31 Mai 2022

Noch zwei Jahre bis zur Europawahl 2024!

Blick von außen auf das Europäische Parlament in Straßburg
Drei Fünftel dieser Wahlperiode sind vorbei.

Die Zukunft kommt schneller, als man denkt – ebenso wie die nächste Europawahl, die in fast genau zwei Jahren stattfinden wird. Zum zehnten Mal seit 1979 werden dann die Wähler:innen an die Urnen gerufen, um zu entscheiden, wer in die einzige direkt gewählte Institution der EU einziehen soll. Nach dem großen Beteiligungsexperiment der Konferenz zur Zukunft Europas wird das der nächste wichtige Praxistest für die Demokratie auf europäischer Ebene sein. Auch wenn die Europawahlen in der Vergangenheit oft unter einer starken nationalen Fragmentierung und dem Ruf als „Nebenwahl“ gelitten haben, bleiben sie doch der zentrale Legitimationsakt, der allen europäischen Bürger:innen die Möglichkeit gibt, über den politischen Kurs der EU mitzubestimmen.

Politisch wirft die Wahl einen langen Schatten voraus. Wahlreformen werden diskutiert, Kandidat:innen wägen ihre Chancen. Und wie fast immer in der EU sind die interinstitutionellen Kämpfe nicht weniger wichtig als der parteipolitische Wettbewerb. Dieser Artikel gibt einen Überblick über den Stand der Dinge auf dem Weg ins Jahr 2024: Welche institutionellen Fragen sind in den nächsten zwei Jahren noch zu klären und was können wir von der Wahl erwarten?

Wann wird die Wahl stattfinden?

Das genaue Datum der Wahl steht noch nicht fest. Europawahlen finden über einen viertägigen Zeitraum von Donnerstag bis Sonntag statt, innerhalb dessen jeder Mitgliedstaat seinen eigenen Wahltag (oder Wahltage) bestimmen kann. Ursprünglich lag dieser Zeitraum Anfang Juni, was nach dem EU-Direktwahlakt immer noch die rechtliche Vorgabe ist. Allerdings kann der Rat den Termin bis zu einem Jahr vor der Wahl durch einen einstimmigen Beschluss auf einen beliebigen Zeitpunkt zwischen Anfang April und Anfang Juli verlegen. Seit 2014 ist es üblich, dass Europawahlen in der letzten Maiwoche stattfinden.

Innerhalb des Parlaments würden viele den Termin gerne noch weiter vorverlegen – zum Beispiel auf die Woche um den Europatag am 9. Mai. Diese Verschiebung hätte nicht nur symbolischen Wert, sondern würde auch den Zeitplan für die Ernennung der Europäischen Kommission im Sommer entspannen. Nach seiner konstituierenden Sitzung (die gemäß Direktwahlakt am ersten Dienstag des Monats nach der Wahl stattfindet) wählt das Europäische Parlament zunächst die vom Europäischen Rat nominierten Kommissionspräsident:in.

Anschließend schlagen die nationalen Regierungen die einzelnen Kommissionsmitglieder vor, unter denen die designierte Präsident:in die Ressorts verteilt. Die Ausschüsse des Parlaments führen dann Anhörungen durch, um die Qualifikation der vorgeschlagenen Kommissar:innen zu bewerten, und können die Ersetzung einzelner Kandidat:innen fordern. Schließlich findet im Parlamentsplenum eine Abstimmung statt, um das Kommissionskollegium offiziell zu wählen.

Warum der Zeitplan wichtig ist

Das gesamte Verfahren sollte vor Ablauf der fünfjährigen Amtszeit der vorherigen Kommission am 31. Oktober abgeschlossen sein – 2019 zog es sich jedoch bis Ende November hin. Der daraus resultierende Zeitmangel setzte das Europäische Parlament unter politischen Druck, eine Krise zu vermeiden und die vorgeschlagenen Kandidat:innen so schnell wie möglich zu bestätigen. Zudem scheiterte ein Versuch der vier großen Fraktionen, vor der Abstimmung über die Kommissionspräsidentschaft eine gemeinsame Gesetzgebungsagenda für die Wahlperiode aufzustellen, weil ihnen die Zeit fehlte, programmatische Differenzen zu überwinden.

Der Zeitpunkt der Wahl wirkt sich also auch auf das institutionelle Machtgleichgewicht zwischen dem Parlament und dem Europäischen Rat aus: Eine frühere Wahl würde den Einfluss des Parlaments sowohl auf die Zusammensetzung der nächsten Kommission als auch auf die Festlegung ihres Gesetzgebungsprogramms stärken.

Nach welchem Wahlrecht?

Hinsichtlich des Wahlrechts bestehen Europawahlen derzeit de facto aus 27 separaten nationalen Wahlen – mit festen Sitzkontingenten für jeden Mitgliedstaat, die von 6 für Malta, Zypern und Luxemburg bis zu 96 für Deutschland reichen. Der Direktwahlakt legt zwar einige allgemeine EU-weite Regeln für die Wahl fest (etwa dass die Sitze innerhalb jedes Wahlkreises proportional verteilt werden müssen), doch viele wichtige Aspekte (wie Anzahl und Größe der Wahlkreise, Wahlalter, Regeln für die Wahlkampffinanzierung, Sperrklauseln usw.) werden erst durch die nationalen Wahlgesetze der einzelnen Mitgliedstaaten bestimmt. Darüber hinaus führt die nationale Fragmentierung der Wahl dazu, dass die Kandidatenlisten in jedem Mitgliedstaat von den nationalen Parteien aufgestellt werden und in der Regel nur die Namen der nationalen Parteien auf dem Wahlzettel erscheinen.

Um diese Zersplitterung zu überwinden, drängen Europaabgeordnete seit langem auf ein neues europäisches Wahlrecht. Der Direktwahlakt wurde jedoch seit 2002 nicht mehr geändert – nicht zuletzt wegen des schwerfälligen Reformverfahrens, das dafür einen einstimmigen Ratsbeschluss benötigt, dem auch das Europäische Parlament zustimmen und der von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden muss. Derzeit gibt es zwei Reformvorschläge, die dieses Verfahren durchlaufen.

Zwei Wahlreformen im Entstehen

Erstens hat der Rat 2018 einstimmig einen Änderungsbeschluss verabschiedet, der unter anderem die größten Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, eine nationale Sperrklausel von mindestens 2 Prozent einzuführen. Diese Reform muss jedoch noch von Deutschland, Spanien und Zypern ratifiziert werden und könnte insbesondere in Deutschland auf verfassungsrechtliche Hindernisse stoßen, da das Bundesverfassungsgericht eine Sperrklausel für Europawahlen wiederholt abgelehnt hat. Und selbst wenn sie vor 2024 in Kraft treten sollte, würde die Verpflichtung zur Einführung einer nationalen Sperrklausel erst für die Wahlen im Jahr 2029 in Kraft treten.

Zweitens hat das Europäische Parlament Anfang Mai 2022 eine noch ehrgeizigere Reform des Direktwahlakts vorgeschlagen, die nun vom Rat diskutiert werden muss. Dieser Vorschlag sieht vor allem die Einführung eines neuen EU-weiten Wahlkreises mit 28 Sitzen vor, für den die europäischen Parteien transnationale Listen aufstellen würden. Weitere Reformelemente sind zum Beispiel neue Regeln für Geschlechterquoten auf den Wahllisten, ein gemeinsamer Wahltag am 9. Mai sowie eine Harmonisierung des Mindestwahlalters und der Briefwahlverfahren. Alles in allem würde dieses Reformpaket zwar nicht zu einem vollständig vereinheitlichten Wahlsystem führen, aber es wäre ein wichtiger Schritt zur „Europäisierung“ der Europawahlen.

Dass diese Reform, wie vom Parlament gewünscht, noch vor der Wahl 2024 umgesetzt wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Nach dem Wahlkodex des Europarats sollen im letzten Jahr vor einer Wahl keine grundsätzlichen Änderungen an den Wahlregeln mehr vorgenommen werden. Das reduziert den Zeitrahmen für eine Einigung auf Sommer 2023 – und im Rat sind viele Regierungen noch sehr zurückhaltend, die Reform zu unterstützen. Das wahrscheinlichste Szenario ist daher, dass für die Wahl 2024 dasselbe europäische Wahlrecht gilt wie 2019.

Werden die Europaparteien wieder Spitzenkandidat:innen aufstellen?

Nicht alle Änderungen des Wahlverfahrens erfordern jedoch eine rechtliche Reform. In der Praxis war die wichtigste Neuerung der letzten Jahre, dass die europäischen Parteien Spitzenkandidat:innen für die Kommissionspräsidentschaft nominierten. Bei den Europawahlen 2014 und 2019 wurde den Wähler:innen versprochen, dass die Wahl der Kommissionspräsident:in von den Wahlergebnissen abhängen würde.

Der Europäische Rat hat das neue Verfahren jedoch nie ganz akzeptiert, und nach der Wahl 2019 konnten die verschiedenen Fraktionen hinter keiner der Spitzenkandidat:innen eine Mehrheit bilden. In der Folge wurde Ursula von der Leyen, die im Vorfeld derWahlen nicht als Spitzenkandidatin angetreten war, zur Kommissionspräsidentin gewählt. Für einige Kommentator:innen galt das Spitzenkandidatenverfahren damals deshalb schon als „tot“.

Doch die großen europäischen Parteien haben das Verfahren niemals aufgegeben. Und da das Verfahren nicht gesetzlich verankert ist, sondern auf einer politischen Selbstverpflichtung der Parteien beruht, steht der erneuten Nominierung von Spitzenkandidat:innen nichts im Wege. Das institutionelle Tauziehen um das neue Verfahren dürfte also auch 2024 weitergehen – mit vielen Implikationen für die europäische Demokratie. Auch wenn die Spitzenkandidat:innen bisher nicht alle Erwartungen hinsichtlich öffentlicher Sichtbarkeit erfüllt haben, so haben sie doch die Dynamik der Europawahl verändert und ihre politische Bedeutung erhöht.

Vielleicht die erste kandidierende Amtsinhaberin

Wer genau als Spitzenkandidat:innen antreten könnte, bleibt bislang noch Spekulation. Eine besondere Situation könnte sich allerdings ergeben, wenn Ursula von der Leyen beschließt, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. In diesem Fall würde die Europäische Volkspartei (EVP) sie wahrscheinlich als Spitzenkandidatin nominieren. Es wäre das erste Mal, dass eine amtierende Kommissionspräsident:in öffentlich als Spitzenkandidat:in auftritt, was dem Verfahren zusätzliche Sichtbarkeit verleihen könnte.

Und sollte die EVP erneut stärkste Fraktion werden, würde sich der Europäische Rat wohl kaum gegen ihre Wiederwahl stellen. Das gilt auch für die Regierung ihres Heimatlandes Deutschland: Obwohl von der Leyens eigene Partei, die CDU, sich jetzt in der Opposition befindet, enthält der Koalitionsvertrag eine Klausel, die den Grünen das Recht einräumt, das deutsche Kommissionsmitglied zu nominieren, außer wenn die Kommissionspräsident:in aus Deutschland kommt – was Unterstützung für eine mögliche Wiedernominierung von der Leyens impliziert.

Wie stehen die Wahlumfragen?

Ob die EVP die Wahl wirklich gewinnen wird, ist allerdings noch völlig offen. Es gibt keine EU-weiten Wahlumfragen, aber mehrere Webseiten – Europe Elects, Politico und Der (europäische) Föderalist – veröffentlichen regelmäßig Sitzprojektionen für das Europäische Parlament, die auf nationalen Umfragen aus allen Mitgliedstaaten basieren. Trotz ihrer leicht unterschiedlichen Methoden weisen diese Sitzprojektionen alle darauf hin, dass der Vorsprung der EVP vor der sozialdemokratischen S&D-Fraktion schrumpft. Wenn das Rennen so knapp bleibt, könnte die S&D die Chance haben, zum ersten Mal seit 1999 wieder die stärkste Fraktion zu werden.

Seat projection, April 2022
Europawahl-Sitzprojektion, April 2022. Daten: D(e)F.

Allgemein sind allerdings sowohl die EVP als auch die S&D jetzt schwächer als 2019. Das folgt einem langfristig rückläufigen Trend der beiden größten Fraktionen in den letzten zwei, drei Jahrzehnten. Unter den anderen Fraktionen würden die Linke und die rechtskonservativen Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) Sitze gewinnen, die Grünen/Europäische Freie Allianz (G/EFA) Sitze verlieren. Die zentristisch-liberale Fraktion Renew Europe (RE) und die rechtsextreme Identität und Demokratie (ID) liegen in den Umfragen etwa auf der Höhe von 2019. Insgesamt würden die aktuellen Trends nicht zu einer grundlegenden Verschiebung des Gleichgewichts zwischen dem Mitte-Links- und dem Mitte-Rechts-Lager führen.

Europaskeptische Rechte bleiben uneinig

Die europaskeptischen Parteien könnten ihr gemeinsames Gewicht erneut erhöhen, sind aber weiterhin weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt. Da die extreme Rechte derzeit in zwei Fraktionen (ID und EKR) sowie mehrere fraktionslose Parteien zersplittert ist, gibt es seit Jahren Spekulationen über einen möglichen Zusammenschluss zu einer großen rechts-europaskeptischen Fraktion, die vor den Wahlen wieder aufleben könnten.

Allerdings scheiterten entsprechende Vorgespräche zwischen den Parteispitzen bereits im Jahr 2021 an internen Rivalitäten. Nachdem nun auch noch der Krieg in der Ukraine einen Keil zwischen die eher pro-russische ID (mit dem französischen RN, der italienischen Lega und anderen) und die eher anti-russische EKR (dominiert von der polnischen PiS) getrieben hat, sind die Aussichten auf eine einheitliche extreme Rechte eher noch gesunken. Auch wenn einige Abwerbungen und Fraktionswechsel einzelner nationaler Parteien zu erwarten sind, wird die europaskeptische Einheitsfront wohl auch 2024 ein Phantom bleiben.

Einige Newcomer-Parteien

Schließlich sind in mehreren Mitgliedstaaten – wie Polen, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Slowenien – in den letzten Jahren starke Newcomer-Parteien entstanden. Im Jahr 2024 werden viele von ihnen zum ersten Mal ins Europäische Parlament einziehen und versuchen, sich einer europäischen Parteienfamilie anzuschließen. Da diese neuen Parteien jedoch eine Vielzahl von Weltanschauungen über das gesamte politische Spektrum hinweg vertreten, ist es unwahrscheinlich, dass sie das Gleichgewicht zwischen den Fraktionen insgesamt stark verändern werden.

Natürlich sind diese Sitzprojektionen nur Momentaufnahmen der aktuellen politischen Stimmung in Europa. In den nächsten zwei Jahren können sich die Wahlumfragen noch erheblich in jede Richtung verschieben.

Wird die Wahlbeteiligung wieder steigen?

Ein weiteres wichtiges Thema für die Europawahl 2024 ist natürlich auch die Wahlbeteiligung und die Frage, wie die Wähler zur Stimmabgabe motiviert werden können. Bis 2014 war die EU-weite Wahlbeteiligung bei jeder Wahl stetig gesunken, was als eine zunehmende Enttäuschung und Distanzierung von den demokratischen Mechanismen auf EU-Ebene verstanden werden konnte. Ein deutlicher Anstieg der Wahlbeteiligung 2019 relativierte diese pessimistische Diagnose jedoch.

Voter turnout at EP elections
Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Die dicke Linie zeigt den EU-Durchschnitt, jede dünne Linie einen Mitgliedstaat. Grün: Deutschland, blau: Frankreich, rot: Vereinigtes Königreich. Daten: EP.

Betrachtet man die Entwicklung der Wahlbeteiligung in den einzelnen Mitgliedstaaten, war das Bild in Wirklichkeit allerdings nie so klar. Sowohl zwischen den Ländern und auch zwischen den Wahljahren innerhalb eines Landes variiert die Wahlbeteiligung stark. So ist ein erheblicher Teil des Rückgangs bis 2014 auf den Beitritt neuer Mitgliedstaaten mit eher niedriger Beteiligung zurückzuführen. Umgekehrt könnte die EU-weite Wahlbeteiligung aus ähnlichen statistischen Gründen beim nächsten Mal wieder ansteigen: 2024 wird die erste Wahl ohne das Vereinigte Königreich sein, das bei Europawahlen traditionell einen sehr hohen Anteil an Nichtwähler:innen aufwies. Selbst wenn die Wahlbeteiligung in allen anderen Mitgliedstaaten unverändert bliebe, würde der europäische Durchschnitt allein dadurch rechnerisch steigen.

Eine stärker politisierte EU

Aber natürlich spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Die relativ hohe Wahlbeteiligung im Jahr 2019 war das Ergebnis einer Kombination mehrerer Aspekte: gleichzeitig stattfindende nationale Wahlen in mehreren Mitgliedstaaten, eine intensive Sensibilisierungskampagne vor allem im größten Mitgliedstaat Deutschland, die weit verbreitete Angst vor einem Sieg rechter europaskeptischer Parteien nach dem Brexit-Referendum und den US-Wahlen 2016 sowie die allgemein zunehmende Politisierung und Polarisierung der Europapolitik seit der „Polykrise“.

Auch wenn einige dieser Faktoren nicht wiederholbar sein mögen, ist diese Politisierung der EU mit Sicherheit von Dauer. Im Vergleich zu den nationalen Parlamenten kann das Europäische Parlament nur sehr begrenzt die politische Agenda der EU setzen: Es hat in der Gesetzgebung nicht nur kein Initiativrecht (das liegt allein bei der Kommission), sondern muss sich auch noch über jeden Rechtsakt mit dem Rat einig werden. In der Vergangenheit haben sich die Parteien daher immer schwer getan, im Wahlkampf klare europapolitische Versprechen zu machen. Stattdessen konzentrierten sich ihre Kampagnen oft auf ihre allgemeine Haltung zur europäischen Integration – „für“ oder „gegen“ die EU – oder auf davon völlig losgelöste nationale Themen.

Kein Mangel an europäischen Wahlkampfthemen

Bei der Wahl 2024 wird an markanten europäischen Themen hingegen kein Mangel bestehen. Fragen wie die Rechtsstaatskrise, die Regeln zum Haushaltsdefizit, der „Europäische Grüne Deal“ oder die Krise des gemeinsamen Asylsystems sind nicht nur eine Sache für Brüsseler Expert:innen, sondern werden auch in der nationalen Öffentlichkeit diskutiert. Auch der Schutz der Außengrenzen sowie außen- und sicherheitspolitische Fragen wie der Krieg in der Ukraine werden zunehmend als europäische und nicht nur als nationale Angelegenheiten betrachtet.

Und schließlich hat auch die Konferenz zur Zukunft Europas ein umfangreiches Paket von Reformvorschlägen für viele Politikbereiche vorgelegt, die die Parteien in ihren Wahlkämpfen aufgreifen können. In Verbindung mit einem effektiveren Einsatz ihrer Spitzenkandidat:innen könnte dies die Wahlbeteiligung erhöhen, indem die Wahlen 2024 zu einem echten Wettbewerb um Lösungen für politische Fragen werden, die für alle europäischen Bürger:innen von Bedeutung sind.

Die Europawahl 2024 – sichtbarer als je zuvor?

Zwei Jahre vor der Europawahl sind noch viele Fragen offen, und viele interinstitutionelle Konflikte müssen noch geklärt werden. Auch wenn das Europäische Parlament vor kurzem eine bahnbrechende interne Einigung über gesamteuropäische Listen erzielt hat, ist es unwahrscheinlich, dass auch die nationalen Regierungen seinen Vorschläge zur Wahlrechtsreform bald mit der notwendigen Einstimmigkeit zustimmen werden. Und auch wenn die europäischen Parteien 2024 erneut Spitzenkandidat:innen aufstellen werden, wird deren tatsächliche politische Bedeutung wohl auch dieses Mal wieder erst nach den Wahlen feststehen. Falls sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer erneuten Kandidatur entschließt und der Abstand in den Umfragen weiter zurückgeht, kann die Europawahl zu einem spannenden Duell zwischen der EVP-Amtsinhaberin und einer sozialdemokratischen Herausforder:in werden. Doch wie schon 2019 wird es vielleicht ein langer Sommer, bis sich der Staub gelegt hat und eine neue Kommission vereidigt ist.

Klar scheint jedoch, dass die Europapolitik in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat und dass die europäischen Wähler:innen heute besser verstehen, was im Europäischen Parlament auf dem Spiel steht. Dies eröffnet die Chance auf einen Wahlkampf, in dem Themen von gemeinsamer Bedeutung eine wichtigere Rolle spielen könnten als je zuvor. Natürlich lässt nicht genau vorhersagen, welche Themen die öffentliche Debatte im Jahr 2024 bewegen werden. Aber es ist doch ziemlich sicher, dass die Europapolitik dann nicht weniger wichtig sein wird als heute.

Es wird also an den europäischen Parteien liegen, länderübergreifend gemeinsame Positionen zu erarbeiten und diese öffentlich sichtbar zu machen, um den Wähler:innen eine klare Entscheidung zwischen alternativen Politikvorschlägen zu ermöglichen. Wenn ihnen dies gelingt, kann die Europawahl 2024 ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer supranationalen Demokratie werden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch als Policy Brief für das Jacques Delors Centre.


Bilder: EP: Jorgen Henriksen [Unsplash-Lizenz], via Unsplash; Grafiken: eigene Grafiken.

Two years to go: What to expect from the 2024 European Parliament elections

External view of the European Parliament in Strasbourg
Three fifths of the current parliamentary term are over.

Tomorrow always comes sooner than you think – and so does the next European Parliament (EP) election, which will take place in almost exactly two years. For the tenth time since 1979, voters will be called to the polls to choose the members of the EU’s only directly-elected supranational institution. After the big participatory experiment of the Conference on the Future of Europe, this will be the next important practical test of democracy at the European level. While past EP elections have often suffered from strong national fragmentation and a reputation for being “second-order” votes, they are still the central legitimising act through which all European citizens can have a say in the political direction of the EU.

Politically, the election casts a long shadow. Electoral reforms are being discussed; candidates are pondering their chances. And as is almost always the case with EU elections, the inter-institutional struggles are no less important than the party-political competition. This policy brief looks ahead to 2024 and provides an overview of the state of play: What institutional questions remain to be solved over the next two years and what can we expect from the election?

When will the election take place?

The exact date of the election is not yet fixed. EP elections take place over a four-day period from Thursday to Sunday, within which each member state can determine its own election day (or days). Initially, this period took place in early June, which is still the legal default. However, the Direct Elections Act allows the Council to move the date to any time between early April and early July through a unanimous decision up to one year before the election. Since 2014, it has become customary for EP elections to take place during the last week of May.

Within the EP, many would like to bring the date even further forward – for example, to the week around Europe Day on May 9th. This shift would not only have symbolic value, but also relax the timeline for the appointment of the Commission during the summer. After its opening session (which according to the Direct Elections Act takes place on the first Tuesday of the month after the election), the EP first elects the Commission President nominated by the European Council.

Subsequently, each national government proposes a Commissioner, and the designated President distributes the portfolios among them. The EP committees then hold hearings to assess the qualifications of the proposed Commissioners and may request the replacement of some candidates. Finally, the EP plenary holds a vote to officially elect the College of Commissioners.

Timing matters

The entire procedure should be completed before the previous Commission’s five-year term of office ends on October 31st; in 2019, however, it dragged on until late November. The resulting time constraints put the EP under political pressure to avoid a crisis and approve the proposed candidates as quickly as possible. Additionally, an attempt of the four major parliamentary groups to set out a common legislative agenda before voting on the Commission presidency failed because they lacked time to overcome programmatic differences.

Thus, the timing of the election also affects the inter-institutional power balance between the EP and the European Council: an earlier election would strengthen the EP’s hand in both the composition of the next Commission and the definition of its legislative working programme.

By what electoral law?

Regarding the electoral system, the EP elections currently consist de facto of 27 separate national elections, in which each member state has a fixed seat contingent – ranging from six for Malta, Cyprus and Luxemburg to 96 for Germany. While the Direct Elections Act sets out some general EU-wide rules for the election (for example, the proportional allocation of seats within each constituency), many important aspects (such as the number and size of constituencies, the voting age, campaign financing rules, electoral thresholds, etc.) are determined by the national electoral laws of each member state. Moreover, the existence of national constituencies implies that the lists of candidates in each member state are drawn up by the national parties, and usually only the names of the national parties appear on the ballot paper.

In order to overcome this fragmentation, members of the European Parliament have long pushed for a new European electoral law. However, the Direct Elections Act has not been amended since 2002 – not least because its reform is a cumbersome procedure which requires a unanimous Council decision supported by the EP and ratified by all national parliaments. Currently, two reform proposals are on their way through the legislative process.

Two electoral reforms in the making

First, in 2018, the Council unanimously passed an amendment which, among other things, obliges the largest member states to have a national electoral threshold of at least 2 per cent of the votes. However, this reform is still to be ratified by Germany, Spain, and Cyprus, and might encounter constitutional obstacles particularly in Germany, where the Federal Constitutional Court has repeatedly rejected an electoral threshold for EP elections. And even if it were to enter into force before 2024, the obligation to have a national threshold would only come into effect for the 2029 elections.

Second, an even more ambitious reform of the Direct Elections Act was proposed by the EP in early May 2022 and will now be discussed by the Council. Most notably, this proposal includes the introduction of a new EU-wide constituency of 28 seats, for which European political parties would draw up transnational lists. Other reform elements are, for example, new rules for gender quotas on electoral lists and a common single voting day on May 9th, as well as a harmonisation of the minimum voting age and of postal voting procedures. All in all, this reform package would not result in a completely unified electoral system, but it would be an important step towards the “Europeanisation” of EP elections.

Still, although the EP would like to see the reform implemented before the 2024 election, it is unlikely that this will happen. According to the Council of Europe’s Code of Good Practice in Electoral Matters, electoral rules should not be changed less than one year before an election, which reduces the timeframe for an agreement to summer 2023 – and in the Council, many governments are still very reluctant to approve the reform. Thus, the most probable scenario is that the same European electoral law will apply for the elections in 2024 as in 2019.

Will the Europarties nominate lead candidates again?

Not all changes of the electoral procedure require a legal reform, however. In practice, the most important electoral innovation of recent years has been the nomination of lead candidates (Spitzenkandidaten) for the Commission presidency by the European political parties. In the 2014 and 2019 EP elections, voters were promised that the choice of Commission President would be determined by the electoral results.

Still, the European Council never quite accepted the new procedure, and after the 2019 election, the various parliamentary groups failed to form a majority behind any of the lead candidates. Consequently, Ursula von der Leyen, who had not been nominated as a Spitzenkandidat in the lead-up to the elections, was elected Commission President. This led some commentators to assume that the lead-candidates procedure was “dead”. But the major Europarties have not abandoned the approach.

Given that the procedure is not legally enshrined but rather based on a political commitment by the parties themselves, there is nothing that can prevent them from nominating lead candidates again. The institutional tug-of-war over the Spitzenkandidaten is therefore likely to continue in 2024 – with many implications for European democracy. Although the Spitzenkandidaten have so far not met all expectations in terms of public visibility, they have certainly changed the dynamic and increased the stakes of EP elections.

Von der Leyen could be the first running incumbent

The possible names of the lead candidates are still very much a matter of speculation. A special situation could arise if Ursula von der Leyen decides to run for a second term. In this case, the European People’s Party (EPP) would probably nominate her as the lead candidate. It would be the first time that an incumbent Commission President campaigns publicly as a Spitzenkandidat, which could give the procedure additional visibility.

And if the EPP were to become the strongest parliamentary group once again, the European Council would hardly oppose her re-election. This is certainly true for the government of her home country, Germany: although von der Leyen’s own party, the CDU, is now in opposition, the coalition agreement includes a clause that gives the Green party the right to nominate the German Commissioner unless the Commission President comes from Germany – thus implying support for von der Leyen’s possible re-nomination.

How are the election polls?

Whether the EPP will really win the election is still a wide-open question, however. There are no EU-wide electoral polls, but several websites – Europe Elects, Politico, and Der (europäische) Föderalist – regularly publish seat projections for the European Parliament based on national polls from all member states. Although these seat projections use slightly different methodologies, they all suggest that the EPP’s lead over the centre-left Socialists and Democrats (S&D) is dwindling. If the race remains this tight, the S&D could have a chance to recover the position as the strongest parliamentary group for the first time since 1999.

Seat projection, April 2022
EP seat projection, April 2022. Data: Der (europäische) Föderalist.

More generally speaking, both the EPP and the S&D are weaker now than in 2019, following a long-term trend of decline of the two largest parliamentary groups over the last two or three decades. Among the other groups, the Left and the right-wing European Conservatives and Reformists (ECR) would gain seats, while the Greens/European Free Alliance (G/EFA) would lose seats. The centrist Renew Europe (RE) and the far-right Identity and Democracy (ID) are polling at similar levels as in 2019. Overall, the current trends would not lead to fundamental changes in the balance between the centre-left and the centre-right camps.

Right-wing Eurosceptics remain disunited

Eurosceptic parties might once again increase their combined weight, but they continue to be very far from a parliamentary majority. Given that the far right is currently divided in two parliamentary groups (ID and ECR) as well as several non-attached parties, speculation about a possible merger into a big right-wing Eurosceptic group has been ongoing for years and might re-emerge again before the election.

However, preliminary talks among party leaders already failed in 2021 due to internal rivalries. Now that the war in Ukraine has driven a wedge between the more pro-Russian ID (with the French Rassemblement National, the Italian Lega, and others) and the more anti-Russian ECR (dominated by PiS from Poland), things do not look any more promising for a unified far right. While some poaching and switching of individual national parties can be expected, the Eurosceptic front will probably remain an elusive spectre in 2024 as well.

Newcomer parties

Finally, since the last EP election, strong newcomer parties have emerged in several member states – such as Poland, Romania, Bulgaria, Croatia, and Slovenia. In 2024, many of them will enter the EP for the first time and try to join a European party family. However, given that these newcomer parties represent a variety of ideologies across the entire political spectrum, they are unlikely to upset the overall balance between parliamentary groups.

Of course, seat projections are just snapshots of the current political mood in Europe. The electoral polls could still shift significantly in any direction over the next two years.

Will voter turnout increase again?

Another big question for the 2024 elections is voter turnout and how to incentivise voters to cast their ballots. Until 2014, EU-wide turnout had steadily declined in every election, suggesting an increasing disenchantment with and detachment from democratic mechanisms at the EU level. However, a sharp uptick in 2019 put this pessimistic diagnosis into perspective.

Voter turnout at EP elections
Voter turnout at EP elections. The bold line shows the EU average, every thin line a member state. Green: Germany, blue: France, red: UK. Data: EP.

But in fact, the development of voter turnout within single member states has never shown such a clear picture. Turnout varies strongly between countries, and also between election years within the same country. A significant part of the decline up to 2014 was due to the accession of new member states with rather low turnout numbers. Conversely, it is possible that in 2024 EU-wide voter turnout could rise again for similar statistical reasons: it will be the first election without the United Kingdom, which traditionally has had a very high share of non-voters in EP elections. This means that even if turnout remains unchanged in all other member states, the European average will mathematically increase.

A more politicised EU

But other factors play a role, too. The relatively high turnout in 2019 resulted from a combination of several elements: simultaneous national elections in several member states, an intense awareness campaign especially in the largest member state Germany, widespread scare of a victory for right-wing Eurosceptic parties after the Brexit referendum and the US election in 2016, and the generally increased politicisation and polarisation of EU affairs since the “polycrisis”.

While some of these factors might have been a one-off occurrence, the politicisation of the EU is certainly here to stay. Compared to national parliaments, the EP only has very limited agenda-setting power: it not only lacks a right of initiative (which lies solely with the Commission), but also needs to find agreements with the Council for the adoption of any legislative act. In the past, parties have therefore struggled to make clear promises on EU issues during the electoral campaign. Instead, campaigns have often focused on parties’ general positions towards European integration – “for” or “against” the EU – or on completely unrelated national issues.

