29 Januar 2016

Keine Vertragsreform in Sicht? Wie das Europäische Parlament das Potenzial der geltenden EU-Verträge sondiert – und Sie sich daran beteiligen können

Eigentlich, na klar, braucht die EU eine Vertragsreform. So leicht aber ist die nicht zu haben – und deshalb macht man sich im Europäischen Parlament gerade Gedanken darüber, welche Verbesserungen auch innerhalb des derzeitigen Vertragsrahmens möglich sind. Die Abgeordneten Elmar Brok (CDU/EVP) und Mercedes Bresso (PD/SPE) haben dem Verfassungsausschuss dafür jüngst einen Berichtsentwurf vorgelegt, zu dem bis zum 16. Februar Änderungsanträge gestellt werden können. 

Sven Giegold (Grüne/EGP), der das Dossier als Schattenberichterstatter der Grüne/EFA-Fraktion betreut, Christian Moos als Generalsekretär der Europa-Union Deutschland, David Schrock von den Jungen Europäischen Föderalisten und ich haben dazu eine Plattform eingerichtet, auf der man den Berichtsentwurf kommentieren, Ideen, Kritik und Änderungswünsche äußern kann.

Demokratischere Verfahren und andere Vorschläge

Im Einzelnen macht der Bericht Vorschläge zu demokratischeren Verfahren und zu zentralen Politikbereichen wie der Währungsunion oder der gemeinsamen Außenpolitik. Unter anderem geht es dabei um Fragen wie diese:

● Sollte sich das Parlament seltener auf informelle Vorab-Kompromisse mit der Kommission und dem Ministerrat einlassen, durch die Rechtsakte schon in der ersten Lesung endgültig verabschiedet werden können (Rn. 40)?
● Sollten das Amt des Kommissionspräsidenten und das des Präsidenten des Europäischen Rates zusammengelegt werden (Rn. 45)?
● Sollte es anstelle der diversen Einzelformationen des Ministerrats künftig nur noch einen „Gesetzgebungsrat“ geben, dem die nationalen Fachminister inhaltlich zuarbeiten (Rn. 48)?

● Sollten die nationalen Vetorechte bei der Verabschiedung des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU und bei der Festlegung der EU-Eigenmittel abgeschafft werden (Rn. 72-73)?
● Sollte es einen eigenen Haushalt für die Eurozone geben, und wie sollte dieser beschaffen sein (Rn. 77-78)?
● Sind für die demokratische Kontrolle auf Ebene der Eurozone neue parlamentarische Institutionen nötig, oder kann das Europäische Parlament diese Aufgabe übernehmen (Rn. 91)?

Außen-, Asyl-, Grenzschutz- und Familienpolitik

● Sollten nationale Vetorechte bei der Gestaltung der EU-Außenpolitik reduziert werden, indem die Außenminister ein umfassendes Strategiepapier verabschieden, für dessen konkrete Umsetzung dann nur noch Mehrheitsentscheidungen notwendig wären (Rn. 106)?
● Sollten verteidigungspolitische Maßnahmen der EU verstärkt gemeinschaftlich statt auf einzelstaatlicher Ebene finanziert werden, um Negativanreize für die Mitgliedstaaten abzubauen (Rn. 119)?

● Sollte es eine einheitliche EU-Asylpolitik geben, bei der Asylbewerber nach einem bestimmten Schlüssel auf die Mitgliedstaaten verteilt werden? Und falls nur ein Teil der Mitgliedstaaten dazu bereit ist: Sollten diese eine verstärkte Zusammenarbeit in diesem Bereich beschließen (Rn. 125)?
● Sollte die EU-Grenzschutzagentur Frontex neue Kompetenzen erhalten (Rn. 126, 128)?
● Sollte im Bereich Justiz und Inneres sowie in grenzüberschreitenden Fragen des Familienrechts künftig das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gelten, d.h. nationale Vetorechte abgeschafft werden und dafür das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht erhalten (Rn. 131)?

Ein Ort, um sich in die Diskussion einzumischen
 
Schon diese kurze Liste zeigt, wie wichtig die Themen sind, die das Parlament in dem Bericht verhandelt. Freilich: Auch wenn es ihn annimmt, werden die darin enthaltenen Vorschläge nicht sofort verwirklicht werden. In den meisten Fällen ist dafür vielmehr ein einstimmiger Beschluss der nationalen Regierungen im Ministerrat notwendig. Dennoch wäre es falsch, die Forderungen der Abgeordneten nur für eine leere Geste zu halten. Gerade wenn es in Krisenzeiten schnell gehen muss, sind die Regierungen auch in der Vergangenheit oftmals institutionellen Vorschlägen des Europäischen Parlaments gefolgt, die sie zuvor lange Zeit ignoriert hatten.

Wenn aber solcherart über die Zukunftspotenziale der EU diskutiert wird, dann sollten auch wir Bürgerinnen und Bürger uns stärker einmischen. Wer daran interessiert ist: Hier ist ein geeigneter Ort dafür.

Bild: Logos und Fotos der Organisatoren, v.l.n.r. oben: Europa-Union Deutschland, Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, Sven Giegold, unten: Junge Europäische Föderalisten Deutschland, Manuel Müller, via sven-giegold.de.

24 Januar 2016

Grenzschutz, Reisefreiheit und Asylpolitik: Wie lässt sich Schengen retten?

Aus Angst vor Flüchtlingen stellen Europas Regierungen die offenen Binnengrenzen in Frage. Aber ist das wirklich unvermeidbar?
Schengen ist in Gefahr. Der europaweite Raum der Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen droht zu zerbröckeln. Nach dem offiziellen Überblick der EU-Kommission haben seit letztem Herbst nicht weniger als neun Mitgliedstaaten vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt; aktuell sind diese noch in sechs Ländern in Kraft: in Deutschland und Österreich seit vergangenem September, in Frankreich, Schweden und Norwegen seit November, in Dänemark seit dem 4. Januar. Niemals zuvor in der Geschichte des Schengen-Systems hatte es eine so lang andauernde Dauerschließung gegeben – und erst recht nicht von so vielen Ländern zugleich.

Infolgedessen mehren sich inzwischen die apokalyptischen Warnungen: EU-Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) etwa sprach vor kurzem von einem Zeitraum von zwei Monaten, innerhalb dessen eine Lösung gefunden werden müsse, um „den Kollaps des Schengen-Raums“ zu verhindern. Kommissionschef Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sah in der Konsequenz sogar den europäischen Binnenmarkt in Gefahr. Unabhängig davon, ob man sich diesen Einschätzungen im Einzelnen anschließt: Mit der Reisefreiheit geht es, so viel ist klar, um eine zentrale Errungenschaft der europäischen Integration. Wie aber lässt sich Schengen retten?

Die Schengen-Krise ist eine Krise des EU-Asylsystems

Dass die derzeitige Schengen-Krise eigentlich eine Krise des europäischen Asylsystems ist, dürfte ein Gemeinplatz sein. Um die heutigen Probleme zu verstehen, lohnt es sich dennoch, ihre Entstehung noch einmal zu rekapitulieren. Ihr Ausgangspunkt ist die berühmt-berüchtigte Dublin-Verordnung (Wortlaut), der zufolge Flüchtlinge einen Asylantrag in der Regel in jenem Mitgliedstaat stellen müssen, in dem sie als Erstes das Territorium der EU erreicht haben. Reisen sie in ein anderes Land weiter, können sie von dort in das Ersteintrittsland zurück abgeschoben werden. Um das zu kontrollieren, sind die Grenzländer verpflichtet, alle ankommenden Flüchtlinge zu registrieren und ihre Fingerabdrücke in einer europaweiten Datenbank zu speichern.

Diese Regelung führte zu einem massiven Ungleichgewicht in der Flüchtlingsverteilung: Während die südlichen Grenzstaaten, vor allem Italien und Griechenland, sehr viele Asylanträge zu bearbeiten haben, sind die nördlichen Staaten kaum betroffen – sofern sie nicht freiwillig zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind. (Spanien wiederum zog sich durch eine enge Zusammenarbeit mit dem nordafrikanischen Nachbarn Marokko aus der Affäre, trotz dessen zweifelhaftem Umgang mit den Menschenrechten von Flüchtlingen.)

Italien und Griechenland

Die übermäßige Belastung Italiens und Griechenlands – und die Weigerung der nördlichen Staaten, das Dublin-System zugunsten einer faireren Verteilung zu reformieren – führte schon in der Vergangenheit verschiedentlich zu Krisen. Zu einem ersten Eklat kam es 2011, als infolge des arabischen Frühlings die Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika sprunghaft anstieg. Statt diese Flüchtlinge zu registrieren, begann die italienische Regierung damals, ihnen Touristenvisa auszustellen oder sie einfach untertauchen zu lassen, in der Hoffnung, dass sie in andere EU-Länder weiterreisen und nicht nach Italien zurückkehren würden.

Ebenfalls im Jahr 2011 urteilte außerdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Lage von Asylbewerbern in Griechenland sei so schlecht, dass eine Abschiebung dorthin im Rahmen des Dublin-Systems nicht erlaubt sei. (2014 folgte auch für Italien ein ähnliches, etwas schwächeres Urteil.) Flüchtlinge müssen zwar trotzdem weiterhin in Griechenland ihren Asylantrag stellen, wenn sie vom dortigen Grenzschutz aufgegriffen und registriert werden. Gelingt es ihnen aber, Griechenland unbemerkt zu durchqueren und ein anderes EU-Land zu erreichen, müssen sie nicht nach Griechenland zurück – was sowohl in ihrem eigenen als auch im griechischen Interesse ist.

Streit um die Flüchtlingsquote

Und an dieser Stelle kommt nun das Schengen-System ins Spiel. Die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern, die seit Sommer 2015 zu Hunderttausenden Europa erreichten, wollen zum größten Teil nicht in Griechenland oder Italien bleiben, sondern in andere Mitgliedstaaten, besonders Deutschland und Schweden, weiterreisen. Dies lag zum einen an deren liberaleren Aufnahmepraxis und den besseren Bedingungen für Asylbewerber, zum anderen aber auch daran, dass es in diesen beiden Ländern inzwischen bereits größere syrische Gemeinschaften gibt, von denen sich die Neuankömmlinge Orientierung und Hilfe versprechen. Auch die drastische Verschärfung des deutschen und schwedischen Asylrechts in den letzten Monaten dürfte deshalb nicht allzu viel an den innereuropäischen Flüchtlingsbewegungen ändern.

Infolgedessen drängen seit 2015 nicht mehr nur Italien und Griechenland, sondern unter anderem auch Deutschland, Schweden und die Europäische Kommission auf eine EU-weite Asylbewerber-Umverteilung nach festen Länderquoten (ein Überblick über alle nationalen Positionen findet sich hier). Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, war Deutschland im September 2015 das erste Land, das mit Verweis auf die Flüchtlingskrise einseitig die Schengener Reisefreiheit suspendierte – allerdings mit bescheidenem Erfolg. Vor allem die ostmitteleuropäischen Staaten, in die fast überhaupt keine Flüchtlinge einreisen, verweigern sich weiterhin jeder Reform des Dublin-Systems.

Selbst die einmalige Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen war im letzten Herbst deshalb nur mit einer umstrittenen Mehrheitsabstimmung im Rat zu erreichen und ist bis heute nicht umgesetzt. Die Slowakei und Ungarn reichten vor dem Europäischen Gerichtshof sogar Klagen gegen den Beschluss ein. Auch wenn die Kommission jüngst noch einmal einen neuen Vorstoß angekündigt hat – konkrete Vorschläge sollen im März folgen –, scheint die Dublin-Reform wenigstens im Moment in einer Sackgasse zu stecken.

Hotspots zur Erstaufnahme und Registrierung

Schon seit einiger Zeit scheinen sich die Bemühungen Deutschlands und seiner nördlichen Partner deshalb eher auf ein anderes Ziel zu konzentrieren: einen effektiveren Schutz der Schengen-Außengrenzen. Im Mittelpunkt stehen dabei neue Erstaufnahme-Zentren, sogenannte „Hotspots“, die in Griechenland und Italien eingerichtet werden sollen. Sämtliche neu ankommenden Flüchtlinge sollen künftig zunächst in diesen Zentren aufgenommen und registriert werden. Große Zahlen undokumentierter Migranten, die wie im letzten Herbst ohne Papiere und Registrierung quer durch Europa ziehen, soll es dadurch künftig nicht mehr geben. Geplant sind derzeit elf solche Zentren, von denen drei bereits in Betrieb sind; die übrigen sollen in den nächsten Wochen folgen.

