- Während Jarosław Kaczyński in Polen seinen Angriff auf die unabhängige Justiz zuletzt gebremst hat, legt Viktor Orbán in Ungarn noch einen Zahn zu.
Wie
umgehen mit den Regierungen von Mitgliedstaaten, die auf nationaler
Ebene die gemeinsamen Grundwerte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechten untergraben? Die Europäische Union steht hier
vor einem Dilemma: Einerseits versteht sie sich als eine
Wertegemeinschaft, in der autoritäre Regime keinen Platz haben
können – schon allein, weil die verschiedenen nationalen
politischen und rechtlichen Systeme inzwischen so eng miteinander
verflochten sind, dass Angriffe
auf die Demokratie oder die unabhängige Justiz in einem
Mitgliedstaat auch in allen anderen zu spüren sein können.
Andererseits hat die EU jedoch nur ziemlich beschränkte Mittel, um
gegen den Demokratieverfall in einzelnen Mitgliedstaaten anzukämpfen.
Ihr steht zwar ein gewisses
Spektrum an Instrumenten zur Verfügung (siehe
auch hier). Doch diese sind oft mit hohen politischen Hürden
verbunden, und ihre genaue Wirkung ist meist nur schwer
vorauszusagen.
Zwei
Strategien: Konfrontation oder Einbindung?
Hinzu
kommt, dass die betreffenden autoritären Regierungen in der Regel ja
demokratisch gewählt worden sind und deshalb wenigstens zum
Zeitpunkt ihres Amtsantritts eine Mehrheit ihrer eigenen nationalen
Bevölkerung hinter sich haben. Harte Maßnahmen der EU können in
der nationalen Öffentlichkeit deshalb schnell als unzulässige
Einmischung von außen und Angriff auf die nationale Souveränität
gedeutet werden. Das könnte der autoritären Regierung weiteren
Zulauf verschaffen und die bestmögliche Lösung, nämlich die
demokratische Abwahl dieser Regierung durch die nationale
Bevölkerung, eher erschweren.
Aus
dieser Perspektive ist es nicht vollkommen abwegig, statt auf eine
harte Konfrontationsstrategie eher auf eine behutsame Eindämmung und
Einbindung der autoritären Regierungen zu setzen – in der
Hoffnung, dass diese letztlich ja auch an den Vorteilen guter
europäischer Beziehungen interessiert sind und sich deshalb durch
eine fortgesetzte Zusammenarbeit mäßigen lassen. Doch auch diese
Strategie ist mit offensichtlichen Risiken verbunden: Zum einen kann
eine zurückhaltende Reaktion der EU die autoritären Regierungen
ermutigen, ihren Kurs nun erst recht fortzusetzen. Und zum anderen
verlieren die EU-Institutionen ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn sie
über Angriffe auf ihre Grundwerte hinwegsehen und die Opfer der
autoritären Politik – zivilgesellschaftliche Organisationen, freie
Medien, Oppositionsparteien – im Stich lassen.
Eine
Art soziales Experiment
Welche
Strategie ist also erfolgversprechender? Aus einer rein theoretischen
Betrachtung ist diese Frage kaum zu beantworten, und in der Praxis
wird im Umgang mit autoritären Regierungen wohl immer ein gewisser
taktischer Pragmatismus aus Zuckerbrot und Peitsche zu beobachten
sein. Immerhin aber ist es bemerkenswert, dass die Europäische Union
in den letzten Monaten – ob beabsichtigt oder nicht – mit ihren
zwei wichtigsten Problemregierungen Polen und Ungarn eine Art
soziales Experiment durchgeführt hat, in dem sie mal die eine, mal
die andere Strategie zur Anwendung brachte.
Eine
verhältnismäßig harte Linie legte die EU, genauer: die Europäische
Kommission, dabei gegenüber der polnischen Regierung an den Tag.
Nachdem deutlich geworden war, dass die Regierungspartei PiS (AKRE)
das nationale Justizsystem nach ihren Interessen umzubauen plante,
hatte die Kommission Anfang 2016 zunächst ein weitgehend
harmloses „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“ eingeleitet, das
letztlich im
Sand verlief.
Harte
Gangart in Polen
Ende
2017 verschärfte
die Kommission dann aber merklich die Gangart, indem sie ein
Verfahren nach Art.
7 Abs. 1 EUV vorschlug. Nach diesem Verfahren kann der Rat mit
Vierfünftelmehrheit „feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer
schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte besteht und
„Empfehlungen“ an den betreffenden Mitgliedstaat richten. Diese
Feststellung allein würde zwar nicht unmittelbar zu konkreten
Sanktionen führen; diplomatisch wäre sie für die polnische
Regierung aber ein Debakel. (Eine Abstimmung des Rates darüber steht
noch aus.)
Parallel
zu diesen politischen Maßnahmen schlug die Kommission aber auch noch
einen rechtlichen Weg ein, nämlich in Form eines
Vertragsverletzungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof.
Bereits Ende Dezember 2017 verklagte
die Kommission die polnische Regierung wegen verschiedener Maßnahmen
zum Umbau des nationalen Justizsystems. Im September 2018 folgte
eine weitere Klage wegen eines Gesetzes, mit dem ein Großteil
der Richter des polnischen Obersten Gerichts zwangsweise in den
Ruhestand versetzt werden sollte.
Der
EuGH wiederum zeigte sich für diese Klagen durchaus offen. Schon in
der ersten Jahreshälfte machte er in zwei wegweisenden Urteilen
deutlich, dass er die europarechtliche Garantie einer unabhängigen
nationalen Justiz durchaus als Teil seiner eigenen Zuständigkeit
sieht (siehe hier
und hier).
Im Oktober stoppte
er die Zwangspensionierung der polnischen Richter per einstweiliger
Anordnung.
Die
PiS-Regierung gibt teilweise nach
Und
das Resultat? Wenigstens soweit bis jetzt zu erkennen ist, scheint
die harte Linie der Kommission auf die polnische Regierung durchaus
Eindruck zu machen. Zwar wehrte
sie sich gegen das absehbare Urteil des EuGH zunächst mit allen
Mitteln – bis hin zu einem Verfahren vor dem nationalen
Verfassungsgericht, das bereits
2016 auf Regierungslinie gebracht wurde und nun unter
Verweis auf die polnische Souveränität bestimmte EuGH-Vorlagen
untersagen könnte. Die Folge könnte ein
„Krieg der Gerichte“ sein, der das europäische Justizsystem
insgesamt bedroht.
Ende
November allerdings gab die polnische Regierung wenigstens teilweise
nach und nahm
die vom EuGH kritisierte Zwangspensionierung der polnischen Richter
wieder zurück. Sie reagierte damit auch auf den Druck ihrer
eigenen nationalen Öffentlichkeit, in der Warnungen der Opposition,
dass der Kurs der Regierung letztlich auf einen polnischen
EU-Austritt hinauslaufe, einigen
Widerhall gefunden hatten. Auch wenn die Gefahr für den
polnischen Rechtsstaat noch längst nicht vorüber ist – die
polnische Regierung hat bislang
nur in einer Teilfrage eingelenkt und verteidigt weiterhin den Kern
ihrer Justizreform –, hat die Kommission hier mithilfe des
EuGH zweifellos einen wertvollen Teilerfolg errungen.
Zurückhaltung
in Ungarn
Ganz
anders die Lage in Ungarn. Seit der Regierungsübernahme von Viktor
Orbán (Fidesz/EVP) verschlechtert sich der Zustand von Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit hier rapide; im
Freedom-House-Index hat das Land den schlechtesten Wert aller EU-Mitgliedstaaten. Dennoch
geht die Kommission gegen die ungarische Regierung bislang deutlich
zurückhaltender vor als gegen die polnische.
Zwar
strengte sie auch gegen bestimmte ungarische Gesetze
Vertragsverletzungsverfahren an, insbesondere gegen das sogenannte
NGO-Gesetz,
das ungarischen Nichtregierungsorganisationen die Annahme von
ausländischen Spenden erschwert, und gegen das Hochschulgesetz,
das die Tätigkeit von Universitäten mit außereuropäischem
Hauptsitz einschränkt und sich de facto allein
gegen die Central European University in Budapest richtet. In
beiden Fällen steht das Urteil noch aus.
Diese
Verfahren betreffen jedoch jeweils nur bestimmte (wenn auch wichtige)
Bereiche der ungarischen Zivilgesellschaft. Umfassende Maßnahmen
gegen den grundsätzlichen Verfall von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat die Kommission bislang nicht
ergriffen – obwohl die Lage hier der
Situation in Polen keineswegs unähnlich ist. Stattdessen war es
das Europäische Parlament, das im September 2018 mit dem sogenannten
Sargentini-Bericht
ein Art.-7-Abs.-1-Verfahren gegen
die ungarische Regierung einleitete.
Die
Kommission hat zu lange gezögert
Als
Grund für diese Zurückhaltung der Kommission gegenüber Ungarn
lassen sich vor
allem zwei Faktoren ausmachen. Zum einen ist die ungarische
Fidesz-Regierung bereits seit 2010 im Amt und ging beim Abbau der
nationalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschickter und weniger
überstürzt vor als die polnische PiS. Während die polnische
Regierung bei der Entmachtung der Justiz recht offensichtlich auch
gegen nationales Verfassungsrecht verstieß, verabschiedete die Fidesz
zu diesem Zweck mithilfe ihrer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit
2011 eine ganz
eigene, neue Verfassung, gegen die mit nationalen Rechtsmitteln
nicht mehr anzukommen war.
Und
obwohl es von Anfang an nicht an Warnungen vor diesen Entwicklungen mangelte (unter
anderem auch auf diesem Blog, etwa hier
und hier),
zögerte die Kommission, drastische Gegenmaßnahmen zu ergreifen –
offenbar in der vergeblichen Hoffnung, dass Ungarn ein Einzelfall
bleiben und sich beizeiten von selbst lösen würde. Inzwischen sind
die neue ungarische Verfassung und zahlreiche darauf aufbauende
Gesetze nun schon so lange in Kraft, sodass sie anders als die
polnische Justizreform nur schwer wieder rückgängig zu machen
sein werden.
„Brückenbauen“
in der EVP
Zum
anderen spielen bei der unterschiedlichen Behandlung der polnischen
und der ungarischen Regierung offenkundig auch parteipolitische
Überlegungen eine Rolle. So gehört die polnische PiS auf
europäischer Ebene der Allianz der Konservativen und Reformer für
Europa (AKRE) an, in der ansonsten außer einigen kleineren
nationalkonservativen Parteien vor allem die britischen Tories
Mitglied sind: kaum die Partner, die einem in den EU-Institutionen
starken Beistand leisten können.
Die
Fidesz hingegen ist Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), die
die großen christdemokratischen und konservativen Parteien der EU
vereint und in
allen wichtigen EU-Institutionen die stärkste Parteiengruppe stellt.
Tatsächlich hat sich die EVP in der Vergangenheit immer
wieder schützend vor die Fidesz gestellt – wobei ihr
Europawahl-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU/EVP) ausdrücklich
auf die Notwendigkeit von „Dialog“ und „Brückenbauen“
verweist, um die ungarische Regierung auf dem Boden der
europäischen Grundwerte zu halten.
Und
auch wenn die EVP dem Sargentini-Bericht mehrheitlich zugestimmt hat,
hat Parteichef Joseph Daul einen
Ausschluss der Fidesz Ende September noch einmal ausdrücklich
ausgeschlossen. Solange Orbán in die EVP eingebunden bleibe, so
ist häufig zu hören, sei er von europafreundlichen Kräften
leichter zu beeinflussen, als wenn er in ein neues Bündnis mit
anderen Rechtsaußenparteien getrieben würde.
