26 April 2022

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (April 2022): Wie sich der Ukraine-Krieg auf die Wahlumfragen auswirkt


Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
EP heute3971145102177646542
März 2253361399815878624536
April 2259391399715778643735
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Basis-Szenario,
Stand: 25.4.2022.


Dynamisches Szenario,
Stand: 25.4.2022.

Große politische Krisen führen dazu, dass Regierungen an Zustimmung gewinnen. Auch zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 trat dieser Rally-’round-the-flag-Effekt auf; in fast allen EU-Mitgliedstaaten legten die jeweils größten Regierungsparteien in den Umfragen zu. Und auch in der gesamteuropäischen Sitzprojektion machte sich dies bemerkbar – nämlich in Form eines kurzfristigen Anstiegs der beiden größten Fraktionen, der christdemokratischen EVP und der sozialdemokratischen S&D. Erst nach etwa einem Jahr hatte sich dieser Effekt wieder ausgewaschen.

Auch nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine stiegen zunächst in mehreren EU-Mitgliedstaaten die Umfragewerte ganz unterschiedlicher Regierungsparteien an. Allerdings war die Rally diesmal nur von sehr viel kürzerer Dauer. Gegenüber der letzten Europawahl-Sitzprojektion von Anfang März, die den Stand vor dem Krieg widerspiegelt, kann zwei Monate nach Kriegsausbruch kaum eine Regierungspartei nennenswerte Zugewinne verbuchen. Nur die polnische PiS (EKR), die tschechische ODS (EKR) und die estnische RE (RE) weisen heute deutlich bessere Umfragewerte auf als vor dem Krieg.

Russische Parteien schwächer

Negativ wirkte sich der Krieg auf verschiedene baltische Parteien aus, die als Vertretung russischer Minderheiten gesehen werden: Sowohl die lettische SDPS (S&D) als auch die estnische KE (RE) verloren in den letzten Wochen an Zustimmung, und die einzige Europaabgeordnete der kleinen lettischen LKS musste aufgrund des Ukraine-Kriegs die Fraktion der Grünen/EFA verlassen.

Auf die Umfragewerte der zahlreichen nationalen Parteien, die keine russische Minderheit repräsentieren, aber der russischen Regierung politisch nahestehen, hatte der Krieg hingegen keine klaren Folgen. Für Marine Le Pen (RN/ID), Matteo Salvini (Lega/ID) oder Viktor Orbán (Fidesz/–) brachte die Nähe zu Vladimir Putin zuletzt zwar einige peinliche Momente. Starke Veränderungen in den Umfragen waren damit allerdings nicht verbunden. Noch am stärksten verlor zuletzt die prorussische AUR (EKR) in Rumänien an Zustimmung.

Zerwürfnis der Rechten

Größere politische Auswirkungen könnte der Krieg allerdings auf die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen europäischen Rechtsparteien haben: Die Haltung gegenüber Russland zählte schon in der Vergangenheit zu den wichtigsten inhaltlichen Fragen, die die polnische PiS und die meisten anderen EKR-Mitgliedsparteien von den ID-Mitgliedern sowie der ungarischen Fidesz trennte.

Mit dem Krieg hat sich dieser Spalt stark vertieft. Das hat nicht nur Folgen für die ungarisch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Visegrád-4, sondern auch für die mögliche Fusion von EKR und ID im Europäischen Parlament, über die seit Jahren spekuliert wird. Ein Anlauf für eine solche vereinigte Rechtsfraktion scheiterte zwar bereits im Herbst 2021. Das neue Zerwürfnis macht sie jedoch noch einmal unwahrscheinlicher. In der vergangenen Woche sprachen die beiden Putin-freundlichen Politiker Orbán und Salvini zwar noch einmal von der Gründung einer neuen europäischen Rechtspartei. Doch dass bei ihrem Treffen in Rom Giorgia Meloni (FdI/EKR) nicht anwesend war, deutet darauf hin, dass damit de facto kaum mehr als ein Beitritt der Fidesz zur ID gemeint sein dürfte.

EVP hält ersten Platz

Betrachtet man die Sitzprojektion im Einzelnen, so zeigten sich bei den meisten Fraktionen in den letzten acht Wochen nur wenig Veränderungen. Die Europäische Volkspartei kann sich weiterhin auf dem ersten Platz halten, wobei sich die Umfragen je nach Mitgliedstaat in den letzten acht Wochen recht unterschiedlich entwickelt haben.

Größere Verluste muss die EVP etwa in Frankreich hinnehmen (wo nach der nationalen Präsidentschaftswahl gerade die ersten Umfragen für die Parlamentswahl im Juni erscheinen). Auch in Polen, Tschechien und Portugal steht die EVP etwas schlechter da als Anfang März. Die spanische EVP-Mitgliedspartei PP hingegen konnte unter ihrem neuen Vorsitzenden Alberto Núñez Feijóo zuletzt hingegen wieder zulegen, ebenso wie die EVP-Mitglieder in Rumänien, Bulgarien und Finnland. Insgesamt kommt die EVP damit noch auf 157 Sitze (–1 im Vergleich zur März-Projektion).

S&D und RE kaum verändert

Ähnlich uneinheitlich ist die Entwicklung bei der sozialdemokratischen S&D-Fraktion. Hier liegt der französische PS wieder knapp über der nationalen Fünf-Prozent-Hürde, und auch die dänischen Sozialdemokrat:innen konnten zuletzt leicht dazugewinnen. Bei den beiden nationalen Parlamentswahlen in Ungarn und Slowenien blieben die S&D-Mitglieder im April hingegen deutlich unter den Erwartungen. Insgesamt kommt die Fraktion in der Sitzprojektion damit unverändert auf 139 Sitze (±0).

Die liberale RE-Fraktion schließlich musste zuletzt in Spanien und Deutschland Einbußen hinnehmen, und in Frankreich schneidet die Regierungspartei LREM in den Umfragen für die Parlamentswahl deutlich schlechter ab als ihr Vorsitzender Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl. In Portugal hingegen erlebt die erst 2017 gegründete IL einen kleinen Höhenflug, und auch die niederländische Regierungspartei VVD, die seit Sommer 2021 stark in den Umfragen verloren hatte, konnte diesen Trend zuletzt umkehren. Insgesamt kommt die RE damit noch auf 97 Sitze (–1).

Linke und Grüne legen stark zu

Die wichtigsten Gewinner der aktuellen Sitzprojektion befinden sich im linken Bereich des politischen Spektrums: Die Linksfraktion im Europäischen Parlament erfährt vor allem durch die Wahl in Frankreich deutlichen Rückenwind. Zudem würden die beiden kleinen italienischen Linksparteien SI und Art.1 in einem Wahlbündnis nun wieder knapp die nationale Vier-Prozent-Hürde überwinden. Die krisengebeutelte Linke in Deutschland verliert hingegen. Insgesamt legt die europäische Linke jedoch deutlich zu und käme nun auf 59 Sitze (+6). Das ist ihr bester Wert in der laufenden Wahlperiode.

Auch die europäischen Grünen, die seit der Europawahl 2019 in den Umfragen einen fast kontinuierlichen Rückgang erfuhren, können in der aktuellen Sitzprojektion dazugewinnen (39/+3). Dies liegt zum einen an verbesserten Werten der deutschen und niederländischen Grünen, zum anderen an der französischen EELV, die in den Parlamentswahlumfragen deutlich besser abschneiden als bei der Präsidentschaftswahl. Etwas schlechter sind die Aussichten hingegen für die Fraktionspartner der Grünen: Sowohl die tschechischen Piráti als auch die niederländische Volt würden nach den aktuellen Umfragen keinen Sitz mehr im Europäischen Parlament erreichen.

Wenig Veränderungen bei den Rechtsfraktionen

Wenig Neues gibt es auf der rechten Seite des politischen Spektrums: Bei den rechtskonservativen EKR halten sich die Zugewinne der polnischen PiS und der tschechischenODS mit den Verlusten der rumänischen AUR und der spanischen Vox die Waage, sodass die Fraktion insgesamt auf unveränderte 78 Sitze kommt (±0).

In der rechtsextremen ID-Fraktion können vor allem das französische RN, aber auch die tschechische SPD zulegen, während die finnischen PS verlieren. Die dänische DF, vor einigen Jahren noch eine der stärksten Parteien ihres Landes, wäre nun überhaupt nicht mehr im Europäischen Parlament vertreten. Insgesamt verbessert sich die ID leicht auf 64 Sitze (+2).

Fraktionslose verlieren deutlich

Deutlich schwächer schneiden in der Sitzprojektion die fraktionslosen Parteien ab (37 Sitze/–8). Das liegt hauptsächlich an der französischen Rechtsaußenpartei Reconquête, die Éric Zemmour 2021 zur Unterstützung seiner Präsidentschaftskandidatur gegründet hatte. Dank einiger RN-Überläufer:innen ist Reconquête inzwischen auch im Europäischen Parlament vertreten. Nach dem Scheitern Zemmours bei der Präsidentschaftswahl stürzt die Partei nun jedoch in den Umfragen ab. Ob sie überhaupt bis zur Europawahl überleben wird, ist mindestens zweifelhaft.

Außer Reconquête verliert auch das italienische M5S, das weiterhin vor allem mit innerparteilichen Querelen beschäftigt ist: Zwar wurde die Parteispitze um Ex-Premierminister Giuseppe Conte jüngst im Amt bestätigt, doch die Gültigkeit dieser Wahl wird von Parteimitgliederngerichtlich angefochten.

Grün-liberale Newcomer gewinnen Wahl in Slowenien

Auch unter den „sonstigen Parteien“, die bislang nicht im Europäischen Parlament vertreten sind und keiner Fraktion eindeutig zugeordnet werden können, gab es in den letzten Wochen einige Verlierer. Insbesondere die beiden bulgarischen Newcomer-Parteien PP und ITN, die im Dezember 2021 an die nationale Regierung kamen, müssen harte Umfragerückschläge hinnehmen. Dazugewinnen kann in Bulgarien hingegen die rechte Oppositionspartei Vazrazhdane.

Zudem legt auch die grün-liberale GS aus Slowenien deutlich zu, die die nationale Parlamentswahl im April mit überraschend großem Vorsprung gewann. Und der rechtsradikalen MHM aus Ungarn (die sich 2018 von der Partei Jobbik abgespalten hat, nachdem deren Führung einen Kurs der politischen Mäßigung eingeschlagen hatte) gelang bei der ungarischen Parlamentswahl erstmals der Sprung über die nationalen Fünf-Prozent-Hürde. Insgesamt kommen die „sonstigen Parteien“ damit noch auf 35 Sitze (–2).

Dynamisches Szenario

Das dynamische Szenario der Sitzprojektion ordnet alle „sonstigen Parteien“ jeweils den Fraktionen zu, denen diese plausiblerweise am nächsten stehen. Zudem bezieht es auch mögliche künftige Fraktionswechsel einzelner nationaler Parteien ein. Gegenüber der März-Projektion gibt es dabei angesichts der jüngsten Verwerfungen innerhalb der europäischen Rechten zwei Veränderungen: Zum einen wird die Fidesz nun nicht mehr der EKR, sondern der ID zugeordnet. Zum anderen erscheint die (ebenfalls Putin-freundliche) Reconquête ebenfalls nicht mehr als mögliches EKR-Mitglied, sondern bleibt auch im dynamischen Szenario fraktionslos.

Die Zuordnungen im dynamischen Szenario sind im Einzelnen natürlich recht spekulativ, geben insgesamt jedoch vielleicht ein realistischeres Bild der Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl als das Basisszenario. Eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse zeigt sich dabei allerdings nicht: Da die „sonstigen Parteien“ aus dem gesamten politischen Spektrum kommen, können im Vergleich zum Basisszenario alle Fraktionen leicht dazugewinnen. Besonders die beiden Rechtsfraktionen, aber auch Grüne/EFA und RE haben gute Aussichten, sich um neue Mitgliedsparteien zu erweitern.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Sitzverteilung der Projektion nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dem Basisszenario, in dem nationale Parteien in der Regel jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet sind und Parteien ohne klare Zuordnung als „sonstige Parteien“ ausgewiesen werden. Die Veränderungen im dynamischen Szenario gegenüber dem Basisszenario sind in der Tabelle durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter den Tabellen erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.


Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
EP heute3971145102177646542
März 2253361399815878624536
April 2259391399715778643735
dynamisch604914310215984
7632

Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
DE 5 Linke 17 Grüne
1 Piraten
1 ÖDP
1 Volt
23 SPD 8 FDP
2 FW
24 Union
1 Familie

10 AfD 2 Partei 1 Tier
FR 16 LFI 6 EELV 4 PS 21 LREM 6 LR
20 RN 6 Rec
IT 4 Sinistra
18 PD 4 Az-+E 7 FI
1 SVP
18 FdI 14 Lega 10 M5S
ES 7 UP
1 Bildu
1 ERC 17 PSOE 1 Cʼs
1 PNV
17 PP 12 Vox
1 JxC 1 MP
PL

4 Lewica 7 PL2050
15 KO
22 PiS

4 Konf
RO

14 PSD 4 USR 8 PNL
2 UDMR
5 AUR


NL 1 SP
2 PvdD
3 GL
2 PvdA 7 VVD
4 D66
1 CDA
1 CU
2 JA21
1 SGP
3 PVV
2 BBB
EL 6 Syriza
4 KINAL
8 ND 1 EL
2 KKE
BE 3 PTB 1 Groen
1 Ecolo
2 Vooruit
2 PS
1 O-VLD
2 MR
1 CD&V
1 LE
1 CSP
3 N-VA 3 VB

PT 1 BE
1 CDU

10 PS 2 IL 6 PSD
1 CH

CZ


8 ANO 2 STAN
1 TOP09
6 ODS 4 SPD
HU

3 DK
2 MM 1 KDNP

12 Fidesz
2 Jobbik
1 MHM
SE 2 V
7 S 2 C 5 M
1 KD
4 SD


AT
2 Grüne 5 SPÖ 2 Neos 5 ÖVP
4 FPÖ
1 MFG
BG

2 BSP 2 DPS 5 GERB
1 DSB



4 PP
2 V
1 ITN
DK 1 Enhl. 1 SF 5 S 2 V
1 RV
3 K


1 NB
FI 1 Vas 1 Vihreät 3 SDP 2 Kesk 5 Kok
2 PS

SK

3 Smer-SSD 1 PS 2 OĽANO
1 KDH
2 SaS 1 SR 1 REP 3 Hlas-SD
IE 6 SF

3 FF 4 FG



HR

3 SDP
5 HDZ


2 Most
2 Možemo
LT
1 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
2 TS-LKD

1 DP 2 DSVL
1 LT
1 LRP
LV

1 SDPS 1 AP!
1 ZZS
2 JV
1 K
1 NA

1 Prog
SI



3 SDS
1 NSi



4 GS
EE


3 RE
1 KE


2 EKRE
1 E200
CY 2 AKEL
1 EDEK
3 DISY



LU
1 Gréng
1 PPLU
1 LSAP 1 DP 1 CSV 1 ADR


MT

3 PL
3 PN




Verlauf (Basisszenario)


Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
25.04.2022 59 39 139 97 157 78 64 38 34
01.03.2022 53 36 139 98 158 78 62 45 36
04.01.2022 51 39 142 99 165 73 62 34 40
08.11.2021 50 42 144 96 155 75 72 36 35
13.09.2021 54 42 141 98 160 70 75 33 32
21.07.2021 52 45 133 97 167 71 74 31 35
24.05.2021 50 50 125 95 167 74 73 33 38
29.03.2021 52 46 136 96 164 71 73 34 33
02.02.2021 52 45 135 94 184 70 71 21 33
09.12.2020 52 47 136 93 188 67 73 20 29
12.10.2020 51 49 127 96 193 67 71 21 30
14.08.2020 50 53 145 88 196 65 64 20 24
25.06.2020 48 55 143 91 203 64 63 20 18
26.04.2020 47 53 151 88 202 66 66 19 13
10.03.2020 51 58 138 88 188 67 82 21 12
09.01.2020 49 58 135 93 186 65 82 24 13
23.11.2019 48 57 138 99 181 62 82 22 16
23.09.2019 49 61 139 108 175 56 82 24 11
30.07.2019 47 64 138 108 180 57 82 22 7
Wahl 2019 40 68 148 97 187 62 76 27

Die Zeile „Wahl 2019“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 2. Juli 2019, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2019.
Angegeben sind jeweils die Werte im Basisszenario ohne das Vereinigte Königreich. Eine Übersicht der Werte mit dem Vereinigten Königreich für die Zeit bis Januar 2020 ist hier zu finden. Eine Übersicht älterer Projektionen aus der Wahlperiode 2014-2019 gibt es hier.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Sofern eine Partei im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet ist als im Basisszenario, ist dies ebenfalls im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Fraktionszuordnung

Basisszenario: Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Europawahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden im Basisszenario als „Sonstige“ eingeordnet.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Im dynamischen Szenario werden alle „sonstigen“ Parteien einer schon bestehenden Fraktion (oder der Gruppe der Fraktionslosen) zugeordnet. Außerdem werden gegebenenfalls Fraktionsübertritte von bereits im Parlament vertretenen Parteien berücksichtigt, die politisch plausibel erscheinen, auch wenn sie noch nicht öffentlich angekündigt wurden. Um diese Veränderungen gegenüber dem Basisszenario deutlich zu machen, sind Parteien, die im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet werden, in der Tabelle mit der Farbe dieser Fraktion gekennzeichnet; zudem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Die Zuordnungen im dynamischen Szenario basieren auf einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien und können daher im Einzelnen recht unsicher sein. In der Gesamtschau kann das dynamische Szenario jedoch näher an der wirklichen Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl liegen als das Basisszenario.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wird bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wird der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet, wobei jedoch von jedem einzelnen Umfrageinstitut nur die jeweils letzte Umfrage berücksichtigt wird. Stichtag für die Berücksichtigung einer Umfrage ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Durchführung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung.
Für Länder, in denen es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, wird stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament bzw. der Durchschnitt aller Umfragen für das nationale oder das Europäische Parlament aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten verfügbaren Umfrage verwendet. Für Länder, in denen es keine aktuellen Umfragen für Parlamentswahlen gibt, wird stattdessen gegebenenfalls auf Umfragen zu Präsidentschaftswahlen zurückgegriffen, wobei die Umfragewerte der Präsidentschaftskandidat:innen jeweils den Parteien der Kandidat:innen zugeordnet werden (dies kann insbesondere Frankreich betreffen). Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wird auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel werden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. Für Länder, in denen die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (aktuell Belgien und Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion werden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (1 Sitz für CSP).
In Ländern, in denen es üblich ist, dass mehrere Parteien als Wahlbündnis auf einer gemeinsamen Liste antreten, werden der Projektion plausibel erscheinende Listengemeinschaften zugrunde gelegt. Dies betrifft folgende Parteien: Spanien: Más País (1.-2. Listenplatz), Compromís (3.) und Equo (4.); ERC (1., 3.-4.), Bildu (2.) und BNG (5.); PNV (1.) und CC (2.); Niederlande: CU (1., 3.-4.) und SGP (2., 5.); Ungarn: Fidesz (1.-6., ab 8.) und KDNP (7.); Bulgarien: DSB (1.-2.) und ZD (3.); Slowakei: PS (1.) und Spolu (2.).
In Ungarn hatten sich für die nationale Parlamentswahl 2022 fast alle Oppositionsparteien (DK, MSZP, MM, LMP, Jobbik) zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dieses Wahlbündnis auch bei der nächsten Europawahl Bestand hat. In der Projektion wurde das Wahlergebnis für das Oppositionsbündnis auf die einzelnen Parteien aufgeteilt, und zwar entsprechend dem Verhältnis der durchschnittlichen Umfragewerte der Parteien in den letzten Umfragen, die diese einzeln ausweisen.
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion in der Regel jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 2 Sitze für PARTEI und FW, je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, Volt und Familienpartei). Nur falls eine Kleinpartei in aktuellen Umfragen einen besseren Wert erreicht als bei der letzten Europawahl, wird stattdessen dieser Umfragewert herangezogen.
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb stets mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Durchführung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 13.-25.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 25.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Italien: nationale Umfragen, 14.-24.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 9.-22.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 7.-23.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 11.-20.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 14.-24.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 5.-15.4.2022, Quelle: Europe Elects.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 22.3.2022, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 22.3.2022, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Portugal: nationale Umfragen, 18.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 20.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 3.4.2022, Quelle: Wikipedia; für die Verteilung zwischen den Mitgliedsparteien des Oppositionsbündnisses: nationale Umfragen, 5.-11.3.2022, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 3.-5.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 27.3.-9.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 8.-14.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Dänemark: nationale Umfragen, 24.3.-4.4..2022, Quelle: Wikipedia.
Finnland: nationale Umfragen, 5.-13.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 6.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 23.3.-1.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 10.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 25.2.-19.3.2022, Quelle: Wikipedia.
Lettland: nationale Umfragen, 31.3.2022, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 24.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 18.-20.4.2022, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 30.5.2021.
Luxemburg: nationale Umfragen, 24.11.2021, Quelle: Europe Elects.
Malta: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 26.3.2022, Quelle: Wikipedia.

Bilder: Eigene Grafiken.

12 April 2022

Warum der Rechtsrahmen für EU-Parteien der europäischen Demokratie nicht gerecht wird

Von Wouter Wolfs und Ludvig Norman.
Figuren in unterschiedlichen Farben (rot, grün, gelb, blau) repräsentieren Europaabgeordnete unterschiedlicher Parteien in einem Schaubild im Parlamentarium in Brüssel
„Die europäische Parteienfinanzierung sollte die Parteiendemokratie auf europäischer Ebene stärken. Doch die Ausgestaltung der Förderregeln behindert die Entwicklung eines kompetitiven und responsiven Parteiensystems.“

In der Europäischen Union gibt es keine echten politischen Parteien und kein echtes Parteiensystem: Mit dieser Analyse haben Akademiker:innen und Beobachter:innen der europäischen Politik das Demokratiedefizit der EU erklärt. Auch die EU-Institutionen selbst nahmen sich dies zu Herzen und unternahmen im Laufe der Jahre mehrere Versuche, dieses Defizit zu beheben.

Eine dieser Maßnahmen war die Einführung von direkten finanziellen Zuschüssen für politische Parteien auf europäischer Ebene. Durch die Gewährung öffentlicher Mittel, so die Idee, sollten die europäischen Parteien in die Lage versetzt werden, ihren „Verfassungsauftrag“ nach Art. 10 (4) EUV zu erfüllen. Dort heißt es, dass die europäischen Parteien „zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union“ beitragen. Wie in den meisten Mitgliedstaaten sollte die staatliche Parteienfinanzierung mithelfen, dies zu ermöglichen. Seit Beginn der öffentlichen Förderung im Jahr 2003 wurden von den EU-Institutionen mehr als 550 Millionen Euro für die europäischen politischen Parteien und deren jeweilige politische Stiftungen bereitgestellt.

Ein reformbedürftiger Rechtsrahmen

Mit Beginn der EU-Parteienfinanzierung wurden auch Vorschriften eingeführt, die die Verwendung dieser staatlichen Zuschüsse regeln. Ein solcher Regelungsrahmen setzt eine Reihe von Anreizen und Beschränkungen für die Verwendung der Gelder und kann folglich die Beziehungen zwischen den verschiedenen europäischen Parteien und ihre interne Organisation beeinflussen. Im Jahr 2021 haben die EU-Institutionen begonnen, über eine Überarbeitung dieser Finanzierungsregeln zu diskutieren. Ein neuer Regelungsrahmen soll bis zur nächsten Europawahl im Jahr 2024 in Kraft sein.

Und in der Tat sind die Regeln reformbedürftig. Vor allem in zweierlei Hinsicht trägt der derzeitige Regelungsrahmen nicht zur Stärkung der Parteiendemokratie in der EU bei. Erstens behindert er den Wettbewerb zwischen europäischen Parteien, weil er den Eintritt neuer Parteien sehr erschwert. Zweitens bietet er keine Anreize für eine stärkere Beteiligung der Bürger:innen in den Europarteien und trägt so dazu bei, ihren Status als bloße Dachorganisationen nationaler Mitgliedsparteien zu festigen.

Wettbewerb im europäischen Parteiensystem

Damit ein Parteiensystem wirklich repräsentativ sein kann, ist es wichtig, dass die Regeln ein Gleichgewicht zwischen der Begünstigung bestehender Parteien und der Schaffung angemessener Bedingungen für den Eintritt neuer politischer Parteien herstellen. Ein Regierungssystem, das hauptsächlich die etablierten (größeren) Parteien begünstigt und neuen politischen Wettbewerbern nicht offensteht, verringert den Parteienwettbewerb und die Responsivität des Parteiensystems und beschädigt so dessen demokratische Qualität. Die Finanzierungsvorschriften für europäische Parteien sorgen für eine eingeschränkte Reaktionsfähigkeit des europäischen Parteiensystems, da sie bestehende Parteien begünstigen und unangemessen hohe Schwellen für neue politische Kräfte festlegen, sowohl in Bezug auf die Registrierung, die Finanzierung als auch administrative Anforderungen.

Die Hürde, um offiziell als europäische Partei registriert zu werden, ist sehr hoch. Einige der Bedingungen sind recht einfach: Eine europäische Partei muss eine gemeinnützige Organisation sein, ihren Sitz in einem der EU-Mitgliedstaaten haben, an Europawahlen teilnehmen und die Grundwerte der EU achten. Obwohl das letztgenannte Kriterium schwer zu überprüfen sein kann, sollte es für die meisten neuen politischen Kräfte kein Problem darstellen. Andere Anforderungen sind jedoch erhebliche Hindernisse für neue Parteien, sich auf europäischer Ebene zu etablieren.

Parlamentarische Vertretung als Zulassungsvoraussetzung

Eine Zulassungsvoraussetzung ist nämlich auch, dass europäische Parteien breit genug repräsentiert sein sollen, um als „wirklich transnational“ gelten zu können. Hierfür muss eine Partei in einem Viertel der Mitgliedstaaten vertreten sein (derzeit also in 7 von 27). Diese Regelung war von Anfang an Teil des Finanzierungsregimes und wurde hauptsächlich eingeführt, um rechtsradikalen Parteien den Zugang zu EU-Geldern zu verwehren. In dieser Hinsicht blieb sie zwar erfolglos. Sie hinderte aber mehrere neue transnationale Organisationen – wie Volt Europe, DiEM25 oder die Europäische Piratenpartei – effektiv daran, offiziell als europäische Parteien anerkannt zu werden.

Das Hauptproblem ist dabei die Art und Weise, wie diese Bedingung operationalisiert wird: nämlich als parlamentarische Repräsentation. Nur eine europäische Partei, die bei europäischen, nationalen oder regionalen Wahlen in sieben Mitgliedstaaten Sitze gewonnen hat – oder mindestens 3 Prozent der Stimmen erhalten hat –, kann offiziell registriert werden. Mit anderen Worten: Europäische Parteien können nur registriert werden, nachdem sie an Wahlen teilgenommen haben. Auch die Finanzierungsregeln betrachten das europäische Parteiensystem in dieser Hinsicht also als bloße Summe von nationalen Parteien ohne einen eigenen Mehrwert. Für neue politische Kräfte stellt das Repräsentanzkriterium eine erhebliche Hürde dar, um überhaupt offiziell als europäische Partei registriert zu werden.

Finanzierungsregeln begünstigen große Parteien

In ähnlicher Form begünstigen auch die Regeln für den Zugang zu und die Verteilung von Finanzmitteln die großen etablierten Parteien gegenüber kleineren Parteien und politischen Newcomern. Die Voraussetzungen für den Erhalt europäischer Fördermittel sind identisch mit den Registrierungsbedingungen, mit dem einzigen Zusatz, dass eine europäische Partei auch mindestens eine:n Europaabgeordneten stellen muss. Folglich ist die Schwelle für den Erhalt staatlicher Unterstützung für neue Parteien sehr hoch; außerparlamentarischen Parteien wird die Finanzierung de facto verweigert.

Auch der Verteilungsschlüssel für die Finanzierung kommt in erster Linie den größeren Parteien zugute: Jedes Jahr wird eine Gesamtsumme für die europäische Parteienfinanzierung festgelegt. Diese Gesamtsumme wird anschließend auf die finanzierungsberechtigten Parteien verteilt, wobei allerdings nur 10 Prozent der Summe zu gleichen Teilen und 90 Prozent im Verhältnis zur Anzahl der Europaabgeordneten der Partei vergeben werden. Dies begünstigt eindeutig die größeren Parteien.

Wachsende Verwaltungslast

Darüber hinaus haben verschiedene Reformen der Finanzierungsvorschriften den Verwaltungsaufwand für die europäischen Parteien im Lauf der Zeit erheblich erhöht. Sie stellen heute höhere Anforderungen an die Berichterstattung und Buchführung, verlangen die Einhaltung längerer und intensiverer Verfahren und schreiben die Vorlage von mehr Dokumenten vor.

Diese neuen Maßnahmen haben die Kontrolle und – in geringerem Maße – die Transparenz des Finanzsystems verbessert. Sie verlangen den Parteien aber auch erheblich mehr Verwaltungskapazität ab, so dass sie wie ein kleines oder mittleres Unternehmen arbeiten und/oder bestimmte Aufgaben an spezialisierte Firmen auslagern müssen. Diese neuen administrativen Anforderungen haben selbst die größeren Parteien vor Herausforderungen gestellt. Für kleinere Parteien und Newcomer stellen sie auf jeden Fall eine bedeutende praktische Hürde dar.

Fehlende Bürgerbeteiligung

Regulierungssysteme prägen auch die interne Organisation politischer Parteien und können so Anreize oder sogar Verpflichtungen für eine aktive Beteiligung von Parteimitgliedern oder anderen Bürger:innen an den Parteitätigkeiten schaffen. Für europäische Parteien wäre dies besonders wichtig, da sie ja die Kluft zwischen den EU-Institutionen und den europäischen Bürger:innen überbrücken sollen. Die Finanzierungsvorschriften enthalten jedoch kaum Bestimmungen, die die europäischen Parteien dazu veranlassen würden, Partizipationsmöglichkeiten der Bürger:innen zu stärken.

Wie schon erwähnt, muss eine europäische Partei für ihre Zulassung in einem Viertel der Mitgliedstaaten „repräsentiert“ sein. Diese Repräsentation bezieht sich jedoch nur auf die Mitgliedsparteien – die Anzahl der Einzelmitglieder ist in keiner Weise relevant. Selbst eine europäische politische Partei, die über ihre Europaabgeordneten hinaus überhaupt keine Einzelmitglieder hat, könnte Anspruch auf EU-Finanzierung erhalten.

Auf der anderen Seite enthalten die Förderbedingungen durchaus einen Anreiz für die europäischen Parteien, ihre finanzielle Bindung an die Gesellschaft zu stärken: Parteien erhalten nur dann europäische Fördermittel, wenn sie mindestens 10 Prozent ihrer Eigenmittel durch Spenden, Mitgliedsbeiträge oder andere Einnahmen erwirtschaften. Dies könnte genutzt werden, um einzelne Bürger:innen als Spender:innen in die europäische Parteiorganisationen einzubringen. In der Praxis werden die meisten dieser Eigenmittel allerdings in Form von Beiträgen der nationalen Mitgliedsparteien aufgebracht.

Keine Vorschriften zur parteiinternen Demokratie

Ein weiterer Punkt: Während der EU-Rechtsrahmen detaillierte Bestimmungen für die Verwaltungs- und Finanzorganisation und die Rolle der Führungsgremien europäischer Parteien enthält, sind die Vorschriften in Bezug auf individuelle Mitgliedschaftsrechte sehr viel unklarer. Die Vorschriften überlassen den Parteien hier ein hohes Maß an Freiheit: Es gibt keine verbindlichen Bestimmungen zur parteiinternen Demokratie oder zur Beteiligung von Einzelbürger:innen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die europäischen Parteien bis heute größtenteils Dachorganisationen ihrer nationalen Mitgliedsparteien geblieben sind. Die meisten dieser europäischen Parteien haben mehr Mitgliedsparteien als Einzelmitglieder. Nur die liberale ALDE-Partei hat mit über 1000 Personen eine nennenswerte Basis von Individualmitgliedern. Dies sind jedoch weit weniger als bei jüngeren transnationalen Bewegungen wie Volt Europe oder DiEM25 – obwohl diese beiden Organisationen weit davon entfernt sind, die Voraussetzungen zu erfüllen, um überhaupt als europäische Partei registriert zu werden.

Die aktuellen Reformvorschläge genügen nicht

Insgesamt wird deutlich: Die Einführung einer europäischen Parteienfinanzierung hatte zwar den Anspruch, die Parteiendemokratie auf europäischer Ebene zu stärken. Doch die Ausgestaltung der Förderregeln behindert die Entwicklung eines kompetitiven und responsiven Parteiensystems und setzt keine Anreize für eine stärkere Einbindung der europäischen Bürger:innen in das EU-Parteileben.

Die laufenden Debatten in den EU-Institutionen zur Reform der Förderregeln tragen wenig dazu bei, um diese Situation zu entschärfen: Es wurden keine Versuche unternommen, die Zulassungskriterien oder die Förderbestimmungen wesentlich zu ändern, um den Parteienwettbewerb zu verbessern oder Parteien zu einer stärkeren Einbeziehung der Bürger:innen anzuregen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission würde die Verwaltungslasten sogar noch erhöhen, indem er die europäischen Parteien verpflichtet, Bestimmungen zur Geschlechtervertretung, zu Logos und politischen Programmen sowie zu politischer Werbung in ihre Satzungen aufzunehmen. Die Beteiligung von Bürger:innen kommt in den Diskussionen derzeit überhaupt nicht vor.

Anreize für eine Parteipolitik von unten

Gezielte Änderungen des Rechtsrahmens könnten jedoch einen wichtigen Anreiz für mehr Initiativen von unten bieten. Anstatt nur von der parlamentarischen Vertretung ihrer Mitgliedsparteien könnte die Zulassung europäischer Parteien zum Beispiel auch davon abhängig gemacht werden, dass sie über genügend Einzelmitglieder verfügen oder – analog zur Europäischen Bürgerinitiative – in einem Viertel der Mitgliedstaaten eine bestimmte Anzahl an Unterschriften sammeln.

Zudem könnte die Höhe der finanziellen Förderung teilweise von der individuellen Mitgliederbasis abhängig gemacht werden, oder europäische Parteien könnten Zuschüsse für Projekte erhalten, die speziell darauf abzielen, Bürger:innen in ihre interne Entscheidungsfindung einzubeziehen. Auch wenn die Reichweite solcher Maßnahmen begrenzt bliebe, könnten sie wenigstens einen Ansatzpunkt für eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit in die Parteipolitik auf europäischer Ebene bieten.

Portrait Wouter Wolfs

Wouter Wolfs ist Politikwissenschaftler am Public Governance Institute der Universität Leuven und Senior Researcher der flämischen Forschungsstiftung (Fonds voor Wetenschappelijk Onderzoek – Vlaanderen). Als Re:constitution Fellow arbeitet er zur Regulierung europäischer Parteien und zu Europawahlen.


Portrait Ludvig Norman

Ludvig Norman ist Associate Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stockholm und Senior Fellow des UC Berkeley Institute of European Studies.

 

Dieser Beitrag basiert auf unserem Artikel „Is the Governance of Europe’s Transnational Party System Contributing to EU Democracy?“, der kürzlich im Journal of Common Market Studies (Heft 60.2, 2022, S. 463-479) erschienen ist.


Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller.
Bilder: Farbige MdEP-Figuren (im Parlamentarium in Brüssel): Ulkoministeriön Eurooppatiedotus, CC BY-NC 2.0, via Flickr; Porträts Wouter Wolfs, Ludvig Norman: privat [alle Rechte vorbehalten].

11 April 2022

How the regulatory framework for EU parties is failing European democracy

By Wouter Wolfs and Ludvig Norman.
Figures in different colours (red, green, yellow, blue) representing MEPs from different parties in the Parlamentarium in Brussels
“Subsidies for European political parties aspired to strengthen European party democracy. But the current funding rules hamper the development of a competitive and responsive party system.”

The European Union lacks genuine political parties and a proper system of party politics: this analysis has been put forward by academics and observers of European decision-making to describe how the EU suffers from a democratic deficit. This has also been an important concern of the EU institutions themselves, and they have made several attempts over the years to tackle this deficit.

One of such measures has been the introduction of direct subsidies for political parties at the European level. By granting these European political parties public funding, it was argued, they would be able to fulfil their ‘constitutional mission’. Article 10(4) of the EU Treaty indeed states that these Europarties contribute to forming European political awareness and to expressing the will of citizens of the Union. As is the case in most member states, state support for political parties should help to make this possible. Since the start of the public funding in 2003, more than €550 million has been allocated by the EU institutions to these European political parties and corresponding political foundations.

A regulatory framework in need of reform

Together with the availability of EU public funding, rules were put in place to regulate the use of these state subsidies. Such a regulatory framework provides a set of incentives and constraints on how the money can be used, and consequently can affect the relations between the various European political parties and how they organize internally. In 2021, the EU institutions started debating a revision of these funding rules. A new regulatory framework should be in place before the next elections of the European Parliament in 2024.

And indeed, the rules are in need of reform. In particular, there are two aspects in which the current regulatory framework fails to contribute to strengthening EU party democracy. First, it hampers the contestability of the European party system, because it makes it very difficult for new parties to enter. Secondly, it doesn’t provide any incentives for stronger participation of citizens in the Europarties, which helps to solidify their status as mere umbrella organizations of their national member parties.

Contestability of the Europarty system

Regarding contestability, if a party system wants to be substantially representative, it is important that the rules find a balance between favouring existing parties and create reasonable conditions for new political parties to enter. A governance system that mainly benefits the established (larger) parties and is not open to new political competitors reduces the contestability and the responsiveness of the party system and consequently has a negative effect on its democratic value. The funding rules for European political parties allow for limited responsiveness of the European party system because they favour existing parties and set unreasonably high thresholds for new political forces, both in terms of registration, funding and administrative requirements.

The threshold to become officially registered as a European political party is very high. Some of the conditions are rather straightforward: a Europarty must be a non-profit organization, have its headquarters in one of the EU member states, participate in the European elections, and respect the EU’s fundamental values. Although the latter criterion can be difficult to verify, it should not pose a problem for most new political forces. However, other requirements represent considerable obstacles for new parties to establish themselves at the European level.

Parliamentary representation as a registration requirement

In order to gain registration, a European political party must be sufficiently represented in order to be considered “truly transnational”. It therefore needs to have representation in a quarter of the member states (currently, that means 7 of 27). This condition has been part of the finance regime since its origins and was mainly put in place to refrain radical right parties from getting access to EU funding. Although it was unsuccessful in this regard, it effectively prevented several new transnational organisations – such as Volt Europe, DiEM25 or the European Pirate Party – from being officially recognised as European parties.

The main problem is how this condition is operationalized: it is stipulated as parliamentary representation. Only a European party that has won seats in the European, national or regional elections – or won at least 3 per cent of the vote – in seven member states can be officially registered. In other words, European parties can only be registered after they participated in elections. Consequently, even the funding rules consider the European party system as a mere sum of the national parties, without any added value in its own right. This criterion poses a substantial threshold for new political forces to even become officially registered as a European party.

Funding rules favour larger parties

Similarly, the rules on the access and distribution of funding favour the larger established parties over the smaller parties and political newcomers. The requirements to receive European subsidies are identical to registration conditions, with the one addition that a Europarty also needs to have at least one Member of the European Parliament (MEP). Consequently, the threshold to get state support is very high for new parties and extra-parliamentary parties are de facto denied funding.

The distribution key for funding is also primarily beneficial for the larger parties: each year, a total sum is determined for the purpose of financing Europarties. This total sum is subsequently distributed among the eligible parties, with only 10 per cent of the sum allocated in equal terms and 90 per cent in proportion to the number of affiliated MEPs. This clearly favours the bigger parties.

Growing administrative burden

In addition, the subsequent changes to the funding rules have substantially increased the administrative burden on the European parties, with higher reporting and accounting requirements, longer and more intense procedures to be followed, and more documentation to be submitted.

Although these new measures have improved the scrutiny and – to a lesser extent – transparency of the finance regime, they require substantially more administrative capacity of the parties, to the extent that they have to function like a small or medium-sized company and/or must outsource certain tasks to specialized companies. These new administrative requirements have posed challenges for even the larger parties, but certainly pose an important practical hurdle for smaller parties and newcomers.

Lack of citizen participation

Regulatory systems also shape the internal organization of political parties and can thus provide incentives or even obligations for the active involvement of party members or other individual citizens in their internal functioning. This is especially important for European political parties, since they are expected to bridge the gap between the EU institutions and European citizens. Yet the funding rules include barely any provisions that could steer Europarties to strengthen their participatory links with citizens.

As already mentioned, in order to get registered, a European political party must be “represented” in a quarter of the member states. However, this representation only relates to its member parties; the number of individual members is in no respect relevant. Even a European political party without any individual members beyond its MEPs could be eligible for EU funding.

The funding conditions on the other hand do include an incentive for Europarties to strengthen their financial ties to society: they can only receive European subsidies if they are able to generate at least 10 per cent of own resources through donations, membership fees or other income. While this could be used to connect individual citizens to the European party organizations, in practice most of these own resources are contributed from the various member parties.

No binding provisions on internal democracy

Finally, while the regulatory framework contains detailed provisions on the required administrative and financial organization and the responsibilities of the governing bodies, the rules are far more ambiguous regarding individual membership rights. The rules basically leave a high level of freedom to the parties themselves: there are no binding provisions on internal democratic decision-making or the involvement of individual citizens.

It is therefore not surprising that European political parties remain, to a large extent, umbrella organizations of their national member parties: most of these Europarties even have a higher number of member parties than they have individual members. Only the liberal ALDE Party has a substantial membership base, with over 1000 members. Yet, this is far less than more recently established transnational movements like Volt Europe or DiEM25, although these two organizations are far from fulfilling the minimal conditions to even be registered as a European political party.

The current reform proposals are not enough

In sum, it is clear that while the introduction of European subsidies for European political parties had the aspiration to strengthen party democracy at European level, the design of the funding rules hampers the development of a competitive and responsive party system, and fails to provide any incentives for a stronger involvement of European citizens in EU party life.

The ongoing debates in the EU institutions on the reform of the funding rules do not include any objectives to mitigate this situation: there have been no attempts to substantially alter the registration criteria or the funding provisions in order to improve the competitiveness of the party system or stimulate parties to involve citizens more strongly. The proposal of the European Commission even increased the administrative requirements by obligating Europarties to introduce provisions on gender representation, logos and political programmes, and political advertising in their statutes. The involvement of citizens currently falls totally outside of the scope of the discussions.

Incentives for bottom-up party politics

Yet, targeted changes to the regulatory framework could provide an important incentive for more bottom-up initiatives. For example, instead of only focussing on the parliamentary representation of the member parties, Europarties could also be registered if they have sufficient individual members or collect signatures from citizens – in analogy to the European Citizens’ Initiative – in a quarter of the member states.

Furthermore, Europarties could be given an additional subsidy in proportion to their individual membership base, or grants for projects that are specifically aimed at involving citizens in their internal decision-making. Although limited in scope, such measures could at least provide a starting point for a stronger public engagement in party politics at European level.

Portrait Wouter Wolfs

Wouter Wolfs is Lecturer at the Public Governance Institute of the University of Leuven and Senior Researcher of the Research Foundation Flanders. He is a Re:constitution Fellow working on the regulation of European political parties and EU elections.


Portrait Ludvig Norman

Ludvig Norman is Associate Professor of Political Science at Stockholm University and Senior Fellow at the UC Berkeley Institute of European Studies.

This contribution is based on our recent article “Is the Governance of Europe’s Transnational Party System Contributing to EU Democracy?” (Journal of Common Market Studies 60.2, 2022, p. 463-479).


Pictures: MEP figures in different colours (in the Parlamentarium in Brussels): Ulkoministeriön Eurooppatiedotus, CC BY-NC 2.0, via Flickr; Portraits Wouter Wolfs, Ludvig Norman: private [all rights reserved].