No lack of European campaign issues

In the 2024 election, by contrast, there will be no lack of salient European issues. Topics like the rule of law crisis, the budget deficit rules, the European Green Deal, or the crisis of the common asylum system are not just a matter for Brussels-based experts but are being discussed in the national public arenas as well. Similarly, external border protection and issues of foreign and security policy like the war in Ukraine are increasingly seen as European rather than only national affairs.

Finally, the Conference on the Future of Europe has produced an extensive set of reform proposals in many policy areas which parties will be able to take up in their campaigns. Combined with a more effective use of their Spitzenkandidaten, this could increase voter turnout by turning the 2024 election into a real competition to find solutions for political questions that matter to all European citizens.

The EP election 2024 – more salient than ever?

Two years ahead of the EP election, many questions remain unanswered, and many inter-institutional disputes still need to be worked out. Although the European Parliament recently reached a ground-breaking internal agreement on transnational lists, it is unlikely that its proposals on electoral reform will soon find the necessary unanimity among national governments. Similarly, we can expect European parties to nominate lead candidates again in 2024, but it might once again be impossible to assess the real political significance of this procedure until after the elections. If Commission President Ursula von der Leyen decides to run again and the polls tighten further, the EP election may turn into an exciting duel between the EPP incumbent and a socialist challenger. But, as in 2019, it could be a long summer before the dust settles and a new Commission is sworn in.

One thing that seems clear, however, is that EU policy has steadily become more salient in recent years and that European voters today have a better understanding of what is at stake in the EP. This opens an opportunity for an electoral campaign in which topics of common relevance could play a more important role than ever before. Although it is of course impossible to anticipate which exact issues will shape the public debate in 2024, it is quite certain that EU policy will be no less important than it is today.

It will thus be up to the European parties to elaborate transnationally-shared positions and give them public visibility in order to allow voters a clear choice between alternative policy proposals. If they achieve this, the 2024 European Parliament election can be an important step forward on the road to supranational democracy.

This article was first published as a Policy Brief for the Jacques Delors Centre.


Pictures: EP: By Jorgen Henriksen [Unsplash license], via Unsplash; graphs: own graphs.

30 Mai 2022

Unter schlechten Europasternen: Spannende Ideen aus der Zukunftskonferenz – aber das Format ist heikel

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Bernd Hüttemann.
Statue von Asterix, auf einem Stein sitzend
„Machen wir uns nichts vor: Die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihr hochgestecktes Ziel nicht erreicht.“

Im Comic „Asterix auf Korsika“ lernen die Gallier eine besondere Art der Demokratie kennen: Dort füllen die rebellischen Korsen die Wahlurnen, versenken diese im Meer, und anschließend gewinnt der Stärkere im Kampf.

Ganz so schlimm ist das Projekt „EU-Zukunftskonferenz“ nicht gelaufen. Besonders das Ziel, zufällig ausgewählte Bürger:innen in Diskussion und Ergebnisse einzubringen, war einen Versuch wert – nicht zuletzt im Sinne der europapolitischen Bildungsarbeit. Die Ideen aus der Konferenz sind durchaus lesenswert. Aber als Vorbild für eine neue Form der europäischen Demokratie ist die Konferenz dennoch kaum geeignet.

Die konzeptlosen „Bürgerdialoge“ von 2018

Die Grundidee, Bürgerdialoge zur Zukunft Europas durchzuführen, ging zunächst von den Exekutiven und ihren Technokrat:innen aus. Ansätze, Europa „den Bürgern“ durch „Town-Hall-Meetings“ oder „Agoras“ näher zu bringen, gibt es schon lang. Bereits in den 80er Jahren nutzte die Europäische Kommission das Framing eines „Europas der Bürger“, um der damaligen Eurosklerose zu begegnen. In jüngster Zeit war es vor allem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der in seiner Sorbonne-Rede 2017 eine radikale Neugestaltung der EU durch Bürger:innen einforderte: Sie „müssen [die Zukunfts-]Debatte neugestalten, von der Basis aus, von unten, aus dem echten Leben“.

Ein Jahr später führten die EU und ihre Mitgliedstaaten unterschiedlichste nationale und EU-weite „Bürgerdialoge“ durch, allerdings nur halbherzig und mit aus Perspektive der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) wenig ermutigenden Ergebnissen. Vollkommen zusammenhanglose Dialoge wurden, auch in Deutschland, krampfhaft zusammengefasst und mangelhaft ausgewertet. In den meisten Mitgliedstaaten waren es bloße PR-Veranstaltungen für Regierungsvertreter:innen mit Bürger:innen.

Das konzeptlose Unterfangen war so unzureichend koordiniert, dass sich der Europäische Rat auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse nicht einigen konnte. Die österreichischen und rumänischen EU-Ratspräsidentschaften gaben schließlich einen Bericht heraus. Trotz des Versprechens der Staats- und Regierungsspitzen, die Ergebnisse der Bürgerdialoge in die Strategische Agenda für die EU 2019-2024 einfließen zu lassen, verfolgten die Mitgliedstaaten die Empfehlungen kaum weiter.

Misstrauen in die Parteiendemokratie

Präsident Macrons Wunsch nach einer bürgergetriebenen Reform ging von Anfang an einher mit seinem tiefen Misstrauen in die parlamentarische Parteien-Demokratie. Schließlich ist Frankreich eine Präsidialdemokratie, während die meisten anderen EU-Staaten repräsentative pluralistische Demokratien sind. Macrons gaullistische Grundeinstellung drückte sich auch in seiner Gegnerschaft zum parlamentarisch geprägten Spitzenkandidatenprinzip aus, das mit der Wahl Ursula von der Leyens bei der Europawahl 2019 auch und gerade an ihm scheiterte.

Aber Macron konnte seine Kandidatin nicht ohne das Europäische Parlament durchsetzen. Von der Leyen musste den Fraktionen des Parlaments deshalb einen ganzen Strauß von Versprechungen übergeben, um dann mit knappem Ergebnis gewählt zu werden. Eines dieser Versprechen war, eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu organisieren, die im Kern aus den in Art. 48 EUV genannten Institutionen bestand, aber eine starke Bürgerbeteiligung vorsah.

Das Ziel der Konferenz war jedoch von Anfang an unklar: Sollte die Zukunftskonferenz ein ergebnisorientierter Prozess sein, der Reformen – einschließlich EU-Vertragsänderungen – ausarbeiten würde? Oder nur wieder ein neuer Dialog, der öffentlichkeitswirksam die Bürgernähe der EU demonstriert?

Ein problematisches Demokratieverständnis

Doch das Dilemma der Zukunftskonferenz bestand nicht nur in dem unklaren Ziel. Problematisch war auch das Demokratieverständnis, das ihr zugrunde lag. So gehört es seit langem zum populistischen wie technokratischen Ton, dass die repräsentative Entscheidungsdemokratie in der Krise sei. Als sichtbarstes Beispiel wird die geringe Wahlbeteiligung in nationalen Parlamentswahlen genannt. Um dem entgegenzuwirken, wird propagiert, dass anstelle von Wahlen und parlamentarischen Prozessen mehr Partizipation, mehr öffentlicher Raum und mehr Diskurs im Mittelpunkt stehen müsse. Unter dem Habermas’schen Schlagwort einer „deliberativen Demokratie“ wird die parlamentarische Demokratie relativiert.

Eine sehr weitgehende Form der deliberativen Demokratie ist die Einführung einer „Lottokratie“ (Jan-Werner Müller), in der zufällig ausgewählte Bürger:innen anstelle von Gewählten über die Gesetzgebung entscheiden. Ein solches Modell kommt in der Praxis allerdings kaum vor. In der Regel werden Bürgerdialoge in Bürgerräten so konzipiert, dass sie lediglich Empfehlungen an die Repräsentant:innen eines Staates und/oder eines Parlamentes geben.

