- Auch wenn gerade wieder einmal viel über die Spitzenkandidaten gestritten wird: Ein Erfolg ist das Verfahren schon jetzt.
Fünf
Spitzenjobs sind in der EU in den nächsten Wochen und Monaten zu
vergeben: der des Ratspräsidenten, den die Staats- und
Regierungschefs im
Europäischen Rat am
20./21. Juni ernennen wollen. Der des Parlamentspräsidenten, der
am
2. Juli vom Europäischen Parlament gewählt wird.
Die des Kommissionspräsidenten und des Hohen Vertreters für die
Außenpolitik, die sowohl im Europäischen Rat als auch im Parlament
eine Mehrheit benötigen, weil sie von Ersterem vorgeschlagen und von
Letzterem gewählt werden. Und schließlich der des Präsidenten der
Europäischen Zentralbank, der im Herbst vom Europäischen Rat
ernannt wird.
Die
breitere öffentliche Debatte aber konzentriert sich vor allem auf
eines dieser fünf Ämter, nämlich die Kommissionspräsidentschaft.
Das liegt zum einen daran, dass der Kommissionspräsident als Chef
der EU-Exekutive die größte formale Macht hat. Zum anderen gibt es
hier aber auch den größten Streit über das Ernennungsverfahren
selbst: Wie schon bei der Europawahl 2014 haben die Fraktionen der
Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokraten und der Grünen (die
gemeinsam eine Mehrheit im Europäischen Parlament stellen)
angekündigt,
niemanden zum Kommissionspräsidenten zu wählen, der nicht zuvor
Spitzenkandidat einer europäischen Partei gewesen ist. Einige
Staats- und Regierungschefs beharren hingegen darauf, dass diese
Entscheidung allein beim Europäischen Rat liege – am
prominentesten der Franzose Emmanuel Macron (LREM/–), der
dementsprechend in den letzten Wochen diverse mögliche Alternativen
ins Spiel brachte, von dem halbwegs
plausiblen Michael Barnier (LR/EVP) bis zu der definitiv
nicht an dem Amt interessierten Angela Merkel (CDU/EVP).
Gegenüber
dem Rat säße das Parlament am längeren Hebel
Ginge
es allein um diesen Konflikt, so säßen die Abgeordneten freilich
wie
schon 2014
am längeren Hebel: Die Regierungschefs wissen selbst, dass das
Parlament bei einer Aufgabe des Spitzenkandidatenverfahrens zu viel
zu verlieren hätte. Würden sie ernsthaft einen von Macrons
Alternativkandidaten nominieren, so führte das auf direktem Weg zu
einer Ablehnung durch das Parlament. Zugleich stößt auch innerhalb
des Europäischen Rates und in der breiten europäischen Öffentlichkeit keiner der Alternativnamen auf überragende
Zustimmung.
Statt
die institutionelle Krise zu suchen, wäre es für die
Regierungschefs deshalb naheliegend,
einfach den vom Parlament gewünschten Spitzenkandidaten als
Kommissionspräsidenten zu akzeptieren – und ihren eigenen Einfluss
bei den anderen Spitzenämtern sowie den übrigen
Kommissionsmitgliedern auszuüben, deren Ernennung nicht ganz so sehr
im Licht der Öffentlichkeit
steht.
Eine Mehrheit für das Verfahren – aber nicht für
einen Kandidaten
Doch
so einfach ist die Sache diesmal nicht. Denn im Europäischen
Parlament gibt es bislang zwar eine Mehrheit für das
Spitzenkandidatenverfahren, aber nicht für einen bestimmten
Kandidaten. Mehr noch: Nicht einmal, was das
Spitzenkandidatenverfahren genau bedeutet, ist im Parlament
unumstritten. Vor allem an zwei Fragen entzünden sich dabei die
Konflikte.
Die
erste davon betrifft die Rolle des Kandidaten der stärksten
Fraktion. 2014 hatten sich die drei größten Fraktionen EVP, S&D
und ALDE bereits vor der Europawahl in einer gemeinsamen
Erklärung eindeutig dafür ausgesprochen, dass der Kandidat der
stärksten Fraktion als Erstes versuchen solle, eine Mehrheit im
Parlament zu bilden. Nach der Wahl unterstützten dann alle drei
Fraktionen recht schnell schnell den erfolgreichen Kandidaten
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP).
Vorgriffsrecht
der stärksten Fraktion?
Diesmal
hingegen wird die Idee einer Art Vorgriffsrecht für den Kandidaten
der stärksten Fraktion nur noch von der EVP vorgebracht, die davon
selbst unmittelbar profitiert. Die anderen Fraktionen – allen voran
die Liberalen – lehnten
eine solche Lesart des Verfahrens jedoch explizit ab und
betonten, dass es hier keinen Automatismus gebe: Kommissionspräsident
werde nicht notwendigerweise der Kandidat der stärksten Fraktion,
sondern (wie in Art.
17 Abs. 7 EUV vorgesehen) derjenige, der eine absolute Mehrheit
der Abgeordneten hinter sich bringe.
Im
Ergebnis führte dieser Konflikt nach der Wahl erst einmal zu einer
Pattsituation: Während die EVP auf dem Vorrang ihres Kandidaten
Manfred Weber (CSU/EVP) beharrt, wollen die Liberalen dessen Wahl
schon aus Prinzip vermeiden. Und da keine der beiden Fraktionen bei
der Mehrheitsbildung einfach umgangen werden kann, dauern die
Verhandlungen an.
Wer
gilt als Spitzenkandidat?
Noch
grundsätzlicher ist der zweite Konfliktpunkt: die Frage, wer
überhaupt als Spitzenkandidat zu zählen hat. Von den großen
proeuropäischen Parteien hatten vor der Wahl nur EVP und SPE
einen
Einzelkandidaten aufgestellt, die Grünen hingegen eine
Doppelspitze
– und die liberale ALDE gar ein Spitzenteam
mit nicht
weniger als sieben Personen. Innerhalb dieses Teams stach zwar
eine Frau, die Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (RV/ALDE),
besonders
heraus.
Allerdings
bezeichnete sie sich selbst im Wahlkampf ausdrücklich
nicht als „Spitzenkandidatin“,
und dass
sie Kommissionspräsidentin werden wolle, machte sie erst
am Wahlabend so richtig klar.
Genügt
das, um
für das Parlament trotzdem
wählbar
zu sein?
Hier
gehen die Meinungen auseinander: Während etwa die europäischen
Grünen explizit
bereit wären,
Vestager wie
eine Spitzenkandidatin zu behandeln und gegebenenfalls zur
Kommissionspräsidentin zu wählen, sähe
vor
allem die EVP (aber beispielsweise
auch die
neu gewählte sozialdemokratische
Abgeordnete Katarina
Barley) darin eine Unterwanderung des Spitzenkandidatenprinzips.
Und natürlich gilt auch für Vestager, dass sie ohne die Zustimmung
der EVP keine realistische Chance hat, Kommissionspräsidentin zu
werden. Die Konflikte, die vor allem EVP und ALDE über die richtige
Deutung des Spitzenkandidatenverfahrens austragen, sind deshalb immer
auch personelle Machtfragen – und verhindern bislang eine Einigung
im Parlament über die Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten.
Die Kommissionspräsidentschaft
als Teil eines Gesamtpakets
Um
aus dieser Sackgasse herauszukommen, finden seit der Europawahl
zahlreiche Gespräche in komplexen, variierenden Formaten statt:
zwischen den Regierungschefs im Europäischen Rat, den Fraktionen im
Europäischen Parlament, aber auch in einer hybriden
„Sechsergruppe“, die sich aus je zwei Regierungschefs von
jeder der drei großen Parteien (EVP, SPE, ALDE) zusammensetzt und
damit sowohl einer zwischenstaatlichen als auch einer
parteipolitischen Logik folgt.
Dabei
wird die Kommissionspräsidentschaft immer mehr zum Teil eines
Gesamtpakets, das nicht nur die übrigen EU-Spitzenjobs umfasst,
sondern auch die inhaltlichen Schwerpunkte der nächsten fünf Jahre,
für die sowohl der Europäische
Rat als auch das Europäische Parlament (in Form einer
Vier-Fraktionen-Koalition
aus EVP, S&D, ALDE und Grünen) derzeit eine jeweils eigene
Agenda ausarbeiten.
Hat
sich das Verfahren nun durchgesetzt? Oder ist es
gescheitert?
Was
bedeutet dies nun für das Spitzenkandidatenverfahren? Hat es sich
durchgesetzt, da Außenseiter wie die von Macron vorgeschlagenen
Alternativkandidaten kaum noch eine Chance haben? Oder ist es
gescheitert, da über die Ernennung des Kommissionspräsidenten nun
doch wieder erst nach der Wahl in schwer durchschaubaren
Hinterzimmergesprächen verhandelt wird? Verkommt es gar zu einer
„Posse“,
weil angesichts der vielfältigen Debatten über die „richtige“
Lesart des Verfahrens überhaupt nicht mehr klar ist, was es
eigentlich zu bedeuten hat?
Will
man zum jetzigen Zeitpunkt eine Zwischenbilanz ziehen, so muss man
sich zunächst vor Augen führen, welchen Zweck das
Spitzenkandidatenverfahren eigentlich erfüllen sollte. Darauf mögen
verschiedene Akteure unterschiedliche Antworten geben. Aus meiner
eigenen Sicht war das Spitzenkandidatenverfahren vor allem ein
Schritt zur Parlamentarisierung der Europäischen Kommission, indem
es die faktische Entscheidung über den Kommissionspräsidenten von
den nationalen Regierungen auf die europäischen Parteien und ihre
Fraktionen im Europäischen Parlament übertrug. Diese
Parlamentarisierung wiederum folgt letztlich dem Ziel einer
europäischen Demokratie, in der die europäische Bevölkerung die
Europawahl nutzen kann, um eine informierte Richtungsentscheidung
über den politischen Kurs der EU zu treffen.
Relevante
Fortschritte zur Demokratisierung der EU
Dass
das Spitzenkandidatenverfahren für sich allein nicht genügt, um
dieses Ziel zu erreichen, steht außer Frage. In einigen Bereichen
aber scheint es mir durchaus schon zu relevanten Fortschritten
geführt zu haben.
● So haben die Spitzenkandidaten die Transparenz
des Wahlverfahrens erhöht. Liest man Artikel aus dem Jahr 2004, in denen im Kontext der Europawahl
über den neuen Kommissionspräsidenten spekuliert wurde (etwa hier, hier
oder hier),
so findet man ein ganzes Bündel von Namen – der des späteren
Kommissionspräsidenten José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) ist in aller Regel nicht darunter. Hingegen hat das
Spitzenkandidatenverfahren das Set an möglichen Bewerbern deutlich überschaubarer gemacht.
Auch wenn wegen der schwierigen Mehrheitsfindung der neue Präsident nicht gleich am
Wahlabend feststeht, ist es nun sehr viel einfacher, mögliche
Szenarien für seine Ernennung zu antizipieren. Die europäische Politik ist dadurch etwas einfacher verständlich geworden, eine wichtige (wenn auch für sich allein nicht hinreichende) Voraussetzung für eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit.
● Zudem haben die Spitzenkandidaten recht offensichtlich zu einer Stärkung
der europäischen Parteien geführt. Wer auf europäischer Ebene politische Karriere machen will, muss
dafür in
erster Linie auf nationaler Ebene gut vernetzt sein.
Von der Besetzung der Europawahllisten bis zur Ernennung der
Kommissare erfolgen alle Schlüsselentscheidungen der europäischen
Personalpolitik durch die nationalen Parteien oder Regierungen. Die
Spitzenkandidaten sind die ersten Politiker, für die das nicht mehr
gilt: Wer Kommissionschef werden will, muss
dafür zuerst von einer europäischen Partei nominiert werden
und braucht deshalb auch ein starkes transnationales Netzwerk.
Mehr
Sichtbarkeit für die europäischen Parteien
● Dies führte auch zu einem stärker supranationalen Profil der Bewerber: Während
die Kommissionspräsidenten in den letzten Jahrzehnten stets frühere
Regierungschefs waren, die zunächst im nationalen Rahmen
aufgestiegen waren und dann ihre Beziehungen im Europäischen Rat
nutzten, entstammen die prominenten
Spitzenkandidaten von 2019 ausnahmslos den überstaatlichen
EU-Institutionen: Manfred Weber, Ska Keller (Grüne/EGP) und Jan Zahradil (ODS/AKRE) waren
Fraktionschefs im Europäischen Parlament, Margrethe Vestager und Frans Timmermans
(PvdA/SPE) Mitglieder der Europäischen Kommission. Dieser
andere Hintergrund impliziert nicht nur eine andere Perspektive auf
die europäische Politik, als sie die nationalen Regierungschefs mitbringen. Er ist auch ein Signal an fähige
und ambitionierte Nachwuchspolitiker, dass es sich lohnt, eine europäische Karriere einzuschlagen.
● Und schließlich verleihen die Spitzenkandidaten den europäischen
Parteien auch mehr Sichtbarkeit.
Denn auch wenn die Fernsehdebatten
zwischen ihnen vor der Europawahl oft nur in Spartensendern liefen und
ein Effekt der Spitzenkandidaten auf das Wahlverhalten allenfalls in ihren jeweiligen Herkunftsländern zu beobachten war,
führte das neue Verfahren in der Summe zu einer erhöhten Berichterstattung der europäischen
Medien. Auch hier ist der Vergleich zu 2004 erhellend, als parteipolitische
Aspekte in der öffentlichen Debatte über den nächsten
Kommissionspräsidenten noch so gut wie überhaupt nicht vorkamen.
2019 hingegen kommt praktisch kein Artikel zu dem Thema mehr ohne
Erklärungen zur Rolle der europäischen Parteien aus; Bezeichnungen
wie „Europäische Volkspartei“ sind in der deutschen Öffentlichkeit erstmals zu gängigen Begriffen geworden.
Und auch die Rolle der ungarischen Regierungspartei Fidesz in der EVP wurde
hier niemals zuvor so ausführlich diskutiert wie während des Europawahlkampfs,
wobei die Frage, wie sich Spitzenkandidat Manfred Weber dazu positionieren würde, immer
wieder
als
Aufhänger
diente.
Schon
heute ein Erfolg – mit Aussicht auf weitere Fortschritte
All diese Fortschritte lassen das Spitzenkandidatenverfahren
insgesamt schon heute als einen Erfolg erscheinen. Dies
gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sowohl 2014
als auch 2019
von vielen Beobachtern stark bezweifelt wurde, ob es überhaupt zur
Anwendung kommen würde. Je stärker die Nominierung von
Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteien bei künftigen
Wahlen zur Routine wird, desto eher werden sich auch die Erwartungen
der politischen Akteure und der Öffentlichkeit daran ausrichten, was
die beschriebenen Effekte jeweils noch verstärken würde.
An
anderen
Stellen
stößt
das Spitzenkandidatenverfahren
in
seiner jetzigen Form allerdings
auch auf Grenzen
und
inhärente Widersprüche, die sein Potenzial bei der Demokratisierung
der EU beschränken.
Dass
so viel über die „richtige“ Lesart des Verfahrens gestritten
wird, ist deshalb kein Zufall.
Um auf dem Weg zu einer parlamentarischen Kommission voranzukommen, muss
es um weitere Reformen ergänzt werden. Dazu in Kürze mehr im zweiten Teil dieses Artikels.
Wie weiter mit den Spitzenkandidaten?
1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen
1: Warum das neue Verfahren schon jetzt ein Erfolg ist
2: Welche Schritte zur Parlamentarisierung der EU jetzt folgen müssen
Bild: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.
Guter Artikel, vielen Dank! Ich meine, dass der Rat aus Rechtsgründen in erster Runde nicht an einem der drei aussichtsreichsten Spitzenkandidaten vorbeikommt: https://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2019-06-05/57ee42b245cb7089db3316a7972318aa/?GEPC=s5
AntwortenLöschenPerspektivisch muss es aber zumindest einheitliche europäische Listen mit Spitzenkandidaten geben oder - besser noch - eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten.