- Spitzenkandidaten allein sind nicht genug: Der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie in der EU muss weitergehen.
Die
Verhandlungen über die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten dauern an – und
scheinen, wenigstens auf den ersten Blick, in den letzten zwei Wochen kaum
vorangekommen zu sein. Noch immer gibt es eine Mehrheit im Europäischen
Parlament, um für dieses Amt nur einen Spitzenkandidaten zu akzeptieren, aber keine Mehrheit für
einen bestimmten dieser Kandidaten. Noch immer lauern einige
Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, die das
Spitzenkandidaten-Verfahren lieber heute als morgen begraben würden. Aber noch
immer weiß das Parlament, dass ein Einknicken jetzt zu einer
dauerhaften Schwächung führen könnte, und warnt vor Rückschritten bei der
Demokratisierung der EU.
Erfolge und Unzulänglichkeiten des Spitzenkandidaten-Verfahrens
Aber
welche Rolle spielt das Spitzenkandidaten-Verfahren eigentlich für die
europäische Demokratie? Im ersten Teil dieses
Artikels
ging es hier vor einigen Tagen um die Erfolge, die das Verfahren jetzt schon
erreicht hat: Durch die Spitzenkandidaten ist die Diskussion über die
Kommissionspräsidentschaft transparenter geworden. Die europäischen Parteien
wurden gestärkt, indem sie als politische Machtzentren an Bedeutung gewannen.
Transnationale Netzwerke wurden wichtiger, wodurch auch die Spitzenkandidaten
selbst ein stärker supranationales Profil haben als frühere
Kommissionspräsidenten. Und schließlich gewannen die europäischen Parteien auch
an medialer Sichtbarkeit, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass autoritäre
nationale Mitgliedsparteien wie die ungarische Fidesz in der EVP oder die
rumänische PSD in der SPE stärker unter Druck gerieten.
Aber
natürlich ist das Spitzenkandidatenverfahren nur ein kleiner Schritt auf dem
langen Weg zu einer parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene. In seiner
jetzigen Form stößt es immer wieder auch auf Grenzen und inhärente Widersprüche,
die sein Potenzial zur Demokratisierung der EU beschränken. An dieser Stelle
soll es deshalb um die Unzulänglichkeiten des Spitzenkandidatenverfahrens gehen
– und um die nächsten Schritte, die nötig sind, um diese zu überwinden.
Künstliche Engführung
der Personalauswahl
Ein
erster solcher Widerspruch entsteht schon durch die Festlegung des Parlaments,
dass in jedem Fall nur ein Spitzenkandidat Kommissionspräsident werden dürfe.
Gegenüber der Praxis in nationalen Demokratien stellt dieses Prinzip eine
ungewöhnliche Verengung des Verhandlungsspielraums für die parlamentarische
Mehrheitsbildung dar. Zwar ist es auch auf nationaler Ebene gängig, dass
Parteien vor der Wahl Kandidaten für das Amt des Regierungschefs ernennen. Doch
wenn es dann unklare Mehrheitsverhältnisse gibt und es zu schwierigen
Koalitionsverhandlungen kommt, geht dieses Amt immer wieder auch an
Nicht-Spitzenkandidaten. Zahlreiche Beispiele dafür bietet Italien, wo seit dem
Abtritt von Silvio Berlusconi (FI/EVP) 2011 bereits fünf verschiedene
Premierminister regierten, von denen kein einziger zuvor Spitzenkandidat bei
einer nationalen Wahl gewesen war.
Dass
das Europäische Parlament sich dennoch auf die künstliche Engführung festgelegt
hat, liegt natürlich an der latent destruktiven Haltung des Europäischen Rates.
Dessen formale Rolle bei der Ernennung des Kommissionschefs ist grundsätzlich mit
der eines nationalen Staatschefs zu vergleichen, der ebenfalls oft ein
Vorschlagsrecht für das Amt des Regierungschefs hat.
Kommt
es auf nationaler Ebene zu schwierigen Mehrheitsverhältnissen, so versucht ein
Staatschef allerdings üblicherweise, als neutraler Schlichter zwischen den
Parteien zu vermitteln. Der Europäische Rat ist hingegen kein neutrales Organ,
sondern politisch zusammengesetzt (zudem mit etwas anderen Mehrheiten als das
Parlament). Er verfolgt deshalb seine eigene Agenda, und viele seiner Mitglieder
haben bis heute nicht akzeptiert, durch die Spitzenkandidaten in ihrem
Entscheidungsspielraum eingeschränkt zu werden. Die Festlegung darauf, dass nur ein Spitzenkandidat
Kommissionspräsident werden kann, war für das Parlament deshalb notwendig,
damit die Spitzenkandidaten überhaupt als
Anwärter für das Amt ernstgenommen werden.
Das Risiko der „Spitzenteams“
Daraus
ergibt sich allerdings sofort die durchaus
umstrittene Frage,
wer überhaupt als Spitzenkandidat gelten darf – konkret: ob Margrethe Vestager
(RV/ALDE), die nur eines von sieben Mitgliedern des liberalen „Spitzenteams“
war, als
Kommissionspräsidentin in Frage kommt. Zu einem gewissen Grad ist das zwar eine
bloße Scheindebatte: Ob Vestager als Spitzenkandidatin gilt, hängt letztlich
nur davon ab, ob eine Mehrheit im Parlament bereit ist, sie als solche
anzuerkennen.
Doch
haben die kritischen Einwände durchaus ihre Berechtigung: Wenn sich die ALDE-Strategie
durchsetzt, hätten auch die anderen Parteien einen Anreiz, künftig nicht mehr mit
einzelnen Spitzenkandidaten, sondern mit einem Spitzenteam anzutreten und
dadurch ihren Spielraum nach der Wahl zu erhöhen. Zugleich aber würde die
Spitzenkandidatennominierung dadurch an politischer Relevanz verlieren, und die
jüngsten Fortschritte in Sachen Transparenz und Öffentlichkeit wären wieder
dahin.
Reform 1: Gesamteuropäische
Listen
Eine
Lösung für dieses Problem hat die ALDE selbst im Angebot: Mit gesamteuropäischen Wahllisten, wie sie
im Europäischen
Parlament schon länger diskutiert und zuletzt besonders
prominent von Emmanuel Macron (LREM/ALDE-nah) gefordert wurden, hätte jede
europäische Partei automatisch genau einen Spitzenkandidaten: eben die Person,
die auf dem ersten Platz der transnationalen Wahlliste antritt. Zugleich wäre
die Existenz von Spitzenkandidaten mit gesamteuropäischen Listen unmittelbar im
Wahlrecht verankert, sodass das Überleben des Verfahrens auch dann nicht
gefährdet wäre, wenn einmal doch ein Nicht-Spitzenkandidat zum Kommissionspräsidenten
gewählt wird.
Und
auch sonst stellen gesamteuropäische Listen gewissermaßen eine logische
Fortsetzung des Spitzenkandidatenverfahrens dar: Dessen wichtigste Vorteile wie
der Bedeutungs- und Sichtbarkeitsgewinn der europäischen Parteien, die größere
Relevanz länderübergreifender Netzwerke und die stärker supranationale
Ausrichtung des politischen Personals würden mit
transnationalen Listen weiter vorangetrieben. Dass sich im Ringen um die
Spitzenkandidaten inzwischen auch die deutsche
CDU (EVP) für gesamteuropäische Listen geöffnet hat, ist deshalb eine
sehr positive Entwicklung.
Nur ein Kommissionsmitglied
von 28
Wenn
man es mit der Parlamentarisierung der Europäischen Kommission ernst meint, sind
Spitzenkandidaten und gesamteuropäische Wahllisten allerdings weiterhin nicht
genug. Denn der Präsident ist schließlich nur eines von 28 Kommissionsmitgliedern,
und auch wenn Art. 17 Abs. 6 EUV ihm eine
Leitlinienkompetenz zugesteht, fallen Beschlüsse der Kommission nach Art. 250 AEUV grundsätzlich im
Kollegialprinzip, wobei alle Mitglieder gleichberechtigt sind. Um die
politische Ausrichtung der Kommission tatsächlich an das Europäische Parlament
zu binden, müsste deshalb nicht nur der Kommissionspräsident, sondern auch der
Rest der Kommission von einer Mehrheit im Parlament abhängig sein.
Tatsächlich
gilt nach Art. 17 Abs. 7 EUV schon heute, dass
die Kommission nur nach Zustimmung des Parlaments ins Amt kommen kann. Ganz
ähnlich wie beim Kommissionspräsidenten wird auch die Liste der übrigen
Kommissare vom Rat vorgeschlagen und dann vom Parlament gewählt.
In
der politischen Praxis nimmt das Parlament hier bislang allerdings nur geringen
Einfluss: In den allermeisten Fällen bestätigt es schlicht die Vorschläge der
nationalen Regierungen; nach den letzten Europawahlen wurden jeweils nur
einzelne vorgeschlagene Kommissare zurückgewiesen. Und selbst in diesen Fällen
erhielten die nationalen Regierungen jeweils die Chance zu einem
Alternativvorschlag. Versuche des
Parlaments, stattdessen eigene Kandidaten zu lancieren, blieben zaghaft
und erfolglos.
Reform 2: Wahl der gesamten
Kommission durch das Parlament
Infolgedessen
spiegelt die parteipolitische Zusammensetzung der Europäischen Kommission auch nicht die
Mehrheiten im Europäischen Parlament wider. Wer Kommissar werden will,
braucht dafür vor allem Rückhalt bei seiner nationalen Regierung, nicht in
seiner europäischen Partei – ganz so wie die Kommissionspräsidenten in der Zeit
vor dem Spitzenkandidatenverfahren. Das schwächt nicht nur das Europäische
Parlament und die europäischen Parteien, sondern nimmt auch der
Europawahl einen guten Teil der politischen Bedeutung, die nationale Wahlen
besitzen.
Um
die parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene voranzutreiben, wäre
deshalb die Wahl der Kommission allein
durch das Europäische Parlament ein wichtiger nächster
Reformschritt.
Diese Reform wäre gegebenenfalls auch ohne eine formale Vertragsänderung
möglich. So wie das Spitzenkandidatenverfahren ist sie lediglich eine Frage der
politischen Praxis: Würden die europäischen Parteien außer den
Spitzenkandidaten künftig auch eine
Art Schattenkabinett nominieren (also Kandidaten für jedes einzelne
Ressort, das in der Kommission zu vergeben ist), so könnte das das
Vorschlagsrecht des Rates zur bloßen Formalie machen – vorausgesetzt natürlich,
die europäischen Parteien und das Parlament hätten den öffentlichen Rückhalt,
um diese Veränderung gegenüber den nationalen Regierungen durchzusetzen.
Reform 3: Ein konstruktives Misstrauensvotum
Ein
weiteres Hemmnis für eine die Parlamentarisierung der Europäischen Kommission
betrifft die zeitliche Dimension. Durch das Spitzenkandidatenverfahren (und
gegebenenfalls durch die Wahl der übrigen Kommissionsmitglieder) hat die Parlamentsmehrheit
zwar die Möglichkeit, die Kommission am Anfang der Wahlperiode auf ihre Agenda
zu verpflichten. Wenn die Kommission später davon abweicht, etwa indem sie vom
Parlament gewünschte Gesetzgebungsvorschläge einfach nicht einbringt, so haben
die Abgeordneten kaum Möglichkeiten, dies zu sanktionieren: Nach Art. 234 AEUV kann die
Kommission nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament zum Rücktritt
gezwungen werden. Und wenn es dazu kommt, so ist es nach dem Verfahren in Art. 17 Abs. 7 EUV wiederum der
Europäische Rat, der einen neuen Kommissionspräsidenten vorschlägt.
Für
eine volle parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission ist deshalb eine Reform des Misstrauensvotums im
Europäischen Parlament notwendig. Wie in anderen parlamentarischen
Demokratien sollte die Kommission bereits dann zurücktreten müssen, wenn sie
von einer absoluten Mehrheit im Parlament abgelehnt wird. Gleichzeitig sollte
ein solches Misstrauensvotum konstruktiv sein – das Parlament also das Recht
und die Pflicht bekommen, mit dem Sturz des alten Kommissionspräsidenten zugleich
einen neuen zu wählen.
Mit
einer solchen Regelung wäre die Kommission dauerhaft und direkt auf das
Vertrauen einer Mehrheit im Europäischen Parlament angewiesen, so wie das auch
in den parlamentarischen Demokratien der meisten EU-Mitgliedstaaten der Fall
ist. Zugleich würde dadurch das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates bei der
Wahl des Kommissionspräsidenten endgültig zur Formalie, da das Parlament über
ein konstruktives Misstrauensvotum jederzeit seinen eigenen Kandidaten ins Amt
bringen könnte.
Die ewige GroKo setzt
Fehlanreize für Spitzenkandidaten
Mit
diesen drei Reformen wäre eine sehr enge Verbindung zwischen Parlamentsmehrheit
und Exekutive hergestellt – so wie sie auch in anderen parlamentarischen
Demokratien üblich ist. Dennoch bliebe noch ein wichtiger Faktor übrig, der im
Zusammenhang mit dem Spitzenkandidatenverfahren für Probleme sorgt: die faktische
Unvermeidbarkeit einer permanenten Großen Koalition auf europäischer Ebene.
Dass
auf europäischer Ebene bislang kein Weg an einer Zusammenarbeit der größten
Parteien (EVP, SPE, ALDE) vorbeiführt, reduziert
nicht nur die Relevanz der Europawahl als demokratische Richtungsentscheidung,
sondern führt auch im Kontext des Spitzenkandidatenverfahrens zu
problematischen Anreizen: Da alle drei Parteien wissen, dass sie ohnehin keine
Alternative zur Zusammenarbeit haben, spielt die Koalitionsfähigkeit auch bei
der Auswahl des Spitzenkandidaten nur eine untergeordnete Rolle.
Deutlich
wurde dies zuletzt bei der Nominierung des EVP-Kandidaten Manfred Weber: Dieser
war innerparteilich sehr
geschickt darin, Brücken zwischen dem liberalen und dem rechten Flügel zu bauen;
bei den anderen Fraktionen stieß er jedoch von
Beginn an auf massive Ablehnung. Allerdings hielt das die EVP nicht davon ab,
ihn trotzdem zu aufzustellen – offenbar in der Erwartung, die anderen
Fraktionen würden sich nach der Wahl schon in die Personalie fügen, um das
Spitzenkandidatenverfahren als solches zu retten. Dass das bislang nicht
eingetreten ist, sondern Sozialdemokraten und Liberale bei ihrer Ablehnung
Webers geblieben sind, ist ein wesentlicher Grund für die derzeitige „Spitzenkandidaten-Krise“.
Reform 4: Weniger Blockademöglichkeiten im Rat
Aber
wie ließe sich das ändern? Die Unvermeidbarkeit der Großen Koalition liegt zum
Teil am Wahlverhalten der europäischen Bürger, die sich ein sehr heterogenes
Parlament mit derzeit sieben Fraktionen und zahlreichen europafeindlichen
Systemoppositionellen gewählt haben. Zum wesentlichen Teil ist es aber auch
eine Folge des institutionellen Aufbaus der EU. Denn das Parlament ist bei der
Gesetzgebung stets auch auf die Zustimmung des Ministerrats angewiesen, der nicht
mit einfacher, sondern mit qualifizierter
Mehrheit entscheidet – und jede der drei großen Parteien ist an genügend Regierungen
beteiligt, um eine Sperrminorität zu bilden. Auch wenn im Rat in der Regel
nicht strikt nach Parteilinie abgestimmt wird, ist eine stabile Mehrheit ohne
oder gegen eine der großen Parteien nahezu ausgeschlossen.
Will
man auf europäischer Ebene stabile alternative Mehrheiten jenseits der Großen
Koalition ermöglichen, so führt der Weg deshalb über einen Abbau von Blockademöglichkeiten des Ministerrats in der Gesetzgebung
– etwa indem dort die Mehrheitserfordernisse abgesenkt werden oder, noch
effektiver, indem das Parlament in bestimmten Politikfelder künftig ganz ohne Beteiligung
des Rats entscheiden kann. Ein Vorbild dafür kann
die deutsche Föderalismusreform von 2006 sein, bei der ebenfalls die
Mitspracherechte des Bundesrats reduziert wurden, um dem parteipolitischen
Wechselspiel im Bundestag bessere Geltung zu verleihen.
Spitzenkandidaten sind gut, aber genügen nicht
Gesamteuropäische
Wahllisten, eine Wahl der Kommission allein durch das Parlament, ein
konstruktives Misstrauensvotum und eine Entmachtung des Ministerrats bei der
Gesetzgebung: Es sind noch viele und zweifellos dicke Bretter zu bohren, bis
die Parlamentarisierung der Europäischen Kommission vollendet ist. Das Spitzenkandidatenverfahren
war dabei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Für sich allein ist
es aber noch nicht genug – und wird aufgrund seiner inhärenten Widersprüche und
Fehlanreize immer umstritten bleiben, solange es nicht um weitere Reformen
ergänzt wird.
Unabhängig
davon, wie der aktuelle Tobjobs-Poker in den nächsten Tagen ausgeht: Es
ist an der Zeit, uns nicht mehr nur am Spitzenkandidaten-Verfahren abzuarbeiten, sondern beim Aufbau einer parlamentarischen Demokratie auf
europäischer Ebene die notwendigen nächsten Schritte zu tun.
Wie weiter mit den Spitzenkandidaten?
1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen
1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen
Bild: European Union 2019 – Source: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr.