- Joseph Daul, Präsident der europäischen Christdemokraten, im Gespräch mit der Vorsitzenden eines wichtigen Landesverbands.
Kennen Sie Joseph Daul,
Sergej Stanishev und Graham Watson? Es handelt sich dabei um die
Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei (EVP), der
Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) und der Allianz der
Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) – also der drei größten
Parteien, aus denen sich die neue EU-Kommission zusammensetzt.
Dennoch sind ihre Namen europaweit kaum bekannt. Mehr noch: Auch die
europäischen Parteien selbst dürften einer Mehrzahl der
europäischen Bürger noch immer reichlich unvertraut sein. Obwohl
sie im EU-Vertrag offiziell als
„politische Parteien auf europäischer Ebene“ bezeichnet werden,
erscheinen sie in den Medien meist noch immer nur als
„Parteienfamilien“; und man muss lange suchen, bis man zum
Beispiel die Abkürzung EVP in einem Artikel einmal ohne
umständliche Erklärungen findet.
Europäische Parteien
gelten als heterogen und machtlos
Offenbar hat die
Herausbildung einer gesamteuropäischen Parteienlandschaft mit dem
Bedeutungsgewinn der EU in den letzten Jahrzehnten nicht ganz
mitgehalten. Zwar wurden die EVP sowie die Vorgängerorganisationen
von SPE und ALDE schon in den 1970er Jahren gegründet; zwar fanden
sie mit dem Vertrag von Maastricht 1993 Einzug in das
EU-Vertragswerk; zwar gibt es seit 2003 eine (kürzlich neu gefasste)
Verordnung,
die die Voraussetzungen zur offiziellen Anerkennung als europäische
Partei reguliert; zwar existieren inzwischen nicht weniger als
dreizehn Vereinigungen, die auf Grundlage dieser Verordnung
europäische
Parteienfinanzierung erhalten; zwar sind die meisten von ihnen
zur Europawahl im Mai mit
gesamteuropäischen Wahlmanifesten angetreten; zwar stimmen sie
im Europäischen Parlament weitgehend
geschlossen ab.
Und dennoch: Als
eigentliche politische Entscheidungszentren gelten nach wie vor nicht
die europäischen, sondern die nationalen Parteien. Auch die meisten
Politiker sehen ihre europäische Partei eher als ein Forum oder
Netzwerk, das man nutzen kann, wenn es einem gerade zweckdienlich
erscheint – aber nicht als das Rückgrat einer gesamteuropäischen
Demokratie oder gar als eine persönliche „politische Heimat“.
Dass populistische und autoritäre Parteien wie Silvio Berlusconis
Forza Italia oder Viktor Orbáns Fidesz der EVP angehören, mag
christdemokratischen Politikern in anderen europäischen Ländern
etwas unangenehm sein; schlaflose Nächte dürfte es ihnen eher nicht
bereiten. Zu sehr haben wir uns daran gewöhnt, die europäischen
Parteien als heterogene und eher machtlose Gebilde zu begreifen,
deren nationale Mitgliedsverbände durchaus auch einmal völlig
widersprüchliche Politiken verfolgen können, ohne dabei unter allzu
große öffentliche Erklärungsnot zu geraten.
Drohende Politikverdrossenheit
Am Ende werden
Wahlkämpfe, selbst für Europawahlen, eben doch weitgehend national
geführt: mit nationalen Kandidaten, die mit ihren Versprechen vor
einer nationalen Wählerschaft punkten müssen, um ihr Amt zu
erreichen. Dass man in der politischen Realität keine großen Ziele
mehr verwirklichen kann, ohne dafür einen europaweit
mehrheitsfähigen Kompromiss zu finden, ist auf dem Marktplatz und im
Bierzelt erst einmal gleichgültig. Worauf es hier ankommt, ist nur
das Image der eigenen politischen Marke. Und die bekanntesten dieser
Marken heißen in Deutschland nun einmal nach wie vor CDU und SPD,
nicht EVP und SPE.
Und doch stellt die
Auseinanderentwicklung zwischen einem immer weiter europäisierten
politischen System und einem noch immer weitgehend nationalen
Parteienwesen letztlich auch ein Legitimationsrisiko dar – und zwar
nicht nur für die EU, sondern auch für die Parteien. Denn da die
reale Politik zunehmend von Entscheidungen auf europäischer Ebene
bestimmt wird, kommt es immer wieder vor, dass die nationalen
Parteien ihre lediglich auf nationaler Ebene formulierten
Wahlversprechen zuletzt nicht verwirklichen können. Sei es, dass
haushaltspolitische Vorgaben aus Brüssel die
nationale Wirtschaftspolitik durchkreuzen; sei es, dass das
europarechtliche Diskriminierungsverbot eine
„Pkw-Maut für Ausländer“ unmöglich macht: Parteien, die
gewählt wurden, um eine bestimmte Agenda umzusetzen, kehren zuletzt
mit leeren Händen zu ihren Wählern zurück. Dies aber untergräbt
ihre Glaubwürdigkeit und ist letztlich ein zentraler Grund für die
steigende Politikverdrossenheit, da immer weniger Bürger überhaupt
noch einen Sinn darin sehen, wählen zu gehen.
Ansätze zur Stärkung
europäischer Parteien
Möchte man die
Legitimität der repräsentativen (Parteien-)Demokratie erhalten, ist
es also nötig, ihre Mechanismen auf die europäische Ebene zu
übertragen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es in letzter
Zeit immer wieder Bemühungen zu einer Stärkung der europäischen
Parteien gab. Ein wichtiger Schritt war etwa die jüngste Reform des
europäischen
Parteienstatuts, durch das die europäischen Parteien und die
dazugehörigen parteinahen Stiftungen nun eine eigene europäische
Rechtspersönlichkeit erhalten werden.
Weitere Schritte werden
innerhalb der Parteien selbst diskutiert. Besonders die Europäische
Grüne Partei (EGP) führte im vergangenen Winter mit der Green
Primary, einer
gesamteuropäischen Online-Vorwahl ihrer
Europawahl-Spitzenkandidaten, ein innerparteiliches
Demokratieexperiment durch. Nach dessen eher
enttäuschendem Verlauf folgte dann im Sommer eine auch
öffentlich ausgetragene Debatte über eine Verbesserung der
Kommunikations- und Entscheidungsverfahren in der EGP (z.B. hier
und hier).
Das zentrale Ziel der Überlegungen ist dabei eine bessere
parteiinterne Vernetzung, und zwar sowohl zwischen europäischer und
nationaler Ebene als auch zwischen den verschiedenen nationalen
Mitgliedsparteien. Die Vorschläge reichen von häufigeren Treffen
über permanente Online-Foren bis zu regelmäßigen gemeinsamen
Kampagnen.
Viele Probleme beginnen
allerdings auch schon bei viel grundsätzlicheren Fragen, etwa den
unterschiedlichen Mitgliedschaftsmodellen der nationalen Parteien. So
gibt es in einigen Ländern neben den klassischen Parteistrukturen
noch andere Formen flexibler politischer „Netzwerke“; die
französische EGP-Mitgliedspartei EELV etwa unterscheidet in ihren
Statuten
zwischen adhérents (regulären
Parteimitgliedern) und coopérateurs (eine
Art institutionalisierter Sympathisantenstatus). Da aber die
Mitgliedschaft in der europäischen Partei in der Regel vermittelt
über die nationalen Parteien erfolgt, lässt sich in vielen Fällen
nicht eindeutig sagen, wer nun eigentlich ein EGP-Parteibuch hat und
wer nicht. Ein einheitliches europaweites Mitgliederregister könnte
dem abhelfen.
Für Parteikarrieren helfen europäische Netzwerke kaum weiter
All diese Ansätze
implizieren jedoch einen beträchtlichen Zusatzaufwand für die
nationalen Parteien. Eine bessere grenzüberschreitende Koordination
wird nur möglich sein, wenn sie ihren europäischen Dachverbänden
mehr personelle, finanzielle und vor allem zeitliche Ressourcen zur
Verfügung stellen. In vielen Fällen gilt es, die Trägheit der auf
nationaler Ebene gewachsenen Strukturen und Routinen zu überwinden,
was bei den europapolitisch weniger interessierten Parteimitgliedern
zunächst auf Unwillen und Unverständnis stoßen dürfte. Dies ist
umso gravierender, als das erhoffte Ziel einer stärkeren
gesamteuropäischen Parteiidentität erst langfristig Wirkung
entfalten wird. Werden die Parteien – und das heißt in diesem Fall
vor allem: die aktiven Politiker an der Parteispitze – bereit sein,
eine solche Zukunftsinvestition zu erbringen?
Tatsächlich sind die
Anreize dafür derzeit eher gering. Eine bessere transnationale
Vernetzung und eine stärkere Rücksichtnahme auf die
gesamteuropäische Parteilinie bringt einzelnen Politikern wenigstens
kurzfristig kaum Vorteile. Im Gegenteil: Wer in einer Partei
aufsteigen will, muss dafür vor allem die Unterstützung der
nationalen Parteigremien besitzen, die über die Aufstellung
von Kandidaten und die Verteilung von Ämtern entscheiden. Gute
Beziehungen zu Parteifreunden in anderen Ländern zu haben, kann sich
zwar später im realen politischen Geschäft auszahlen; für die
Karriere hingegen ist es erst einmal weitgehend irrelevant. Selbst
die Wahllisten für die Europawahl werden auf nationalen
Parteitagen festgelegt, selbst die Mitglieder der Europäischen
Kommission werden von den nationalen Regierungen (und damit
der nationalen Regierungspartei) nominiert.
Zwei Hebel für eine europäische Parteiendemokratie
Das einzige wichtige Amt,
für das man in der EU schon heute die Unterstützung der europäischen Partei
benötigt, ist das des Kommissionspräsidenten. Dank des
Spitzenkandidaten-Prinzips, das bei der diesjährigen Europawahl
erstmals angewandt wurde, mussten die Parteien Verfahren
entwickeln, um sich europaweit auf einen gemeinsamen Namen zu einigen
(die Green Primary war eines
davon). Um Spitzenkandidat zu werden, mussten die Bewerber
also in allen nationalen Mitgliedsverbänden ihrer europäischen
Partei um Zustimmung werben – und hatten damit als erste Politiker
ein genuines Eigeninteresse daran, die gesamteuropäische Linie statt
nationaler Partikularpositionen in den Vordergrund zu stellen.
Die Spitzenkandidaten
allein aber werden natürlich nicht genügen, um eine echte
europäische Parteiendemokratie herbeizuführen. Für weitere
Fortschritte wird es wesentlich darauf ankommen, ob die europäischen
Parteien in Zukunft auch für die individuellen Laufbahnen von
Politikern der „zweiten Reihe“ an Bedeutung gewinnen. Dabei
dürften vor allem zwei institutionelle Hebel ausschlaggebend sein,
von denen in diesem Blog schon öfters die Rede war: zum einen die
Ernennung
der Kommission durch das Europäische Parlament, wodurch die
Kommissarskandidaten nicht mehr in erster Linie von ihren nationalen
Regierungen, sondern von ihrer Fraktion im Parlament abhängig wären.
Und zum anderen die Einführung transnationaler
Listen bei der Europawahl, durch die ein (möglichst großer)
Teil der Europawahl-Kandidaten nicht mehr auf nationalen, sondern auf
europäischen Parteitagen nominiert würde.
Beide Hebel würden
bewirken, dass wichtige Personalentscheidungen von nationalen an
europäische Parteigremien übergehen würden. Politiker, die auf
EU-Ebene Karriere machen wollen, kämen deshalb nicht mehr umhin,
sich grenzüberschreitend zu vernetzen und ihre Positionen weniger an
der nationalen als an der gesamteuropäischen Parteilinie
auszurichten. Diese Loyalitätsverschiebung wird dann recht schnell
auch eine programmatische Angleichung mit sich bringen. Und da
transnationale Listen natürlich auch einen größeren Anreiz zu
transnationalen Wahlkämpfen bieten, dürfte unter den nationalen
Parteien auch die Bereitschaft für eine bessere Finanzausstattung
ihrer europäischen Dachverbände steigen.
Gegen den Legitimitätsverlust hilft nur Europäisierung
Unter den Bedingungen der
europäischen Integration kann eine nationale Parteiendemokratie
nicht mehr funktionieren. Die Frage für die Zukunft ist nur, welchen
Ausgang sie nehmen wird: Ohne institutionelle Reformen droht den
nationalen Parteien ein schleichender Verlust an Legitimität, da sie immer weniger in der Lage sein werden, ihre jeweilige politische Agenda tatsächlich durchzusetzen. Enttäuscht über diesen Mangel an
Wirksamkeit werden sich die Wähler abwenden, steigende
Politikverdrossenheit wird die Folge sein.
Die Alternative dazu
besteht in einer Rekonstruktion der Parteiendemokratie im Rahmen der EU. Dafür müssten die nationalen Parteien bereit
sein, viel von ihrer personellen und programmatischen
Entscheidungsmacht an die europäische Ebene abzugeben. Dafür hätten
die europäischen Parteien die Chance, zu den neuen Kraftzentren
einer überstaatlichen Demokratie zu werden – und die Wähler
hätten wieder die Auswahl zwischen klar erkennbaren politischen
Alternativen, auch wenn diese nicht mehr CDU und SPD, sondern EVP und
SPE hießen.
Dieser Artikel basiert auf einem Impulsvortrag, den ich am 30. Oktober 2014 auf
Einladung des Projekts Legitimation und Selbstwirksamkeit: Zukunftsimpulse für die Parteiendemokratie am Progressiven Zentrum in Berlin
gehalten habe.
Bild: by European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr.
Wie sieht es mit unterschiedlichen Mitgliedschaften eigentlich quer durch die Parteien aus und europaweit? Wie ließen sich deutsch-deutsche Übergangslösungen hier übertragen? Könntest du mal vorspulen und den Ablauf eines europäischen Parteitags zeigen?
AntwortenLöschenSieh dich doch mal bei europäischen Parteien um, die bereits so organisiert sind. Bei den Europäischen Parteien frage ich wie man die euroskeptischen Mitglieder überzeugen kann und die Mitglieder aus nicht EU-Staaten, da mit zu machen.
LöschenFöderalisierung hätte noch weitere Vorteile, außer denen die hier im Blog beschrieben sind: keine Doppelwahlen, keine Ungerechtigkeiten mehr, dass es in manchen Ländern Sperrklauseln gibt und anderen nicht. Ich selbst bin noch minderjährig und darf noch nicht wählen, trotzdem hatte ich bei der letzten Europawahl, dass Dilemma, dass ich den Spitzenkandidaten der Europäischen Liberalen ALDE befürwortet hab, aber nicht nicht die deutschen Liberalen FDP.
AntwortenLöschenEine Europäisierung könnte vorallem den Grünen und Liberalen was bringen. Sie könnten sich somit besser in Osteuropa als prowestliche und proeuropäische Alternative zu den Sozialisten und Konservativen präsentieren. Ich würde mich freuen wenn die Grünen sich auch in Osteuropa etablieren würden.
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