- Viktor Orbán hat die ungarische Parlamentswahl gewonnen und will jetzt „die EVP erneuern“. In der Partei verstehen das viele als Drohung.
Am
vergangenen Montag, dem 25. Juni, sprach sich der Rechtsausschuss des
Europäischen Parlaments dafür aus, ein
Artikel-7-Verfahren gegen die ungarische Regierung unter Viktor Orbán
(Fidesz/EVP) einzuleiten. Diese Nachricht ist für sich allein
noch nicht allzu aufregend: Die Abstimmung im Ausschuss war nur der
erste Schritt, damit im Herbst auch das Plenum des Parlaments mit der
Angelegenheit befasst. Sollte dort die erforderliche
Zweidrittelmehrheit zustande kommen, ginge die Sache an den
Ministerrat. Dort wiederum wäre eine Mehrheit von vier Fünfteln der
Mitgliedstaaten notwendig, um tatsächlich einen Beschluss fassen zu
können. Und dieser Beschluss würde nach Art.
7 Abs. 1 EUV lediglich „feststellen, dass die eindeutige Gefahr
einer schwerwiegenden Verletzung“ der Werte der Europäischen Union
(wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit) besteht.
Um
wirklich handfeste Sanktionen gegen die ungarische Regierung zu
verhängen, wäre hingegen ein getrenntes Verfahren nach Art.
7 Abs. 2 EUV notwendig. Ein solches Verfahren kann das
Europäische Parlament jedoch nicht selbst einleiten. Außerdem hätte
darin jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht – wodurch sich die
Regierungen von Ungarn und Polen, wie sie einander
wiederholt zugesichert haben, wechselseitig decken könnten.
Die
EVP ist über Ungarn gespalten
Der
Beschluss des Rechtsausschusses war also in erster Linie ein
symbolischer Akt. Umso interessanter ist jedoch, wie
sich die unterschiedlichen europäischen Parteien und Fraktionen dazu
positionierten: Während Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und
Linke geschlossen für die Einleitung des Verfahrens stimmten,
stellten sich die drei Rechtsfraktionen EKR, EFDD und ENF sowie der
fraktionslose Abgeordnete der deutschen NPD nahezu geschlossen
dagegen. Lediglich das Mitglied der italienischen
Fünf-Sterne-Bewegung (die allerdings bereits ihren Abschied aus der
EFDD nach der kommenden Europawahl angekündigt hat) stimmte
ebenfalls für das Verfahren.
Den
Ausschlag gab die christdemokratisch-konservative Europäische
Volkspartei (EVP), der Viktor Orbáns Partei Fidesz selbst angehört
– und die genau in der Mitte gespalten war. Von den 17
EVP-Mitgliedern im Rechtsausschuss stimmten acht für das Verfahren,
neun dagegen. Auffälligerweise waren von den neun Gegnern nicht
weniger als sechs Fidesz-Parteimitglieder, darunter sogar einige, die
dem Rechtsausschuss eigentlich überhaupt nicht angehören. Offenbar
hatten mehrere EVP-Abgeordnete ihren Ausschusssitz an jenem Tag
lieber einem Fidesz-Mitglied überlassen, als selbst die
Verantwortung für diese Abstimmung zu übernehmen.
Der
rechte Flügel sieht Orbán als Vorbild
Die
Abstimmung über das Artikel-7-Verfahren kann als Sinnbild für die
großen Schwierigkeiten dienen, die
die Europäische Volkspartei mit ihrem ungarischen Mitglied hat.
Viktor Orbán spaltet die europäischen Christdemokraten: Während
der eher gemäßigt-liberale Teil der Partei, angeführt
von der niederländischen CDA, die Fidesz gerne ausschließen
würde, sehen andere, darunter
die bayrische CSU, in ihr ein Vorbild für die eigene Politik.
Dass
die Fidesz bei der ungarischen
Parlamentswahl Anfang April fast die Hälfte der Stimmen und mehr
als zwei Drittel der Sitze gewann, sieht der rechte Flügel der EVP
als Beweis, dass sich mit Orbáns Linie Erfolge erzielen lassen –
auch wenn internationale Beobachter die
Wahlen als „nicht fair“ bezeichneten, da die Regierung zuvor das Wahlrecht zu ihren Gunsten geändert und im Wahlkampf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowie steuerfinanzierte
Informationskampagnen für parteipolitische Zwecke missbraucht hatte.
Harte
Flüchtlingspolitik
Vor
allem aber sympathisiert ein wachsender Teil der EVP mit Viktor Orbáns
harter Flüchtlingspolitik. Nachdem im Jahr 2015
eine große Zahl von Asylbewerbern über Serbien nach Ungarn kam,
setzte die Fidesz konsequent darauf, die Außengrenze des Landes
möglichst vollständig abzuriegeln und möglichst wenige Flüchtlinge
aufzunehmen.
Die
Folge waren ein 175
Kilometer langer Stacheldrahtzaun sowie gefängnisartige
Lager im Grenzbereich. Migrantenfeindliche
Plakate sowie eine Betonung
der christlichen nationalen Identität sollen mögliche künftige
Flüchtlinge abschrecken und zugleich die einheimische Bevölkerung
hinter dem Regierungskurs vereinen. Als der EU-Ministerrat die
europaweite Umverteilung von Asylbewerbern beschloss, ging Ungarn
dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof vor – und weigerte
sich, das Urteil anzuerkennen, als der EuGH dem Ministerrat Recht
gab. Eine Verfassungsänderung, die die
„Ansiedlung fremder Bevölkerung“ in Ungarn verbietet, soll
offenbar juristisches Argumentationsmaterial liefern, falls es in Zukunft noch
einmal zu
einem verfassungsgerichtlichen Showdown kommt.
Abschottung
wird zur gemeinsamen Linie der EU
All
diese Maßnahmen führten zwar zu harscher Kritik im Rest der
Europäischen Union, aber eben auch dazu, dass seit Oktober 2015
nahezu überhaupt keine Flüchtlinge mehr neu in Ungarn ankommen. Für
den rechten Flügel der EVP – der neben Fidesz und CSU
beispielsweise auch die österreichische ÖVP, die französischen
Républicains und die slowenische SDS umfasst – gilt die
Kombination aus Abschottung und Abschreckung deshalb als
Erfolgsrezept. Auch die nationalen Interessenunterschiede, die
zwischen den EU-Staaten in Bezug auf die Reform der Dublin-Verordnung
bestehen, lassen sich dadurch scheinbar lösen: Denn wer müsste noch
über die Verteilung von Asylbewerbern streiten, wenn ohnehin keine
Flüchtlinge mehr die EU erreichen würden?
Tatsächlich
hat sich die Abschottungslogik im Lauf der letzten Jahre auch auf
Ebene der Staats- und Regierungschefs zunehmend durchgesetzt: Nach
den Beschlüssen
des Europäischen Rates von vergangener Woche will die EU für
Flüchtlinge „die Anreize, sich auf eine gefährliche Reise [über
das Mittelmeer] zu begeben, eliminieren“. Gerettete
Bootsflüchtlinge sollen in der EU künftig in geschlossenen Zentren
untergebracht werden, außerdem soll es Sammellager in
nordafrikanischen Staaten geben. Die Bewegungsfreiheit von
Asylbewerbern innerhalb der EU soll eingeschränkt werden, die
Überwachung der Außengrenze und der Kampf gegen illegale
Einwanderung noch höhere Priorität bekommen. Insgesamt, so scheint
es, ein voller Sieg für das Orbán-Lager.
Das „Stop-Soros“-Paket
Doch
die Fidesz ist schon wieder einen Schritt weiter: Am 20. Juni
verabschiedete
sie im ungarischen Parlament das sogenannte „Stop-Soros“-Gesetzespaket,
das die Unterstützung für illegal Eingewanderte durch
zivilgesellschaftliche Organisationen oder Einzelpersonen
kriminalisiert – wozu schon das Verteilen von Informationsmaterial
über das Asylverfahren zählen könnte. (Benannt ist das
Gesetzespaket nach George
Soros, dem ungarisch-amerikanischen Milliardär und
Bürgerrechtsaktivisten, dem Viktor Orbán unterstellt, durch die
Förderung der Flüchtlingsmigration die
ungarische nationale Identität zerstören zu wollen.)
Dass
die Fidesz in solch drastischer Form gegen die Arbeit der
Hilfsorganisationen vorgeht, ist nicht zuletzt für den
EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) ein Dilemma, der Viktor
Orbán in
den letzten Jahren immer wieder verteidigt hat. Auch Versuchen,
die Fidesz aus der EVP auszuschließen, erteilte Weber stets eine
Absage. Schließlich könne man Orbán innerhalb der Partei leichter
einbinden als außerhalb – und ohnehin habe sich der ungarische
Premierminister bis
jetzt noch
immer an die roten Linien gehalten, die die europäischen
Christdemokraten ihn auferlegt hätten.
Offene Brüskierung
Angesichts
des Ausmaßes, den der Abbau der ungarischen Demokratie inzwischen
erreicht hat, war dieses Argument schon bisher nicht allzu
überzeugend. Mit dem Stop-Soros-Paket entschied sich Orbán
nun jedoch dafür, die EVP-Führung offen zu brüskieren –
denn tatsächlich hatte Weber selbst Angriffe auf
zivilgesellschaftliche Organisationen erst im vergangenen Mai als
eine der „roten Linien“ bezeichnet, die die ungarische Regierung
nicht überschreiten dürfe.
Und
als ob die Provokation noch nicht deutlich genug wäre, hielt Orbán
am 16. Juni auch noch eine
Rede, in der er anlässlich des ersten Todestags von Helmut Kohl
(CDU/EVP) seine europapolitischen Vorstellungen darlegte – und
unverhohlen drohte, aus eigenem Antrieb aus der EVP auszutreten. Der
Fidesz, so Orbán, wäre es ein Leichtes, eine „gesamteuropäische
Anti-Einwanderungs-Formation zu gründen“, die „zweifellos großen
Erfolg bei der Europawahl 2019 hätte“. Stattdessen wolle er jedoch
die „schwierigere Aufgabe auf sich nehmen, die Europäische
Volkspartei zu erneuern und ihr zu helfen, den Weg zurück zu ihren
christdemokratischen Wurzeln zu finden“.
Die
Fidesz hilft der EVP, stärkste Fraktion zu bleiben
Wird
die Europäische Volkspartei entschlossen auf diese Provokationen
reagieren? Bis jetzt sieht es nicht danach aus – was an
verschiedenen Gründen liegen kann. Der eine, offensichtlichste sind
die Sitze, die die Fidesz der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament
bietet. Nach der aktuellen
Projektion für die Europawahl 2019 wäre die EVP zwar nicht
zwingend auf die Fidesz angewiesen, um im Europäischen Parlament
wieder die stärkste Fraktion zu werden: In den Umfragen beträgt der
Vorsprung auf die sozialdemokratische S&D-Fraktion rund 40 Sitze,
von denen die Fidesz nur 12 beisteuert.
Gefährlich
könnte es für die EVP allerdings werden, wenn die Fidesz bei einem
Austritt noch weitere Parteien des rechten Flügels mit sich zieht.
Insgesamt dürften die überzeugten Orbán-Freunde aus anderen
Mitgliedstaaten etwa 25 bis 30 Abgeordnete stellen. Und auch wenn es
sehr unwahrscheinlich ist, dass diese geschlossen die Fraktion
verlassen würden, könnte schon der Abgang eines Teils von ihnen der
führenden Position der EVP im Parlament ernsthaften Schaden zufügen.
Das
Rennen um die Spitzenkandidatur
Wenigstens
im Fall von Manfred Weber könnte zudem noch ein weiteres,
persönliches Interesse hinzukommen: nämlich seine voraussichtliche
Bewerbung als EVP-Spitzenkandidat bei der Europawahl 2019. Als
Favorit im parteiinternen Rennen gilt
zwar nach wie vor Michel Barnier (LR/EVP), früherer
Binnenmarkt-Kommissar und derzeitiger Brexit-Chefverhandler der EU.
Doch auch Weber werden ernsthafte Chancen eingeräumt, auf dem
Nominierungsparteitag
am 8. November zum Spitzenkandidaten der Partei und (angesichts
des großen Umfragenvorsprungs der EVP) damit letztlich wohl auch zum
neuen EU-Kommissionspräsident gekürt zu werden.
Es
sind dabei im Wesentlichen drei
Machtzentren innerhalb der EVP, über die Webers Weg zum Erfolg
führen müsste: Erstens die jüngere Generation, für die der
67-jährige Barnier zu sehr die alte Garde repräsentiert. Zweitens
die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP), nach wie vor
die mächtigste Einzelpolitikerin in der EVP, die Weber schon
wegen der gemeinsamen nationalen Herkunft nahestehen dürfte. Und
drittens eben der rechte Flügel, zu dem Weber seit jeher gute
Beziehungen pflegt.
Weder
Weber noch Barnier wollen die Eskalation
Im
EVP-internen Vorwahlkampf dürfte Weber deshalb versuchen, sich als
derjenige Kandidat darzustellen, der den rechten Flügel am besten
einbinden kann – ohne sich freilich so eng mit diesem
zusammenzutun, dass er dadurch für den gemäßigt-liberalen Teil der
Partei unwählbar würde. Einen entsprechenden Balanceakt zeigte
Weber in den vergangenen Tagen bereits im innerdeutschen
Unionsstreit, in dem er darauf
drängte, einen Bruch zwischen CDU und CSU zu vermeiden. Eine
Eskalation des Streits um Viktor Orbán liegt offensichtlich ebenfalls
nicht in Webers Interesse.
Michel
Barnier wiederum hat mit dem rechten Flügel der EVP wenig am Hut
(ebenso wie der dritte
wahrscheinliche Kandidat, der frühere finnische
Ministerpräsident Alexander Stubb, Kok./EVP). Doch auch ihm ist
wenigstens vorerst nicht an einer direkten Konfrontation gelegen.
Tatsächlich konzentriert Barnier sich bis jetzt öffentlich
ausschließlich auf seine derzeitige Haupttätigkeit, die
Brexit-Verhandlungen: Auch ein Treffen mit Viktor Orbán in Budapest
kreiste
Anfang Juni ausschließlich um die Folgen des britischen Austritts
aus der EU.
Die
Kontroverse lässt sich nicht dauerhaft umgehen
Doch
ob die EVP-Spitze das Thema wirklich bis zum 8. November unter den
Teppich kehren kann, ist fraglich – nicht zuletzt angesichts der
jüngsten Zuspitzung im Europäischen Parlament. Wenn der Druck des
liberalen Flügels, die Fidesz aus der EVP auszuschließen, weiter
wächst, könnten auch die Bewerber um die Spitzenkandidatur sich
gezwungen sehen, dazu offen Position zu beziehen. Viktor Orbán
wiederum hat in den vergangenen Wochen hinreichend deutlich gemacht,
dass er selbst sich auf der Siegerseite fühlt und nicht daran denkt,
sich zu zügeln.
Die
nächsten Monate könnten für die Europäische Volkspartei sehr spannend
werden.
Bild: By European People's party [CC BY 2.0], via Flickr.
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