzählung der wichtigsten Erwartungen:

Falls die Wahlumfragen nicht sehr irren, wird auch 2019 wieder die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei stärkste Kraft im Europäischen Parlament werden. Das Bündnis aus EVP und Sozialdemokraten wird jedoch nicht mehr über eine absolute Mehrheit verfügen und deshalb stärker als bisher auf die Liberalen (oder die Grünen) angewiesen sein. Rechte Parteien werden zulegen, aber weiterhin nur eine Nebenrolle spielen.

Sofern die großen Fraktionen im Europäischen Parlament sich nach der Europawahl schnell hinter einem der Spitzenkandidaten versammeln, werden sie sich bei der Wahl des Kommissionspräsidenten auch diesmal gegen den Europäischen Rat durchsetzen. Ob es dazu kommt, ist allerdings unsicher, da EVP-Kandidat Manfred Weber bei den übrigen Fraktionen auf starke Ablehnung stößt. Ausgehend von der Person des Kommissionspräsidenten wird der Europäische Rat dann die übrigen „Top-Jobs“ (der Hohe Vertreter für die Außenpolitik und der Ratspräsident) so zu besetzen versuchen, dass dabei große und kleine, nördliche und südliche, westliche und östliche Mitgliedstaaten, beide Geschlechter und alle Parteien der Großen Koalition vertreten sind – wobei anders als 2014 diesmal wohl nicht nur EVP und Sozialdemokraten, sondern auch die Liberalen auf einem „Top-Job“ bestehen werden. Falls der Zeitplan ähnlich verläuft wie vor fünf Jahren, könnte die neue Kommission dann am 1. November ihr Amt antreten.

Neue Langfrist-Strategien

Gleichzeitig mit der Neubesetzung der Ämter werden auch neue inhaltliche Schwerpunkte für die nächsten Jahre gesetzt werden. Der Europäische Rat plant dazu gleich zwei Treffen in der ersten Jahreshälfte. Am Europatag, dem 9. Mai, treffen sich die Staats- und Regierungschefs im rumänischen Sibiu zu einem informellen Gipfel, der wohl nur zu einer feierlichen Erklärung führen wird. Nach der Europawahl wollen sie dann aber am 20./21. Juni eine „Strategische Agenda 2019-24“ verabschieden und damit implizit auch den politischen Rahmen für den (auf demselben Gipfel nominierten) neuen Kommissionspräsidenten abstecken. Doch auch dieser wird sich wohl nicht damit begnügen, nur die Wünsche des Europäischen Rates umzusetzen, sondern eigene Pflöcke einschlagen – so wie das auch sein Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) 2014 tat.

Spätestens Mitte 2019 wird sich also abzeichnen, welche Ziele die EU-Institutionen in den nächsten Jahren vorrangig verfolgen wollen. Zu den zentralen Themen werden dabei wahrscheinlich auch weiterhin die Migrationspolitik, die Stärkung der außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit, der digitale Binnenmarkt und die Energie- und Klimapolitik gehören. Gespannt darf man hingegen sein, welchen Stellenwert etwa die weitere Vertiefung der Eurozone, die europäische Sozialpolitik oder die Erweiterung der EU auf dem westlichen Balkan einnehmen werden.

Mehrjähriger Finanzrahmen

Mit der Festlegung der inhaltlichen Prioritäten für die nächsten Jahre geht passenderweise auch die Diskussion über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU einher. Das ist einem glücklichen Zusammenfall geschuldet, da der Finanzrahmen traditionell auf sieben Jahre beschlossen wird und nicht mit dem fünfjährigen Europawahlzyklus übereinstimmt. Diesmal ergibt es sich jedoch, dass der aktuelle Finanzrahmen 2020 ausläuft. Die Diskussion über den neuen Finanzrahmen 2021-27, für den die Kommission bereits im vergangenen Mai erste Vorschläge vorgelegt hat, wird deshalb nach der Europawahl so richtig anlaufen.

Dass das offizielle Ziel, die Verhandlungen noch bis Ende 2019 abzuschließen, erreicht werden kann, ist jedoch unwahrscheinlich. Der Finanzrahmen muss nicht nur vom Europäischen Parlament, sondern auch von allen nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten gebilligt werden – und deren Vorstellungen darüber, wie viel Geld der EU zur Verfügung stehen sollte, gehen weit auseinander, umso mehr, als mit Großbritannien künftig ein wichtiger Nettozahler aus der EU ausscheidet.

Hinzu kommt, dass die Kommission auch neue Einnahmequellen für das EU-Budget erschließen will, dass einzelne Ausgabenbereiche wie die Gemeinsame Agrarpolitik stark umstritten sind, dass die EU-Strukturfonds künftig an die Einhaltung von demokratischen Grundwerten gekoppelt sein sollen (was Regierungen wie Ungarn, Polen und Rumänien wohl nicht einfach durchwinken werden) und dass die Mitgliedstaaten der Eurozone einen eigenen Euro-Haushalt verankern wollen, was unter den Nicht-Euro-Staaten durchaus auf Skepsis stößt. An Streitthemen mangelt es also nicht, und auch in der Vergangenheit wurde der neue Finanzrahmen oft erst wenige Monate vor Ablauf des alten verabschiedet.

Brexit-Endspiel

Mit Einigungen in letzter Minute hat die EU also einige Erfahrung. Das könnte ihr helfen, auch im Drama über den Brexit die Nerven zu bewahren, in dem drei Monate vor dem offiziellen britischen Austrittstermin am 29. März noch fast alle Fragen offen sind. Zwar gibt es seit Mitte November ein Austrittsabkommen zwischen der britischen Regierung und der EU (hier im Wortlaut), doch im britischen Parlament gibt es bislang keine Mehrheit für dessen Ratifikation.

Aber auch jede der naheliegenden Alternativen stößt unter den britischen Abgeordneten mehrheitlich auf Widerstand, sodass völlig offen ist, was im Januar weiter geschehen könnte. Die Optionen reichen vom „No-Deal-Brexit“ (also dem härtestmöglichen Austritt ganz ohne Abkommen oder Übergangsfristen) über ein neues Referendum bis zur vollständigen Absage des Austritts (die Großbritannien nach einem EuGH-Urteil auch einseitig erklären kann). Ausgeschlossen hat die EU lediglich, dass das bereits ausgehandelte Abkommen noch einmal aufgeschnürt wird. Im Brexit-Endspiel nehmen die europäischen Institutionen damit selbstgewählt nur eine Zuschauerrolle ein: Die Entscheidung wird letztlich im britischen Parlament fallen, während die EU sich auf jede Eventualität gefasst machen muss.

Ungarn und Polen: Wie weiter im Artikel-7-Verfahren?

Aber auch innerhalb der EU wird im nächsten Jahr nicht alles auf Start gestellt. Zu den Fragen, die die Europäer seit Jahren beschäftigen und auch 2019 aktuell bleiben werden, gehört das Ringen um die gemeinsamen demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte, die in mehreren Mitgliedstaaten von den nationalen Regierungen untergraben werden. Besonders prominent sind dabei Ungarn und Polen: Gegen beide Regierungen laufen inzwischen Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV, in einem Fall angestoßen Ende 2017 durch die Europäische Kommission, im anderen im September 2018 durch das Europäische Parlament. Der nächste Schritt in diesen Verfahren wäre nun jeweils eine Abstimmung des Ministerrates, der mit Vierfünftelmehrheit „Empfehlungen“ an die betreffende Regierung richten oder „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte feststellen kann.

Da eine solche Abstimmung als starke Eskalation angesehen würde (und überdies nicht sicher ist, ob die nötige Vierfünftelmehrheit überhaupt zustande käme), wird sie wohl kaum vor der Europawahl und der für Spätherbst 2019 geplanten polnischen Parlamentswahl stattfinden. Fraglich ist aber, wie lange der Rat dem Thema noch aus dem Weg gehen kann, ohne Artikel 7 EUV vollständig bedeutungslos zu machen. Die Ereignisse in Ungarn in den letzten Wochen haben jedenfalls deutlich gemacht, dass sich die dortige Regierung durch gutes Zureden allein nicht bremsen lassen wird.

Instabilität in Italien und Spanien

Aber auch in anderen Ländern kündigt sich das neue Jahr politisch unruhig an. Auch wenn die Auseinandersetzung um den italienischen Haushalt nun beigelegt wurde, bleibt in Italien das Konfliktpotenzial hoch. Die Regierungskoalition aus Lega (BENF) und M5S (–) ist in fast allen wichtigen Fragen uneins und wird im Europawahlkampf einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt sein. Wenn sich diese internen Konflikte nach außen entladen, könnte es angesichts der ohnehin ambivalenten europapolitischen Haltung der beiden Parteien schon in den kommenden Monaten zum nächsten großen Streit mit den EU-Institutionen kommen.

In Spanien wiederum köchelt der Katalonien-Konflikt weiter und ist in letzter Zeit wieder etwas heißer geworden. Allein im Dezember kam es zu zweideutigen Äußerungen des katalanischen Ministerpräsidenten Quim Torra, der die slowenische Unabhängigkeit von Jugoslawien (und damit, wie seine Kritiker meinten, implizit auch den Zehn-Tage-Krieg 1991) zum Vorbild für Katalonien erklärte, zu einem fast dreiwöchigen Hungerstreik von vier inhaftierten katalanischen Politikern und zu mehreren Festnahmen, als selbsternannte „Komitees zur Verteidigung der Republik“ anlässlich einer in Barcelona abgehaltene Kabinettssitzung der spanischen Regierung Straßen blockierten und Polizeiabsperrungen zu durchbrechen versuchten.

Für die spanische Regierung unter Pedro Sánchez (PSOE/SPE) ist diese Eskalation auch deshalb problematisch, weil sie für ihre prekäre Mehrheit im nationalen Parlament auch auf die Stimmen der separatistischen katalanischen Parteien angewiesen ist. Sollte die Regierung deshalb im Januar mit ihrem Haushaltsentwurf scheitern, könnte es vorgezogene Neuwahlen geben, womöglich gleichzeitig mit der Europawahl im Mai. Davon würde nicht zuletzt auch die rechtsextreme Partei Vox profitieren, die in Spanien bislang ein außerparlamentarisches Schattendasein führte und nun in Umfragen auf bis zu 10 Prozent gelangt.

Frankreich und Deutschland: mit sich selbst beschäftigt

Und auch die beiden größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich werden im neuen Jahr vor allem mit sich selbst beschäftigt sein. Die Unruhen um die französischen gilets jaunes scheinen sich nach den sozialpolitischen Zugeständnissen der Regierung (und angesichts der bevorstehenden Festtage) zwar erst einmal gelegt zu haben. Doch Präsident Emmanuel Macron (LREM) ist politisch angeschlagen und könnte durch einen Erfolg der links- und rechtsnationalen Oppositionsparteien bei der Europawahl weiter unter Druck geraten.

In Deutschland wiederum steht im Herbst 2019 die im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU (EVP) und SPD (SPE) vorgesehene Halbzeit-Überprüfung an, was die umfragengebeutelten Sozialdemokraten wohl zum Anlass für eine parteiinternen Debatte über einen Regierungsaustritt nehmen dürften. Die CDU wiederum will sich unter der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer bis 2020 ein neues Grundsatzprogramm geben – wobei von den Leitfragen im Abschnitt zur Europa- und Außenpolitik die erste den deutschen „nationalen Interessen“ und erst die zweite der Zukunft der „europäischen Idee“ gewidmet ist. Auch der deutschen Politik dürfte in den nächsten Monaten also einiges an nationaler Nabelschau bevorstehen.

Unsere Chance auf eine demokratische Debatte

2019 könnte für die Europäische Union zu einem Jahr des Aufbruchs werden, mit einem frisch gewählten Parlament, einer neuen Kommission und einer Debatte über die strategischen Herausforderungen und Ziele für die nächsten Jahre. Doch dieser Neuanfang droht die Regierungen der großen Mitgliedstaaten, die mit anderen Sorgen beschäftigt sind, auf dem falschen Fuß zu erwischen. Es ist deshalb zu befürchten, dass sie sich zuletzt für den Weg des geringsten Widerstands und ein weitgehend ambitionsloses Weiter-so entscheiden. Das aber könnte sich später als bitterer Fehler erweisen: Jean-Claude Junckers Warnung von 2017, man müsse „das europäische Haus fertigstellen, solange die Sonne noch scheint“, hat nichts von ihrer Aktualität verloren.

Erst einmal aber steht im Mai 2019 die Europawahl an – und vielleicht entfaltet der Wahlkampf ja eine ganz eigene Dynamik, aus der die europäische Integration neue Impulse bezieht. Hoffen wir zum Jahreswechsel jedenfalls das Beste: Hier liegt unsere Chance auf eine breite demokratische Debatte über die Zukunft der Europäischen Union!

Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein gutes neues Jahr!

17 Dezember 2018

Peitsche oder Zuckerbrot: Die EU folgt in Polen und Ungarn unterschiedlichen Strategien – und eine ist erfolgreicher als die andere

Während Jarosław Kaczyński in Polen seinen Angriff auf die unabhängige Justiz zuletzt gebremst hat, legt Viktor Orbán in Ungarn noch einen Zahn zu.
Wie umgehen mit den Regierungen von Mitgliedstaaten, die auf nationaler Ebene die gemeinsamen Grundwerte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten untergraben? Die Europäische Union steht hier vor einem Dilemma: Einerseits versteht sie sich als eine Wertegemeinschaft, in der autoritäre Regime keinen Platz haben können – schon allein, weil die verschiedenen nationalen politischen und rechtlichen Systeme inzwischen so eng miteinander verflochten sind, dass Angriffe auf die Demokratie oder die unabhängige Justiz in einem Mitgliedstaat auch in allen anderen zu spüren sein können.

Andererseits hat die EU jedoch nur ziemlich beschränkte Mittel, um gegen den Demokratieverfall in einzelnen Mitgliedstaaten anzukämpfen. Ihr steht zwar ein gewisses Spektrum an Instrumenten zur Verfügung (siehe auch hier). Doch diese sind oft mit hohen politischen Hürden verbunden, und ihre genaue Wirkung ist meist nur schwer vorauszusagen.

Zwei Strategien: Konfrontation oder Einbindung?

Hinzu kommt, dass die betreffenden autoritären Regierungen in der Regel ja demokratisch gewählt worden sind und deshalb wenigstens zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts eine Mehrheit ihrer eigenen nationalen Bevölkerung hinter sich haben. Harte Maßnahmen der EU können in der nationalen Öffentlichkeit deshalb schnell als unzulässige Einmischung von außen und Angriff auf die nationale Souveränität gedeutet werden. Das könnte der autoritären Regierung weiteren Zulauf verschaffen und die bestmögliche Lösung, nämlich die demokratische Abwahl dieser Regierung durch die nationale Bevölkerung, eher erschweren.

Aus dieser Perspektive ist es nicht vollkommen abwegig, statt auf eine harte Konfrontationsstrategie eher auf eine behutsame Eindämmung und Einbindung der autoritären Regierungen zu setzen – in der Hoffnung, dass diese letztlich ja auch an den Vorteilen guter europäischer Beziehungen interessiert sind und sich deshalb durch eine fortgesetzte Zusammenarbeit mäßigen lassen. Doch auch diese Strategie ist mit offensichtlichen Risiken verbunden: Zum einen kann eine zurückhaltende Reaktion der EU die autoritären Regierungen ermutigen, ihren Kurs nun erst recht fortzusetzen. Und zum anderen verlieren die EU-Institutionen ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn sie über Angriffe auf ihre Grundwerte hinwegsehen und die Opfer der autoritären Politik – zivilgesellschaftliche Organisationen, freie Medien, Oppositionsparteien – im Stich lassen.

Eine Art soziales Experiment

Welche Strategie ist also erfolgversprechender? Aus einer rein theoretischen Betrachtung ist diese Frage kaum zu beantworten, und in der Praxis wird im Umgang mit autoritären Regierungen wohl immer ein gewisser taktischer Pragmatismus aus Zuckerbrot und Peitsche zu beobachten sein. Immerhin aber ist es bemerkenswert, dass die Europäische Union in den letzten Monaten – ob beabsichtigt oder nicht – mit ihren zwei wichtigsten Problemregierungen Polen und Ungarn eine Art soziales Experiment durchgeführt hat, in dem sie mal die eine, mal die andere Strategie zur Anwendung brachte.

Eine verhältnismäßig harte Linie legte die EU, genauer: die Europäische Kommission, dabei gegenüber der polnischen Regierung an den Tag. Nachdem deutlich geworden war, dass die Regierungspartei PiS (AKRE) das nationale Justizsystem nach ihren Interessen umzubauen plante, hatte die Kommission Anfang 2016 zunächst ein weitgehend harmloses „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“ eingeleitet, das letztlich im Sand verlief.

Harte Gangart in Polen

Ende 2017 verschärfte die Kommission dann aber merklich die Gangart, indem sie ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV vorschlug. Nach diesem Verfahren kann der Rat mit Vierfünftelmehrheit „feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte besteht und „Empfehlungen“ an den betreffenden Mitgliedstaat richten. Diese Feststellung allein würde zwar nicht unmittelbar zu konkreten Sanktionen führen; diplomatisch wäre sie für die polnische Regierung aber ein Debakel. (Eine Abstimmung des Rates darüber steht noch aus.)

Parallel zu diesen politischen Maßnahmen schlug die Kommission aber auch noch einen rechtlichen Weg ein, nämlich in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. Bereits Ende Dezember 2017 verklagte die Kommission die polnische Regierung wegen verschiedener Maßnahmen zum Umbau des nationalen Justizsystems. Im September 2018 folgte eine weitere Klage wegen eines Gesetzes, mit dem ein Großteil der Richter des polnischen Obersten Gerichts zwangsweise in den Ruhestand versetzt werden sollte.

Der EuGH wiederum zeigte sich für diese Klagen durchaus offen. Schon in der ersten Jahreshälfte machte er in zwei wegweisenden Urteilen deutlich, dass er die europarechtliche Garantie einer unabhängigen nationalen Justiz durchaus als Teil seiner eigenen Zuständigkeit sieht (siehe hier und hier). Im Oktober stoppte er die Zwangspensionierung der polnischen Richter per einstweiliger Anordnung.

Die PiS-Regierung gibt teilweise nach

Und das Resultat? Wenigstens soweit bis jetzt zu erkennen ist, scheint die harte Linie der Kommission auf die polnische Regierung durchaus Eindruck zu machen. Zwar wehrte sie sich gegen das absehbare Urteil des EuGH zunächst mit allen Mitteln – bis hin zu einem Verfahren vor dem nationalen Verfassungsgericht, das bereits 2016 auf Regierungslinie gebracht wurde und nun unter Verweis auf die polnische Souveränität bestimmte EuGH-Vorlagen untersagen könnte. Die Folge könnte ein „Krieg der Gerichte“ sein, der das europäische Justizsystem insgesamt bedroht.

Ende November allerdings gab die polnische Regierung wenigstens teilweise nach und nahm die vom EuGH kritisierte Zwangspensionierung der polnischen Richter wieder zurück. Sie reagierte damit auch auf den Druck ihrer eigenen nationalen Öffentlichkeit, in der Warnungen der Opposition, dass der Kurs der Regierung letztlich auf einen polnischen EU-Austritt hinauslaufe, einigen Widerhall gefunden hatten. Auch wenn die Gefahr für den polnischen Rechtsstaat noch längst nicht vorüber ist – die polnische Regierung hat bislang nur in einer Teilfrage eingelenkt und verteidigt weiterhin den Kern ihrer Justizreform –, hat die Kommission hier mithilfe des EuGH zweifellos einen wertvollen Teilerfolg errungen.

Zurückhaltung in Ungarn

Ganz anders die Lage in Ungarn. Seit der Regierungsübernahme von Viktor Orbán (Fidesz/EVP) verschlechtert sich der Zustand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hier rapide; im Freedom-House-Index hat das Land den schlechtesten Wert aller EU-Mitgliedstaaten. Dennoch geht die Kommission gegen die ungarische Regierung bislang deutlich zurückhaltender vor als gegen die polnische.

Zwar strengte sie auch gegen bestimmte ungarische Gesetze Vertragsverletzungsverfahren an, insbesondere gegen das sogenannte NGO-Gesetz, das ungarischen Nichtregierungsorganisationen die Annahme von ausländischen Spenden erschwert, und gegen das Hochschulgesetz, das die Tätigkeit von Universitäten mit außereuropäischem Hauptsitz einschränkt und sich de facto allein gegen die Central European University in Budapest richtet. In beiden Fällen steht das Urteil noch aus.

Diese Verfahren betreffen jedoch jeweils nur bestimmte (wenn auch wichtige) Bereiche der ungarischen Zivilgesellschaft. Umfassende Maßnahmen gegen den grundsätzlichen Verfall von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat die Kommission bislang nicht ergriffen – obwohl die Lage hier der Situation in Polen keineswegs unähnlich ist. Stattdessen war es das Europäische Parlament, das im September 2018 mit dem sogenannten Sargentini-Bericht ein Art.-7-Abs.-1-Verfahren gegen die ungarische Regierung einleitete.

Die Kommission hat zu lange gezögert

Als Grund für diese Zurückhaltung der Kommission gegenüber Ungarn lassen sich vor allem zwei Faktoren ausmachen. Zum einen ist die ungarische Fidesz-Regierung bereits seit 2010 im Amt und ging beim Abbau der nationalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschickter und weniger überstürzt vor als die polnische PiS. Während die polnische Regierung bei der Entmachtung der Justiz recht offensichtlich auch gegen nationales Verfassungsrecht verstieß, verabschiedete die Fidesz zu diesem Zweck mithilfe ihrer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit 2011 eine ganz eigene, neue Verfassung, gegen die mit nationalen Rechtsmitteln nicht mehr anzukommen war.

Und obwohl es von Anfang an nicht an Warnungen vor diesen Entwicklungen mangelte (unter anderem auch auf diesem Blog, etwa hier und hier), zögerte die Kommission, drastische Gegenmaßnahmen zu ergreifen – offenbar in der vergeblichen Hoffnung, dass Ungarn ein Einzelfall bleiben und sich beizeiten von selbst lösen würde. Inzwischen sind die neue ungarische Verfassung und zahlreiche darauf aufbauende Gesetze nun schon so lange in Kraft, sodass sie anders als die polnische Justizreform nur schwer wieder rückgängig zu machen sein werden.

Brückenbauen“ in der EVP

Zum anderen spielen bei der unterschiedlichen Behandlung der polnischen und der ungarischen Regierung offenkundig auch parteipolitische Überlegungen eine Rolle. So gehört die polnische PiS auf europäischer Ebene der Allianz der Konservativen und Reformer für Europa (AKRE) an, in der ansonsten außer einigen kleineren nationalkonservativen Parteien vor allem die britischen Tories Mitglied sind: kaum die Partner, die einem in den EU-Institutionen starken Beistand leisten können.

Die Fidesz hingegen ist Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), die die großen christdemokratischen und konservativen Parteien der EU vereint und in allen wichtigen EU-Institutionen die stärkste Parteiengruppe stellt. Tatsächlich hat sich die EVP in der Vergangenheit immer wieder schützend vor die Fidesz gestellt – wobei ihr Europawahl-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU/EVP) ausdrücklich auf die Notwendigkeit von „Dialog“ und „Brückenbauen“ verweist, um die ungarische Regierung auf dem Boden der europäischen Grundwerte zu halten.

Und auch wenn die EVP dem Sargentini-Bericht mehrheitlich zugestimmt hat, hat Parteichef Joseph Daul einen Ausschluss der Fidesz Ende September noch einmal ausdrücklich ausgeschlossen. Solange Orbán in die EVP eingebunden bleibe, so ist häufig zu hören, sei er von europafreundlichen Kräften leichter zu beeinflussen, als wenn er in ein neues Bündnis mit anderen Rechtsaußenparteien getrieben würde.

Die Fidesz setzt den Demokratieabbau fort

Inwieweit diese Argumente ernst gemeint oder lediglich ein Vorwand sind, um das machttaktische Interesse der EVP an einer Zusammenarbeit mit der Fidesz zu verschleiern (immerhin kommt diese als einzige Mitgliedspartei auf nationale Umfragewerte von über 50 Prozent), sei an dieser Stelle dahingestellt. In der Praxis aber geht die Strategie offensichtlich nicht auf, wie allein ein Blick auf die Nachrichten der letzten Wochen zeigt: Obwohl Manfred Weber den Erhalt der Central European University noch vor wenigen Monaten als eine „rote Linie“ bezeichnet hatte, die Orbán nicht übertreten dürfe, gab die Universität Anfang Dezember ihre erzwungene Übersiedlung nach Wien bekanntohne dass die EVP Konsequenzen zog.

Langfristig womöglich noch bedeutungsvoller ist eine Mitte Dezember beschlossene Justizreform, mit der ein neues Höchstgericht für Verwaltungsangelegenheiten eingeführt wird, das ab 2020 für einen breiten Fächer von Rechtsbereichen zuständig sein soll. Die Kompetenzen dieses neuen Verwaltungsgerichts reichen von Steuerstreitigkeiten über Korruptionsfälle, das Polizeirecht und den Datenschutz bis hin zur Kontrolle politischer Wahlen – und die Aufsicht darüber, etwa die Ernennung der Richter sowie die Entscheidung über Disziplinarverfahren gegen sie, liegt beim nationalen Justizminister, der damit eine offensichtliche Möglichkeit zur politischen Einflussnahme erhält.

Zurückhaltung ist die falsche Strategie

Während die polnische Regierung bei ihrem Angriff auf die unabhängige Justiz in den letzten Wochen also wenigstens etwas aus dem Tritt gebracht wurde, setzt die ungarische ihren Weg in die „illiberale Demokratie“ unverdrossen weiter fort.

Nun sollte man diesen Gegensatz nicht zu scharf ziehen: Auch in Polen ist es für eine Entwarnung viel zu früh und eine weitere Verschlechterung der Dinge jederzeit möglich. Zudem sind die Unterschiede zwischen den beiden Ländern auch sicher nicht allein der Strategie der EU-Institutionen im Umgang mit ihnen geschuldet. Im Vergleich zu Ungarn hat Polen auch eine deutlich stärkere demokratische Opposition und eine besser organisierte Zivilgesellschaft. Eine eigene Rolle spielt zudem der polnische Staatspräsident Andrzej Duda, der zwar der PiS entstammt, sich jedoch in den letzten Jahren immer wieder auch gegen wichtige Vorhaben der Regierung stellte. Mit derartigen Hindernissen hatte die ungarische Fidesz-Regierung bisher nicht zu kämpfen.

Dennoch macht der Vergleich zwischen den beiden Ländern deutlich, dass Zurückhaltung gegenüber autoritären Regierungen in ihren Mitgliedstaaten für die Europäische Union nicht die richtige Strategie ist. Wenn es jemals eine ernsthafte Hoffnung gab, dass sich Viktor Orbán durch gutes Zureden würde bremsen lassen, hat sie sich im Lauf der letzten sieben Jahre unzweifelhaft als Illusion erwiesen. Die europäischen Institutionen – und besonders die Europäische Volkspartei und ihr Spitzenkandidat Manfred Weber – müssen daraus die Konsequenzen ziehen.

Bild: eigene Bearbeitung, Original: W. Kompała / KPRM [Public domain], via Flickr.

10 Dezember 2018

„Das Spitzenkandidaten-Verfahren kann dazu beitragen, dass Personen wie Viktor Orbán Einfluss gewinnen“: Ein Interview mit Lars Becker

Lars Becker.
Die Nominierung von Spitzenkandidaten für die Wahl des Kommissionspräsidenten bedeutete einen Fortschritt für die europäische Demokratie: Darin waren sich Freunde der europäischen Integration lange Zeit einig. Entsprechend breit ist die Zustimmung zu dem neuen Verfahren – von der Union Europäischer Föderalisten über das Europäische Parlament selbst bis zum Autor dieses Blogs. Ablehnung kam 2014 hingegen vor allem aus den Reihen jener, die das supranationale Europa ohnehin mit Skepsis sehen, etwa David Cameron (Cons./AKRE) oder Viktor Orbán (Fidesz/EVP). Umso befremdlicher war es für viele, als in den vergangenen Monaten auch einige prominente Proeuropäer scharfe Kritik am Spitzenkandidaten-Verfahren äußerten, etwa der französische Präsident Emmanuel Macron (LREM/–) und der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE).

Zu diesen proeuropäischen Skeptikern gehört auch Lars Becker, Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Zeit für ein klärendes Gespräch.

Warum Spitzenkandidaten?

D(e)F: In einer parlamentarischen Demokratie sollte die Exekutive vom gewählten Parlament ernannt werden, nicht diplomatisch zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt. Die Spitzenkandidaten waren das Instrument, um dieses Prinzip wenigstens für den Präsidenten der EU-Kommission durchzusetzen. Das neue Verfahren ist nicht perfekt, aber es wieder abzuschaffen, würde bedeuten, das Ruder wieder allein dem Europäischen Rat zu überlassen. Welcher Teil dieser Argumentation überzeugt Dich nicht?

Lars Becker: Um ehrlich zu sein: mehrere. Angefangen bei der Generalisierung über den idealen Aufbau einer parlamentarischen Demokratie – es gibt in manchen Ländern auch direkt gewählte Staats- und Regierungschefs – über die implizite Annahme, dass das Instrument den Zielen gerecht würde. Ich habe insbesondere in den letzten beiden Jahren bei vielen Gesprächen festgestellt, dass es unter Proeuropäern und Föderalisten zwar eine große Einigkeit darin gibt, dass Spitzenkandidaten irgendwie eine gute Idee seien, dass die Gründe hierfür aber weit auseinander gehen.

So gibt es zum Beispiel jene, die mit dem Instrument lediglich die Hoffnung auf mehr Öffentlichkeit verbinden und die (meines Erachtens etwas naive) Annahme haben, dass nur mangelnde Personalisierung das Problem sei. Und es gibt jene, für die die Spitzenkandidaten auch ein Mittel sind, um die Politisierung der Kommission voranzutreiben.

Nur ein kleiner Baustein

Bleiben wir erst einmal bei letzterer Position: Ist es angesichts der zunehmend politischen (und nicht nur technischen) Aufgaben der Europäischen Kommission nicht wünschenswert, dass eine solche Politisierung stattfindet – und dadurch die europäischen Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit bekommen, mit demokratischen Verfahren auf den Kurs der EU einzuwirken?

Natürlich. Ich teile die Sicht, dass wir eine Politisierung der Kommission brauchen. Ich glaube aber nicht, dass uns die Spitzenkandidaten allein dabei weiterhelfen. Sie sind ein kleiner Baustein, in einem ganzen Set von Bausteinen, die wir bräuchten. Jean-Claude Juncker spricht zwar oft davon, dass er eine politische Kommission führe – aber was heißt denn das genau? Ich würde bezweifeln, dass diese Kommission, wenn man sie nach ihrem Handeln bewertet, politischer ist als zum Beispiele die früheren Kommissionen von Walter Hallstein oder Jacques Delors.

Momentan sehen wir, dass die „Politisierung“ über Spitzenkandidaten eher Probleme verstärkt als löst. Der durchschnittliche wahlberechtigte Bürger nimmt keine Veränderung im Politisierungsgrad der Kommission wahr, während viele Mitgliedstaaten zunehmend argwöhnisch auf die Kommission sehen und sich sicherlich viele Akteure schon überlegen, was sie dieser von ihnen als Problem wahrgenommenen Politisierung entgegenstellen.

Personalisierung allein ist nicht das Ziel

Dass das Spitzenkandidaten-Verfahren nur ein erster Schritt sein kann, sehe ich ebenso: Um die Kommission wirklich parlamentarisch verantwortlich zu machen, müsste sich erstens das Ernennungsverfahren auch für die übrigen Kommissare ändern und zweitens die Möglichkeit eines Misstrauensvotums deutlich gestärkt werden.

Dennoch ist das neue Verfahren immerhin ein Anfang. Schon 2014 erfuhren die Spitzenkandidaten insgesamt mehr mediale Aufmerksamkeit als andere Europawahl-Kandidaten vor ihnen. Und das, obwohl 2014 ja noch eine Art Testlauf war: Viele Journalisten und andere Beobachter glaubten damals nicht an einen Erfolg des Verfahrens. Wenn die Spitzenkandidaten zur Normalität werden, dürfte sich ihre Sichtbarkeit auch in der breiten Öffentlichkeit deutlich erhöhen.

Und auch auf die Qualität der Personalauswahl scheint das Spitzenkandidaten-Verfahren eher einen positiven Einfluss zu haben: Hallstein und Delors waren Ausnahmefiguren in Umbruchszeiten. Die übrigen Kommissionspräsidenten in den letzten Jahrzehnten – Jacques Santer, Romano Prodi, José Manuel Durão Barroso – blieben in Sachen Charisma und politische Durchsetzungskraft hingegen deutlich hinter Juncker zurück.

Natürlich erfuhren die Spitzenkandidaten mehr Aufmerksamkeit! Wenn jeder Abgeordnete vorher im Durchschnitt 20 Interviews gegeben hat und ein Spitzenkandidat auf einmal 500, dann ist das ein signifikanter Anstieg, der ihnen mehr Aufmerksamkeit beschert. Aber trotz dieses Mehr an Aufmerksamkeit für die einzelnen Kandidaten maßen die meisten Wähler den Wahlen nicht wesentlich mehr Bedeutung bei als zuvor. Ich habe jedenfalls keine Studien gesehen, die mich zu der Annahme verleiten würden, dass die Spitzenkandidaten auf die Wählerschaft eine starke Auswirkung hinsichtlich der Bedeutung der Wahlen oder bei der Entscheidungsfindung gehabt hätten. Personalisierung alleine ist ja nicht das Ziel. Das Ziel ist eine Politisierung, die perspektivisch demokratische Alternanz mit klaren politischen Richtungsentscheidungen ermöglichen soll.

Und ja, klar: Juncker war ein Glücksfall, der durch die Spitzenkandidaten möglich wurde. Aber das war eben nur einer von vielen Kontextfaktoren. Der nächste Kommissionspräsident könnte Manfred Weber sein – nicht trotz, sondern wegen des Spitzenkandidaten-Verfahrens. Für Viktor Orbán und Co. wird das Spitzenkandidatensystem in der jetzigen Form jedenfalls ein Grund sein, sich einer weiteren Europäisierung der Parteien entgegenzustellen: Mit dem jetzigen Delegiertensystem kann man „Probleme“ wie Alex Stubb besser ausschließen, als wenn man lebendige europäische Parteien hätte.

Machtkalküle in der Institutionendebatte

Du siehst das Spitzenkandidaten-Verfahren als Hindernis zu einer weiteren Europäisierung der Parteien? Gerade Orbán hat sich doch sowohl 2014 als auch 2018 gegen das Verfahren ausgesprochen – eben weil er es als Schritt zu mehr Supranationalität versteht.

Das Verfahren ist natürlich nicht als Hindernis gedacht, sondern als Baustein in einer Gesamtstrategie zur Politisierung der Kommission. Wir erleben aber nun, dass das Spitzenkandidatensystem institutionalisiert werden soll, während weitere Maßnahmen von einer relevanten Zahl von Akteuren blockiert werden. Die Zahl der Kommissare soll nicht gesenkt werden, jedes Land soll weiterhin mit einem Kommissar vertreten sein, es soll keine transnationalen Listen zu den Wahlen geben. Es zeichnet sich also ab, dass die weiteren unbedingt notwendigen Schritte nicht verwirklicht werden – auch weil über das institutionelle Setup der EU zunehmend nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer sinnvollen und fairen demokratischen Struktur entschieden wird, sondern aus machttaktischen Kalkülen.

Dass sich dabei ausgerechnet zwischen EVP und ALDE eine Bruchlinie auftut, ist doch kein Zufall. Warum ist die EVP für Spitzenkandidaten und gegen transnationale Listen und Macron (mit der ALDE) für transnationale Listen und gegen Spitzenkandidaten? Ganz einfach: Weil kurz- und mittelfristig der EVP vor allem die Spitzenkandidaten nützen und Macron (und der ALDE) die transnationalen Listen. Die unterschiedlichen Positionen haben weniger damit zu tun, welches Setup für sinnvoll gehalten wird, sondern folgen Machtkalkülen.

Aufgrund dieser Machtkalküle wird es dann aber auch zunehmend schwieriger, die fehlenden Bausteine nachzuholen. Wenn die Spitzenkandidaten sich als neue Normalität etablieren, kann die EVP es sich damit gemütlich machen und alles andere verhindern. Das Ergebnis müsste stattdessen eine Paketlösung sein, bei der Spitzenkandidaten und transnationale Listen zusammen festgeschrieben werden. Langfristig sind Letztere ein viel wichtigeres Vehikel, um das Parlament zu stärken. Die Spitzenkandidaten hingegen haben in ihrer heutigen Form keinen großen Mehrwert und führen momentan eher dazu, dass die machtpolitischen Interessen einer Partei besser bedient werden als die der anderen.

Die zentrale Rolle der EVP

Dass das Spitzenkandidaten-Verfahren einen einseitigen Vorteil für die EVP – als auf absehbare Zeit stärkste Fraktion – darstelle, ist auch von anderen Kritikern wie Guy Verhofstadt zu hören. Allerdings verlangt das Spitzenkandidaten-Verfahren ja nicht zwingend, dass der Kandidat der stärksten Fraktion gewählt wird. Es könnte sich im Europäischen Parlament auch eine Mehrheit ohne die EVP zusammenfinden.

Dass das zurzeit recht unwahrscheinlich ist, liegt an der internen Zersplitterung des Parlaments: Eine Mehrheit ohne die EVP wäre nur unter Beteiligung von Europagegnern oder mit einem wenig realistischen „rot-rot-grün-gelben“ Mitte-Links-Bündnis möglich. Aber diese Zersplitterung ist nun einmal Teil der demokratischen Realität in Europa. Muss man die zentrale Rolle der EVP in unserem Parteiensystem nicht einfach als Folge des Wählerwillens akzeptieren?

So einfach ist es nicht. Hierzulande wählt „die EVP“ der Wähler, der mit den Politikangeboten der CDU/CSU etwas anfangen kann. Über die Politikangebote der Fidesz, die ebenfalls der EVP angehört, weiß er in der Regel nur wenig. Das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit führt dazu, dass die Positionen der Partei im eigenen Land oft übergeneralisiert und die Positionen der anderen Mitgliedsparteien für die Wahlentscheidung nicht mit in Betracht gezogen werden.

Die Stärke der EVP rührt aber genau daher, dass sie extrem heterogen ist und in ihren Reihen neben liberalen auch autoritäre, europaskeptische Parteien hat. Auch wenn Manfred Weber das gerne herunterspielt: Der Grund, warum die EVP Problemfälle wie die Fidesz in den eigenen Reihen duldet, ist der Wunsch, ihre Rolle als stärkste Kraft zu erhalten. Dieser Wunsch wird durch die Spitzenkandidaten noch verstärkt.

Gerade die Institutionalisierung der Spitzenkandidaten kann also dazu beitragen, dass Personen wie Viktor Orbán Einfluss gewinnen. Das ist ein echtes Problem, das man nicht alleine mit einer Argumentation über „den“ Wählerwillen wegwischen kann. Denn Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und ähnliche Dinge sind aus guten Gründen Dinge, die normalerweise nicht über Wahlen verhandelt werden.

Weber und Orbán

Immerhin: Mitte September hat Manfred Weber seine EVP-Fraktion mehrheitlich für den Sargentini-Bericht stimmen lassen, mit dem sich das Europäische Parlament für ein Artikel-7-Verfahren gegen die Fidesz-Regierung aussprach. Nun ist es nicht ganz abwegig, dahinter vor allem taktische Beweggründe zu sehen – die Abstimmung fiel genau in die Tage, in denen der mediale Druck besonders groß war, weil Weber kurz zuvor seine Spitzenkandidaten-Bewerbung angekündigt hatte; und als die öffentliche Aufmerksamkeit danach wieder zurückging, blieben jegliche Folgemaßnahmen innerhalb der EVP aus. Aber trotzdem: Ist es nicht gut, wenn das Spitzenkandidaten-Verfahren Politikern wie Weber größere Sichtbarkeit verschafft und sie auf diese Weise zwingt, sich von zweifelhaften Parteifreunden wie Orbán zu distanzieren?

Das war aber ein Einzelfall. Das letzte Ereignis aus Ungarn, das öffentliche Bedeutung erlangte, war wohl, dass die Central European University aus Budapest nach Wien umziehen muss. Weber hat diesbezüglich noch 2017 von einer „roten Linie“ gesprochen, die Orbán nicht überschreiten dürfe. Jetzt ist er hingegen bemerkenswert still, oder?

Sein Votum für den Sargentini-Bericht wirkt deshalb wie ein „Deal“, der nur dem Wahlkampf dienen sollte. Dass das nur symbolisch war, wurde Orbán gegenüber durch das Votum der restlichen CSU-Kollegen unterstrichen, die alle gegen den Bericht gestimmt haben. Ich vermute, Orbán wird auch weiterhin regelmäßig nach Bayern eingeladen werden, und der stellvertretende CSU-Vorsitzende Weber wird damit wohl auch in Zukunft keine Probleme haben, sondern mit seinem positiv klingenden Ausspruch „Ich will Brücken bauen“ die Einbindung der autoritären Rechten begründen. Wirkliche Distanzierung sieht anders aus.

Nicht in einer Position der Stärke

Zurück zu der Verbindung zwischen Spitzenkandidaten und gesamteuropäischen Listen: Verstehe ich richtig, dass Du die Spitzenkandidaten vor allem taktisch ablehnst, solange kein Durchbruch zu einem voll parlamentarischen Regierungssystem erreicht werden kann?

Ja. Ich glaube, dass wir damit ein Instrument mit gutem Potenzial haben, das aber nur im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten wirklichen Nutzen entfalten kann. Und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass wir diese Instrumente bekommen werden. Im übrigen nicht nur wegen der EVP, sondern auch weil auch unter jenen, die nicht machttaktisch argumentieren, manchmal nur scheinbare Einigkeit besteht. Ich habe im Präsidium meines Verbands zum Beispiel auch schon Diskussionen erlebt, in denen Vertreter der Grünen oder Sozialdemokraten argumentiert haben, dass man auch in Zukunft jedem Mitgliedstaat seinen eigenen Kommissar zubilligen müsse – obwohl das dem Ziel einer Politisierung der Kommission entgegenläuft.

Selbst unter Föderalisten bestehen intern also unterschiedliche Vorstellungen, was mit den Spitzenkandidaten erreicht werden soll. Und mein Eindruck ist, dass dabei jene, die eine echte Politisierung der Institutionen wollen, derzeit nicht in einer Position der Stärke sind. Das muss man berücksichtigen, bevor man jenen, die nur Machtinteressen folgen, die von ihnen gewünschten Instrumente in die Hand gibt.

Der Widerstand wächst

Die „Methode der kleinen Schritte“ hat in der Geschichte der europäischen Integration freilich eine lange Tradition: Man einigt sich auf das Machbare, auch wenn man dabei ein System mit Ungleichgewichten und inneren Widersprüchen produziert – in der bis jetzt meistens zutreffenden Hoffnung, dass die dadurch entstehenden Krisen später produktiv gelöst werden und zu weiteren Fortschritten führen. Die Alternative wären oft nur Stagnation und Rückschritt.

Und ist es bei den Spitzenkandidaten nicht genauso? Sie in ihrer jetzigen Form einfach zu verwerfen, würde wenigstens kurzfristig wohl eher nicht zu einer großen Paketlösung führen, sondern dazu, dass das Parlament als gescheitert gilt und der Europäische Rat die Zügel der Kommissionswahl noch fester in der Hand hält als zuvor.

Diese neofunktionalistische Methode der kleinen Schritte hat lange gut funktioniert und wird in einigen Politikfeldern auch weiterhin noch tragen. Man muss aber sehen, dass diese Theorie problematisch ist, wenn sie zu einer handlungsleitenden Weltanschauung wird. Man landet schnell bei einer Form der Teleologie, das heißt bei der Annahme, dass die Integration am Ende quasi ganz von selbst zu den Vereinigten Staaten von Europa führen würde. Ich glaube mittlerweile, wer das glaubt, macht sich etwas vor.

In allen Politikfeldern, die bei Fragen nationaler Souveränität ans Eingemachte gehen, sind wir nicht viel weiter als vor zwanzig Jahren. Und da die nächsten Integrationsschritte immer dichter an diese zentralen Politikfelder heranführen, sehen wir, dass auf Seiten eher intergouvernementalistischer Vertreter der Widerstand gegen weitere Integrationsmaßnahmen wächst – während umgekehrt auf Seiten der Integrationsbefürworter die normativen Erwartungen an die EU, z.B. an die Demokratisierung ihrer Institutionen oder an ihre Fähigkeit zur Intervention bei nationalen Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit, steigen. Das ist ein Problem.

Auf die Spitzenkandidaten gewendet bedeutet das: Wenn wir das Verfahren in seiner heutigen Form akzeptieren, weil wir hoffen, dass es später ein Baustein für unsere Pläne sein wird – dann akzeptieren wir auch, dass sich die EVP ein Machtinstrument gesichert hat, während sie andere Instrumente, die noch sinnvoller, aber ihr nicht dienlich sind, weiter ablehnen kann. Das Ziel der Orbáns in dieser EU wird sein, auf absehbare Zeit schwache Kommissionen zu produzieren. So paradox es klingt: Spitzenkandidaten in der jetzigen Form können ihnen dabei helfen.

Eine Paketlösung bis 2024

Was wäre in Deinen Augen denn die Alternative? Wäre eine Kommission, deren Präsident wieder vor allem durch den Europäischen Rat ausgewählt wird, denn stärker?

Ich glaube tatsächlich, dass unter jetzigen Bedingungen im Europäischen Rat bessere Chancen auf einen integrationsfreudigen Kommissionspräsidenten bestünden als im Parlament. Durch die Festlegung auf einen Spitzenkandidaten und durch die Ansage, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden darf, gibt es keine einfache Möglichkeit, „schlechte“ Kandidaten wieder abzuräumen. Eine solche blinde Festlegung haben wir bei der Wahl unserer Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler ja übrigens auch nicht.

Es muss gelingen, die Debatte so zu verändern, dass die Spitzenkandidaten nicht mehr als Selbstzweck gelten, sondern als eine Maßnahme, die nur im Zusammenspiel mit weiteren Integrationsschritten erstrebenswert ist. Wir sollten deshalb deutlich machen, dass wir das Spitzenkandidaten-Verfahren für die Zukunft nur dann unterstützen, wenn für den Anfang zumindest auch ein paar Sitze über transnationale Listen eingeführt werden.

Damit hätte man dann gleichzeitig auch die Chance, die starke Selbstzweckorientierung der derzeitigen Debatte zu verschieben in Richtung einer Debatte über das Ziel einer demokratischen, politischen Kommission. Das Ziel muss sein, bis 2024 eine Debatte über eine Paketlösung zu bekommen, denn das könnte für längere Zeit die letzte Chance sein, dass den Spitzenkandidaten etwas folgen wird.

Das Parlament ist in der Pflicht

Und wer hätte aus Deiner Sicht eine realistische Chance, 2019 als Kommissionspräsident gewählt zu werden, um dann bis 2024 eine solche Agenda voranzutreiben?

Hier ist Personalisierung fehl am Platz: Statt auf einen Kommissionspräsidenten zu hoffen, der diese Agenda antreibt, muss das Parlament gestalten. Das Problem in dieser Frage war nicht die Kommission: Juncker hätte bei transnationalen Listen problemlos mitgemacht. Es war das Europäische Parlament, das Fortentwicklungen verhindert hat – und, das muss man so deutlich sagen, dort im Wesentlichen die EVP, nicht die ALDE, die jetzt wegen der Spitzenkandidaten kritisiert wird. Man muss in dieser Frage also die Abgeordneten in die Pflicht nehmen und darf sie nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.

Lars Becker ist stellvertretender Vorsitzender der Europa-Union Hamburg und Mitglied im Bundesvorstand der Europa-Union Deutschland. Die hier geäußerten Positionen geben seine persönliche Meinung wieder.

Dieses Interview wurde im Dezember 2018 als Online-Chat geführt und nachträglich redaktionell bearbeitet.

Bild: Lars Becker (alle Rechte vorbehalten).