Die Fidesz setzt den Demokratieabbau fort
Inwieweit
diese Argumente ernst gemeint oder lediglich ein Vorwand sind, um das
machttaktische Interesse der EVP an einer Zusammenarbeit mit der Fidesz zu
verschleiern (immerhin kommt diese als einzige Mitgliedspartei auf
nationale Umfragewerte von über 50 Prozent), sei an dieser
Stelle dahingestellt. In der Praxis aber geht die Strategie
offensichtlich nicht auf, wie allein ein Blick auf die Nachrichten
der letzten Wochen zeigt: Obwohl Manfred Weber den Erhalt der Central
European University noch
vor wenigen Monaten als eine „rote Linie“ bezeichnet hatte,
die Orbán nicht übertreten dürfe, gab die Universität Anfang
Dezember ihre erzwungene Übersiedlung nach Wien bekannt – ohne
dass die EVP Konsequenzen zog.
Langfristig
womöglich noch bedeutungsvoller ist eine Mitte
Dezember beschlossene Justizreform, mit der ein neues
Höchstgericht für Verwaltungsangelegenheiten eingeführt wird, das
ab 2020 für einen breiten Fächer von Rechtsbereichen zuständig
sein soll. Die Kompetenzen dieses neuen Verwaltungsgerichts reichen
von Steuerstreitigkeiten über Korruptionsfälle, das Polizeirecht
und den Datenschutz bis hin zur Kontrolle politischer Wahlen – und
die Aufsicht darüber, etwa die Ernennung der Richter sowie die
Entscheidung über Disziplinarverfahren gegen sie, liegt
beim nationalen Justizminister, der damit eine offensichtliche
Möglichkeit zur politischen Einflussnahme erhält.
Zurückhaltung
ist die falsche Strategie
Während
die polnische Regierung bei ihrem Angriff auf die unabhängige Justiz
in den letzten Wochen also wenigstens etwas aus dem Tritt gebracht
wurde, setzt die ungarische ihren Weg in die „illiberale
Demokratie“ unverdrossen weiter fort.
Nun
sollte man diesen Gegensatz nicht zu scharf ziehen: Auch in Polen ist
es für eine Entwarnung viel zu früh und eine weitere
Verschlechterung der Dinge jederzeit möglich. Zudem sind die
Unterschiede zwischen den beiden Ländern auch sicher nicht allein
der Strategie der EU-Institutionen im Umgang mit ihnen geschuldet. Im
Vergleich zu Ungarn hat Polen auch eine deutlich stärkere
demokratische Opposition und eine besser organisierte
Zivilgesellschaft. Eine eigene Rolle spielt zudem der polnische
Staatspräsident Andrzej Duda, der zwar der PiS entstammt, sich
jedoch in den letzten Jahren immer
wieder auch gegen
wichtige Vorhaben der Regierung stellte. Mit derartigen
Hindernissen hatte die ungarische Fidesz-Regierung bisher nicht zu kämpfen.
Dennoch
macht der Vergleich zwischen den beiden Ländern deutlich, dass
Zurückhaltung gegenüber autoritären Regierungen in ihren
Mitgliedstaaten für die Europäische Union nicht die richtige
Strategie ist. Wenn es jemals eine ernsthafte Hoffnung gab, dass sich
Viktor Orbán durch gutes Zureden würde bremsen lassen, hat sie sich
im Lauf der letzten sieben Jahre unzweifelhaft als Illusion erwiesen.
Die europäischen Institutionen – und besonders die Europäische
Volkspartei und ihr Spitzenkandidat Manfred Weber – müssen daraus
die Konsequenzen ziehen.
Bild: eigene Bearbeitung, Original: W. Kompała / KPRM [Public domain], via Flickr.
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