Wirkliche Vertragsreformen kann nur ein Konvent bringen

Auch das Design der Zukunftskonferenz vereinte letztlich mehrere Elemente: repräsentative Demokratie (mit den gewählten Vertreter:innen der Institutionen im Plenum der Konferenz), eine Online-Debattenplattform (die jedoch kaum genutzt wurde), zufällig ausgewählte europäische Bürgerräte (der innovativste Aspekt) sowie sonstige wild zusammengewürfelte Bürgerdiskussionen (das gescheiterte Modell von 2018). Diese Mischung der Formate sorgte für Verwirrung, was sich in den ersten Wochen der Zukunftskonferenz auch in schlecht vorbereiteten Plenar- und Ausschusssitzungen zeigte.

Zudem waren die von der Zukunftskonferenz erarbeiteten Vorschläge nicht bindend. Das einzige Verfahren, um die EU-Verträge wirklich zu ändern, bleibt die in Art. 48 EUV hinterlegte Konventsmethode.

Anders als vielfach beschrieben, ist diese ein Ausdruck repräsentativer Demokratie: Im Konvent versammeln sich Vertreter:innen von Parlamenten und Exekutiven, und seine Vorschläge können letztlich nur von einer Regierungskonferenz umgesetzt werden. Eine „Bürgergesellschaft“ kann zwar auch bei dieser Reformmethode eine große Rolle spielen, allerdings nicht in institutionalisierter Form, sondern nur durch öffentlichen Druck von außen.

Wer hatte Interesse am neuen Format?

Hätte daher nicht die Konventsmethode ausgereicht, wenn sie ohnehin das einzige Verfahren ist, um die Verträge zu ändern? Warum noch ein Bürgerbeteiligungsformat vorschalten, das den Prozess noch länger und ungewisser macht? Am Ende waren es ganz unterschiedliche Akteur:innen, die ein Interesse daran hatten:

  • Exekutiven, die ihr Handeln nur aus PR-Gründen am Bürgerwillen ausrichten: Wie schon 2018 konnten sie bürgerschaftlichen Aktionismus vortäuschen.
  • Fans der deliberativen Demokratie, auch in Wissenschaft und Medien: Ihnen geht es um die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit.
  • Fans einer marktkritischen „Zivilgesellschaft“, als bürgerschaftliches Antidot zu einer vermeintlich vorherrschenden „Wirtschaftslobby“.
  • Gegner:innen einer parlamentarischen Demokratie, normativ teils bei den Fans der deliberativen Demokratie, teils bei den Technokrat:innen der Exekutiven verortet. Ihr Ziel war die Schwächung des Europäischen Parlaments.
  • „Demokratie-Unternehmen“ und Interessengruppen, die sich professionell der Durchführung von Bürgerräten verschrieben haben. Unter ihnen werden Aufträge verteilt und Forschungsgelder in Aussicht gestellt.

Und was ist mit den Bürger:innen selbst? Damit das neue Format auch ihnen nutzt, hätte es eine breite Einbindung geben müssen. Dies wurde aber ebenso wenig erreicht wie die Schaffung einer breiten Öffentlichkeit. Kaum jemand nahm die Formate wahr. Am Ende drang die Zukunftskonferenz nur zu Europainteressierten und den wenigen glücklichen ausgelosten Beteiligten vor.

Und nun? Alles ist offen

Immerhin: Zuletzt gelang es der Zukunftskonferenz, Inhalte zu Papier zu bringen, auf die man sich in weiteren Debatten beziehen kann. Bei der Abschlussveranstaltung am 9. Mai in Straßburg wurde ein Bericht mit 49 Vorschlägen vorgelegt. Über deren Umsetzung sind die Mitgliedstaaten jedoch gespalten: Emmanuel Macron hat sich gleich am 9. Mai für Vertragsänderungen ausgesprochen. Bundeskanzler Olaf Scholz zögerte, folgte aber mit einem knappen Statement in seiner Regierungserklärung am 19. Mai. Ein Non-Paper, das Deutschland mit fünf weiteren Mitgliedstaaten im Mai unterzeichnet hat, nimmt diesen Ton auf: Vertragsänderungen sollten, soweit notwendig, in Betracht gezogen werden.

Bei 13 Mitgliedstaaten hat sich hingegen bereits Widerstand aufgebaut. Diese Gruppe aus nordischen wie auch mittel- und osteuropäischen Staaten stellte gleich zur Abschlusszeremonie der Zukunftskonferenz klar, dass sie Vertragsänderungen nicht mittragen werden. Mitunterzeichner sind auch Tschechien und Schweden, die nach dem reformwilligen Frankreich die nächsten EU-Ratspräsidentschaften innehaben werden.

Der Europäische Rat ist gespalten

Das Europäische Parlament hat unterdessen die Rolle des Antreibers übernommen und in einer Entschließung angekündigt, dass es bis zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungsspitzen im Juni einen Vorschlag für einen Europäischen Konvent vorlegen wird.

Die Mitgliedstaaten entscheiden dann mit einfacher Mehrheit und brauchen 14 Stimmen aus ihren Reihen, die den Weg zu einem Konvent mitgehen wollen. Das könnte mehr als knapp werden. Selbst wenn es gelingen sollte, den Konvent einzuberufen, bleibt die Frage, ob die EU den weitreichenden Prozess von Vertragsänderungen, die einstimmig beschlossen und in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssten, mit einer hauchdünnen Mehrheit beginnen möchte.

Nicht nur auf den Konvent fokussieren

In dieser Phase sollten sich die EU-Institutionen nicht allein auf die Einberufung eines Konvents fokussieren, sondern alle Optionen zur Umsetzung der 49 Vorschläge im Blick nehmen. Dies schließt zum Beispiel auch die Anwendung der Passerelle-Klausel ein, die u.a. in Artikel 48 (7) EUV verankert ist. Durch diese „Brückenregel“ können die Staats- und Regierungsspitzen selbst die Abschaffung von Einstimmigkeitsregeln im Rat für Auswärtige Angelegenheiten durchsetzen und damit die EU zu einer handlungsfähigen außenpolitischen Akteurin aufwerten.

Das Europäische Parlament forderte bereits im „Bresso-Brok-Bericht“ von 2017 eine gezieltere Anwendung der Brückenklausel und auch der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wies 2018 in seiner Rede zur Lage der Union auf das schlafende Potenzial dieser Regelung hin. Genutzt wurde sie jedoch seither nicht.

Passerelle-Klausel und Wahlrechtsreform

Darüber hinaus sind zahlreiche Vorschläge der Zukunftskonferenz auch über einfache EU-Rechtsakte direkt umsetzbar: Die prominent geforderte Wahlrechtsreform, die aus den verschiedenen nationalen Wahlen eine kohärente Europawahl mit gleichem Wahleintrittsalter, Wahldatum und transnationalen Listen machen soll, hat das Europaparlament erst Anfang Mai vorgeschlagen. Nun liegt dieser Vorschlag im Rat.

Das Problem bei beiden Vorschlägen – der Anwendung der Passerelle-Klausel wie auch der Wahlrechtsreform – ist, dass die Mitgliedstaaten darüber einstimmig entscheiden müssten. Auch hierfür müssten die reformwilligen Mitgliedstaaten also bereit sein, politisches Kapital zu investieren.

Der größte „Bürgerdialog“ der EU ist die Europawahl

Zudem sollten die europäischen Parteienfamilien die Vorschläge in ihre Wahlprogramme zur Europawahl 2024 aufnehmen. Europaabgeordnete und insbesondere die Spitzenkandidierenden müssten dann ein Versprechen abgeben, ob und welche Vorschläge sie bei einer Wahl umsetzen möchten. Denn der größte verbindliche europäische Bürgerdialog findet alle fünf Jahre mit der Europawahl statt.

Russlands Aggression könnte dafür sorgen, dass 2024 die Menschen noch enger hinter den europäischen Institutionen stehen, was die junge europäische Parlamentsdemokratie nochmals stärken wird. Auch dürfte das 2019 gescheiterte Spitzenkandidatensystem wieder auferstehen. Denn wahrscheinlich wird sich Ursula von der Leyen von der Europäischen Volkspartei (EVP) zur Spitzenkandidatin küren lassen. Diese Entscheidung wird mit Gegenkandidaturen und Wahlkampf-Polemik garniert nochmals die Aufmerksamkeit steigern.

Nun geht es um die Stärkung der parlamentarischen Demokratie

Wenn der frühere liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt nun aber fordert, die EU-Zukunftskonferenz künftig regelmäßig zu wiederholen, kann man dazu nur sagen: Bitte nicht! Denn machen wir uns nichts vor: Die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihr hochgestecktes Ziel nicht erreicht. Zwar hat sie durchaus lesenswerte Ergebnisse hervorgebracht. Aber sie wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und hat auch die Reformblockade im Europäischen Rat nicht überwinden können. Die gleiche Übung alle fünf Jahre neu zu veranstalten, wäre Zeit- und Ressourcenverschwendung.

Eine pluralistische Demokratie braucht öffentlichen Raum und Beteiligungsformate. Aber vor allem lebt sie von Repräsentativität und gewählten Verantwortungsträger:innen. Nur wenn verlässliche Entscheidungsstrukturen gestärkt werden, wird den Bürger:innen klar, dass sie bei ihrer Stimmabgabe zum Europäischen Parlament tatsächlich eine europäische Entscheidungswahl haben. Hierauf sollte die institutionelle Agenda der EU in den nächsten Jahren gerichtet sein.

Portrait Bernd Hüttemann

Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) sowie Lehrbeauftragter an der Universität Passau. Dieser Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.




Bilder: Asterix-Statue: Martin Lewison [CC BY-SA 2.0], via Flickr; Porträt Bernd Hüttemann: Mathias Bothor [alle Rechte vorbehalten].

23 Mai 2022

Wann, wenn nicht jetzt? Die EU-Zukunftskonferenz ist eine Chance für die Bundesregierung – sie muss sie nutzen

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Thu Nguyen und Nils Redeker.
Olaf Scholz auf einem Bildschirm
„Will die Bundesregierung ihren eigenen europapolitischen Ansprüchen gerecht werden, kann sie bei der anstehenden Debatte nicht bloß gutmütig am Rand rumstehen.“

In der EU wird es gerade grundsätzlich. Mit einigem Pomp und Pathos wurde die Konferenz zur Zukunft Europas am 9. Mai offiziell beendet. Ein Jahr lang hatten 800 zufällig ausgewählte Bürger:innen über notwendige Reformen der EU diskutiert. Jetzt fordern sie teils tiefgreifende Veränderungen wie das Ende des Einstimmigkeitsprinzips in der gemeinsamen Außenpolitik, mehr finanzielle Mittel für die EU und eine stärkere Rolle für das Europäische Parlament.

Der Konferenz ist es damit gelungen, eine Diskussion anzustoßen. Das Europäische Parlament möchte zur Umsetzung der Ideen der Bürger:innen einen verfassungsgebenden Konvent einberufen. Der italienische Ministerpräsident hat Teilen der Agenda bereits seine Unterstützung zugesagt. Emmanuel Macron, auf dessen Bestreben die Konferenz vor einem Jahr ins Leben gerufen wurde, unterstützt Vertragsänderungen ebenfalls. Und auch der deutsche Kanzler hat grundsätzliche Offenheit signalisiert.

Vom Feuerwerk zum Strohfeuer?

Zugegeben, gerade spricht vieles dafür, dass dieses Feuerwerk als Strohfeuer enden könnte. Die Konferenz stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Wegen Pandemie und Machtgerangel zwischen den europäischen Institutionen konnte das Projekt lange nicht starten und wurde schließlich von zwei Jahren auf zwölf Monate zusammengekürzt. Schon im März 2021, also noch vor ihrem offiziellen Start, gaben zwölf Mitgliedstaaten zu Protokoll, sich auf keinen Fall an die Ergebnisse der Konferenz binden zu wollen. Danach dümpelte die Konferenz überschattet von Pandemie und Krieg weitestgehend unterhalb des öffentlichen Radars.

Jetzt, am Ende der Konferenz, regt sich erneut Widerstand – schon am 9. Mai haben dreizehn Mitgliedstaaten sich explizit gegen Vertragsreformen ausgesprochen. Keine gute Ausgangslage also, könnte man meinen, zumal sich angesichts der geopolitischen Lage viele fragen mögen, ob es für die EU gerade nicht dringlichere Aufgaben gibt, als basisdemokratische Grundsatzexperimente umzusetzen.

Der Krieg zeigt, wie dringend die EU Reformen braucht

Dennoch wäre es ein Fehler, die Ergebnisse der Konferenz jetzt bloß zur Stoffsammlung für die europapolitischen Sonntagsreden kommender Jahre zu erklären. Denn erstens zeigt der russische Angriffskrieg, wie dringend die EU Reformen benötigt, um handlungsfähig zu sein: Umfassende Sanktionen gegenüber Russland scheitern aktuell am Veto einzelner Mitgliedstaaten.

Um unabhängig von russischen Energieexporten zu werden, bräuchte die EU gemeinsame Investitionen in Infrastruktur und Energiewirtschaft. Dafür fehlt es auf europäischer Ebene aber weiterhin an Geld. Und man muss kein Militärstratege sein, um zu erkennen, dass das parallele Aufrüsten von 27 Mitgliedstaaten finanzielle Mittel verschwendet und zu logistischen Problemen führt. Keines dieser Probleme ist neu. Die Konferenz legt den Finger aber in Wunden, die aktuell ganz besonders schmerzen.

Günstige Rahmenbedingungen

Und zweitens waren die Rahmenbedingungen für Reformschritte schon lange nicht mehr so günstig. In Frankreich wurde mit Emmanuel Macron gerade ein Präsident im Amt bestätigt, dessen politisches Selbstverständnis auch an seinen europapolitischen Erfolgen hängt.

In Italien regiert der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank mit klar europafreundlichem Kurs und hat der EU-skeptischen Konkurrenz damit vorerst den Wind aus den Segeln genommen. Die letzten Wahlergebnisse in Tschechien und Slowenien, der klar integrationsfreundlichere Kurs der neuen niederländischen Regierung und die zunehmende Isolierung Viktor Orbáns zeigen alle, dass europapolitisch gerade wirklich etwas gehen könnte.

Die Bundesregierung muss jetzt ihr Gewicht nutzen

Trotz aller Schwächen öffnet die Konferenz daher eine Reihe von Türen. Die Bundesregierung sollte den Mut haben, durch diese nun auch zu gehen.

Zwei Dinge sind dafür notwendig: Erstens braucht die EU Vertragsänderungen. Wirkliche Handlungsfähigkeit in der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik oder ein Initiativrecht für das Europäische Parlament sind ohne sie nicht umzusetzen. Mit dem geforderten Konvent und der Unterstützung des französischen Präsidenten, bietet sich nach Jahren des Stillstands nun endlich eine Gelegenheit, hierbei voranzukommen.

Bisher hat der deutsche Bundeskanzler in Reaktion auf die Konferenz lediglich angekündigt, bei Vertragsänderungen nicht auf der Bremse stehen zu wollen. Das wird nicht reichen. Alle regierenden Parteien fordern solche Änderungen seit Langem. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag haben sie beschlossen, aktiv auf sie hinzuarbeiten. Will die Bundesregierung ihren eigenen europapolitischen Ansprüchen gerecht werden, kann sie bei der anstehenden Debatte deshalb nicht bloß gutmütig am Rand rumstehen. Meint die Ampel es ernst mit Europa, dann muss sie ihr Gewicht jetzt dafür nutzen, Skeptiker:innen in anderen Mitgliedstaaten an Bord zu holen.

Reformen schnell umsetzen

Zweitens: So wichtig diese Vertragsänderungen sind, so klar ist auch, dass sie dauern werden. Das birgt die Gefahr, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten sich hinter Grundsatzdebatten verstecken und kurzfristig nichts Konkretes ändern. Das darf nicht passieren. Die Bundesregierung sollte daher parallel zum Konvent damit beginnen, aus den Vorschlägen der Zukunftskonferenz eine konstruktive Agenda für den Kontinent zu entwickeln. Und zwar eine, die sich schon jetzt unterhalb der Schwelle von Vertragsänderungen umsetzen lässt. Ansatzpunkte dafür gibt es zu genüge.

So scheiterte eine bessere finanzielle Ausstattung des EU-Haushalts in den letzten Jahren nicht an den Verträgen, sondern vor allem am Widerstand der Mitgliedstaaten, nicht zuletzt auch dem von Deutschland. Angesichts der aktuell dringend notwendigen Investitionen ließen sich Mittel mit dem nötigen politischen Willen schnell aufbringen. Ebenso ist eine Stärkung der europäischen Demokratie durch eine Reform des EU-Wahlrechts und der Einführung transnationaler Listen, wie sie auch durch die Konferenz gefordert wird, bereits im Gange. Sie wurde Anfang Mai durch das Europaparlament verabschiedet. Nun liegt es maßgeblich an den nationalen Regierungen, die Reformen mitzutragen und umzusetzen. Schließlich ließen sich auch die sicherheitspolitischen Kapazitäten des Kontinents durch gemeinsame militärische Projekte und Beschaffung auch vor Vertragsänderungen stärken.

Zeit ist ein entscheidender Faktor

Drei Jahre Corona Pandemie und Wirtschaftskrise sowie der Angriffskrieg gegen die Ukraine haben gezeigt, wie viel von einer handlungsfähigen EU abhängt. Jetzt bietet sich eine einmalige Gelegenheit, diese Handlungsfähigkeit zu stärken. 

Zeit ist dabei ein entscheidender Faktor. Gerade deshalb sollte die Bundesregierung die Impulse der Konferenz konstruktiv aufnehmen und gemeinsam mit ihren europäischen Partnern umsetzen. Und zwar noch bevor sich der politische Wind wieder dreht.

Portrait Thu Nguyen

Thu Nguyen ist Policy Fellow für EU-Institutionen und Demokratie am Jacques Delors Centre.


Portrait Nils Redeker

Nils Redeker ist Policy Fellow für europäische Wirtschaftspolitik am Jacques Delors Centre.


Dieser Text erschien zuerst am 16. Mai auf Table.Europe und ist auch auf der Homepage des Jacques Delors Centre zu finden.



Bilder: Olaf Scholz: Deutsche Bundesbank [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträts Thu Nguyen, Nils Redeker: alle Rechte vorbehalten.

If not now, when? Germany should seize the opportunity that the Conference on the Future of Europe provides

What remains of the Conference on the Future of Europe? Has it set a new model of citizen participation in Europe? Should it lead to a European Convention and treaty reform? And what lessons can be learned from its shortcomings?

In this article series, experts from academia, think tanks and civil society look back at the results and forward to the follow-up of the Conference. Today: Thu Nguyen and Nils Redeker.
Olaf Scholz on a TV screen
“If the German government wants to live up to its own European policy ambitions, it cannot simply cheer from the sidelines.”

With quite a bombastic and at times slightly weird plenary, the Conference on the Future of Europe officially ended on May 9th. For one year, 800 randomly selected citizens had discussed necessary reforms for the EU. Now they are calling for changes, some of them far-reaching, such as the end of the unanimity principle in EU foreign and security policy, more financial resources for the EU, and a stronger role for the European Parliament.

The Conference has thus succeeded in initiating a discussion. The European Parliament already called for a constitutional convention to implement the ideas of the citizens. The Italian Prime Minister has pledged his support to parts of the agenda. Emmanuel Macron, at whose behest the Conference was launched a year ago, also supports treaty changes and the German chancellor has signalled openness, at least in principle.

A flash in the pan?

Admittedly, there is much to suggest that these fireworks could end up as a flash in the pan. The Conference looked ill-fated from the beginning. Due to the pandemic and a power struggle between the European institutions, the project was unable to begin for a long time, and was eventually shortened from two years to twelve months. In March 2021, before the official start of the Conference, 12 member states announced that they would not commit to the results under any circumstances. After that, the Conference, overshadowed by pandemic and war, remained largely under the public radar.

Now, at the end of the Conference, there is renewed resistance to its proposals, with 13 member states having explicitly spoken out against treaty changes on May 9th. This may not look like a good starting point, particularly in light of the geopolitical situation, leading many to wonder whether the EU does not have more urgent tasks at hand than implementing grass-roots democratic experiments.

The Russian war shows how urgently the EU needs reform

Nevertheless, it would be a mistake to declare the results of the Conference to be merely a collection of speaking points for European-policy sermons in the years to come. First, the Russian war of aggression shows how urgently the EU needs reform to act effectively: Comprehensive sanctions against Russia are currently failing due to the veto of individual member states. To quickly become independent from Russian energy exports, the EU would need joint investments in infrastructure and the energy industry. However, there is still a lack of funding for this at the European level.

In addition, it does not take a military strategist to see that arming 27 member states in parallel is waste of financial resources and will lead to logistical problems. None of these problems is new, but the Conference points out issues that currently seem to hit especially close to home.

Conditions are more favourable now than for a long time

Secondly, the framework conditions for reform steps currently are more favourable than they have been a very long time. The re-election of Emmanuel Macron means that France will for the foreseeable future remain governed by a president whose political standing also hinges on his European policy successes.

In Italy, the former president of the European Central Bank is governing with a clearly pro-European course and so far has succeeded in outcompeting most anti-EU challengers. The latest election results in the Czech Republic and Slovenia, the clearly more integration-friendly course of the new Dutch government, and the growing isolation of Viktor Orbán all show that reforms for deeper unity seem to be in actual reach.

Germany must use its weight to push for treaty changes

Despite all its weaknesses, the Conference therefore opens a window of opportunity. The German government should have the courage to seize it. Two things are necessary for this: First, the EU needs treaty changes. Real capacity to act in common security and foreign policy or a right of initiative for the European Parliament cannot be implemented within the current treaties. After years of stalemate, the Convention that has been called for, and the support of the French president finally offer an opportunity to make real progress in this area.

In response to the Conference the German Chancellor has so far merely stated that he would not stand in the way of treaty changes. If that remains the attitude, it would be quite underwhelming. All governing parties have been calling for treaty changes for a very long time. In the current coalition agreement, they have also decided to actively work toward them. If the German government wants to live up to its own European policy ambitions, it cannot simply cheer from the sidelines. If the Ampelkoalition is serious about Europe, it must now use all its weight to convince sceptics in other member states.

Quickly implement reforms that don’t require treaty change

Secondly, as important as these treaty changes are, it is also clear that they will take time. There is a real danger that this will lead the EU and its member states to get lost in principled debates with little reforms progress in the short run. That must not happen. In parallel with the Convention, the German government should therefore start to develop a constructive agenda for the continent based on those proposals of the Conference on the Future of Europe that do not require treaty changes. There are plenty of options for doing so.

In recent years, for example, better funding of the EU budget has often failed, not because of the treaties, but primarily because of resistance from the member states, not least that of Germany. In view of the urgent need for more investment, funds could be raised quickly with the necessary political will. Similarly, a strengthening of European democracy through a reform of EU electoral law and the introduction of transnational lists, as called for by the Conference, is already underway, following approval by the European Parliament in early May. Now it is up to the national governments to support and implement these reforms. Finally, the continent’s security capabilities could also be strengthened through joint military projects and procurement, even before treaty changes.

Time is a decisive factor

Three years of the coronavirus pandemic and economic crisis, as well as the Russian war of aggression against Ukraine, have shown how much depends on an EU capable to act. There is currently a unique opportunity to strengthen this ability.

For that, time is a decisive factor. This is why the German government should take up the impetus provided by the Conference. And it should do so before the political winds shift again.

Portrait Thu Nguyen

Thu Nguyen is a Policy Fellow for EU Institutions and Democracy at the Jacques Delors Centre.


Portrait Nils Redeker

Nils Redeker is a Policy Fellow for European Economic Policy at the Jacques Delors Centre.


This article was first published on 16 May on Table.Europe and is also available on the homepage of the Jacques Delors Centre.



Pictures: Olaf Scholz: Deutsche Bundesbank [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; portraits Thu Nguyen, Nils Redeker: all rights reserved.