Das Problem daran: Ohne einen wirksamen Verteilungsmechanismus haben weder Italien noch Griechenland ein Interesse daran, diese Hotspots tatsächlich funktionsfähig zu machen – denn nach dem Dublin-System wären sie dann schließlich für die Bearbeitung der dort gestellten Asylanträge verantwortlich. In der Darstellung der EU-Kommission dienen die Hotspots deshalb vor allem jener schon im Herbst beschlossenen Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Doch wenn die Einwanderung nach Europa 2016 auch nur annähernd das Maß von 2015 erreicht, dürfte dieses Kontingent spätestens in wenigen Monaten erschöpft sein.

EU-Grenzschutz gegen den Willen der Mitgliedstaaten?

Dem zuständigen EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos (ND/EVP) zufolge ist das Hauptproblem schon heute, dass die griechischen und italienischen Grenzschutzbehörden kaum Flüchtlinge in die Hotspots bringen – aus Sorge, dass diese zu „geschlossenen Zentren“ würden, für die letztlich doch wieder sie die Verantwortung trügen. Stattdessen scheinen sie weiter darauf zu setzen, Flüchtlinge nach Möglichkeit einfach zu „übersehen“ und unregistriert weiterziehen zu lassen, auch wenn das natürlich gegen ihre Pflicht zur Sicherung der Schengen-Außengrenzen verstößt.

Im Dezember präsentierte die Europäische Kommission deshalb noch eine weitere Initiative: Geht es nach ihren Vorstellungen, soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex künftig selbst operativ tätig werden können – und zwar auch gegen den Willen des betroffenen Staates. Offiziell als eine Art aufgezwungene europäische Hilfe für „überforderte“ nationale Grenzschutzbehörden dargestellt, soll dieser Vorschlag offensichtlich vor allem eine Sabotage der Flüchtlingsregistrierung durch die Ersteintrittsländer verhindern. Infolgedessen wurde er von Deutschland und Frankreich unterstützt, von den meisten Grenzstaaten aber unter Verweis auf ihre nationale Souveränität abgelehnt. Eine Entscheidung darüber soll auf dem Europäischen Rat im kommenden Juni fallen.

Ostmitteleuropa von der Dublin-Reform überzeugen

Wie aber lässt sich Schengen nun retten? Selbst wenn der Plan, künftig Frontex die Überwachung der Außengrenzen übernehmen zu lassen, Erfolg hat: Auf die Dauer kann es keine Lösung sein, die Verantwortung für die eintreffenden Asylbewerber wieder komplett auf Griechenland und Italien abzuwälzen. Und auch die parallele Strategie der EU, die Türkei als Partner zu gewinnen, damit Flüchtlinge gar nicht erst europäischen Boden erreichen, ist überaus zweifelhaft – schon allein, weil sich die EU damit von einer Regierung abhängig macht, die in jüngerer Zeit in eine bedrohliche Spirale von Autoritarismus und Gewalt eingetreten ist.

Die besten Chancen dürften deshalb trotz allem darin bestehen, die Dublin-Reform endlich zum Erfolg zu bringen und doch noch eine dauerhafte Umverteilung von Flüchtlingen zu erreichen. Dafür ist es freilich notwendig, mindestens einige der bis jetzt noch zögernden oder ablehnenden Regierungen in Ostmitteleuropa von dieser Strategie zu überzeugen. Und das wiederum wirft die Frage auf, warum diese Regierungen die Aufnahme von Flüchtlingen eigentlich so vehement zurückweisen.

Angst vor Überfremdung – und vor finanziellen Kosten

Im Wesentlichen dürfte es dafür zwei Gründe geben: zum einen eine ideologische, aus Nationalismus und Islamophobie gespeiste Angst vor Überfremdung – eine Angst, mit der nicht nur nationalkonservative Regierungschefs wie die Polin Beata Szydło (PiS/AEKR) oder der Ungar Viktor Orbán (Fidesz/EVP), sondern auch Sozialdemokraten wie der Slowake Robert Fico (Smer-SD/SPE) im Wahlkampf auf Stimmenfang gehen.

Zum anderen aber spielt wohl auch die pragmatische Feststellung eine Rolle, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen für das überalterte Europa zwar langfristig von wirtschaftlichem Nutzen sein wird, kurzfristig aber für das Aufnahmeland auch mit einigen finanziellen Kosten verbunden ist: für Unterbringung und Versorgung, für Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen, für Dolmetscher, Sozialarbeiter und Polizisten.

Es sind die reichen Staaten, die die Flüchtlingsquote wollen

Gegen die Überfremdungsangst lässt sich wenigstens auf die Schnelle wohl nicht viel tun: Akzeptanz für kulturelle Vielfalt wächst in der Regel nur langsam und durch konkrete positive Erfahrungen. Was aber das finanzielle Argument betrifft, hat die EU noch einigen Handlungsspielraum: Immerhin zählen viele der Staaten, denen besonders an einer Umverteilung von Flüchtlingen gelegen ist – Deutschland, Schweden, Österreich oder Italien –, zugleich auch zu den reichsten Mitgliedsländern, während die ostmitteleuropäischen Staaten sämtlich EU-Nettoempfänger sind.

Man kann deshalb, wie der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ/SPE) vor einigen Wochen, den Osteuropäern mit einer Kürzung der EU-Strukturfonds drohen, falls sie nicht ihren Widerstand in der Flüchtlingsfrage aufgeben. Man könnte aber auch umgekehrt auf Positivanreize setzen, indem künftig der EU-Haushalt die Finanzierung der Asylpolitik übernimmt.

Und wenn die EU die Asyl-Finanzierung übernimmt?

Tatsächlich ist der EU-Asylfonds AMIF bislang nur äußerst spärlich ausgestattet; für die Periode 2014-20 sind darin pro Jahr nicht einmal 500 Millionen Euro vorgesehen. Zwar beantragte die Europäische Kommission im letzten Herbst bereits eine Aufstockung dieser Mittel. Doch im Verhältnis zu den realen Kosten der Flüchtlingskrise ist der AMIF weiterhin kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Man stelle sich vor, dieser Fonds wäre so gut ausgestattet, dass er in der Lage wäre, die Kosten für Asylverfahren komplett zu bestreiten – oder gar zu überkompensieren, sodass Mitgliedstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen, daraus einen fiskalischen Gewinn erzielen. Das entspräche nicht nur dem Solidarprinzip, dass man für eine gemeinsame Politik gemeinsam bezahlt, sondern würde überdies wohl auch helfen, manche Vorbehalte in den ostmitteleuropäischen Ländern zu überwinden.

Sicher, eine solche Aufstockung des EU-Haushalts würde die Steuerzahler in den reichen Nettozahler-Ländern einige Milliarden kosten. Aber dafür bekämen wir die Chance zu einer Dublin-Reform, mit der Flüchtlinge besser zwischen den Mitgliedstaaten verteilt würden. Und über den Untergang des Schengen-Raums müssten wir auch nicht mehr sprechen.

Unter dem Motto #DontTouchMySchengen führen die Jungen Europäischen Föderalisten vom 1. bis 7. Februar europaweit Aktionen durch, um für den Erhalt der offenen Binnengrenzen zu demonstrieren. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.

Bilder: International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Junge Europäische Föderalisten.

19 Januar 2016

Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Reinhard Bütikofer. (Zum Anfang der Serie.)

„Europäische Parteien müssen beweisen, dass sie mehr zu bieten haben als die Summe ihrer Teile.“
Die Europawahl 2014 brachte für die in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten europäischen Parteien tatsächlich einen wegweisenden politischen Durchbruch. Von den Mitgliedsländern der EU zunächst unbeachtet und sträflich unterschätzt hatten sich die Führungen der Europäischen Volkspartei, der europäischen Sozialdemokratie, der europäischen Liberalen und der europäischen Grünen weit im Vorfeld der Wahl darauf verständigt, den Wahlkampf zu einer Entscheidung über die Person des künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission zu machen.

Diese zunächst in einem kleinen Kreis abgesprochene Strategie entwickelte, je näher der Wahltag kam, desto größere politische Dynamik und führte nach der Wahl des Europäischen Parlamentes dazu, dass sich die Mitglieder des Europäischen Rates, also die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer, diesem neuen Zug der Zeit nicht versagen konnten.

Europa ein Gesicht geben

Den vier europäischen Parteien kam zugute, dass die Idee, den Wahlkampf zu einer personalisierten Entscheidung über den künftigen Kommissionspräsident umzufunktionieren, dem weitverbreiteten Bedürfnis entgegenkam, Europa ein Gesicht zu geben. Die EVP wählte ihren Spitzenkandidaten für den Europawahlkampf, ihren Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, unter mehreren Bewerbern auf einem europäischen Parteikongress aus. Dabei ging es durchaus um unterschiedliche Profile der EVP; erfolgreich war Jean Claude Juncker, ein erfahrener Praktiker der europäischen Integration und ein Vertreter des Konzepts des „rheinischen“ Kapitalismus.

Bei den Sozialdemokraten manövrierte der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, so machtvoll, dass sich ihm keine Alternative entgegenstellte. Die Liberalen hatten ursprünglich zwei Bewerber, einigten sich dann aber auf den quirligen europäischen Föderalisten Guy Verhofstadt, einen ehemaligen belgischen Premierminister.

Die Europäische Grüne Partei wählte ihre zwei Spitzenkandidaten, Ska Keller und José Bové, in einem elektronischen Online-Primary aus. Auf der Strecke blieb dabei unter anderem die Vorsitzende der grünen Europafraktion, Rebecca Harms. Ska Keller entwickelte sich in den Debatten zwischen den Spitzenkandidaten der verschiedenen Parteien zu einem neuen Stern am grünen europäischen Himmel und gewann mit ihrer jugendlich-frischen und kompetenten Art ein starkes Profil. Auch die Europäische Linke schickte mit Alexis Tsipras einen Spitzenkandidaten ins Rennen.

Fortschritt der europäischen Demokratie

Die Wahrnehmung der Spitzenkandidaturen war in den verschiedenen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Deutschland spielte sie durchaus eine Rolle und trug dazu bei, die Wahlbeteiligung zu stabilisieren, die befürchteten Verluste der Grünen stark zu begrenzen und das Ergebnis der Sozialdemokratie deutlich zu steigern.

Alle europäischen Parteien, die an diesem bisher einmaligen Experiment teilnahmen, haben sich seither entschlossen gezeigt, diese Praxis auch in Zukunft zu wiederholen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie dabei durchaus noch auf Gegenwehr aus den Kreisen der Staats- und Regierungschefs treffen werden. Denn diese sahen sich nach der Europawahl 2014 unter dem Eindruck des Spitzenkandidatenwahlkampfes und des den Wahltag überdauernden Konsenses der europäischen Parteien gezwungen, die Legitimität des Kandidaten Juncker zu respektieren und diesen zum Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, obwohl das etlichen von ihnen zum Teil explizit, zum Teil implizit, nicht leicht fiel.

Für die europäischen Wählerinnen und Wähler brachte diese politische Neuerung entschiedene Vorteile. Was vorher in Hinterzimmern ausgehandelt worden war, die Entscheidung über die Kommissionsspitze, wurde nun in den öffentlichen Raum des Wahlkampfes verlegt und von der Realität parlamentarischer Mehrheiten abhängig gemacht. Das kann man gar nicht anders denn als einen Fortschritt der europäischen Demokratie bezeichnen.

Uneinigkeit bei der Wahlrechtsreform

Seit der Europawahl 2014 hat es nur in einem weiteren Fall ein gemeinsames Vorgehen europäischer Parteien gegeben: bei den Absprachen zwischen Sozialdemokratie und Christdemokratie über im Europäischen Parlament zu beantragende Veränderungen des europäischen Wahlrechts, insbesondere über die europaweite Einführung einer 3%-Hürde als Mindesterfordernis für einen Einzug ins Europaparlament.

Doch während Sozialdemokraten, Konservative und ein großer Teil der europäischen Liberalen dafür waren, widersprachen die Europäische Grüne Partei, die Linke und andere dem ausdrücklich. Es ist zu erwarten, dass die Uneinigkeit zwischen den verschiedenen europäischen Parteien es dem Ministerrat leichter machen wird, zu etlichen der vorgeschlagenen Reformen „Nein“ zu sagen.

Der Spitzenkandidatenerfolg von 2014 bleibt daher bis auf Weiteres eine Ausnahme. Das insgesamt sehr begrenzte Gewicht der europäischen Parteien in der europäischen Öffentlichkeit lässt sich auch daran ermessen, dass wohl kaum jemand eine oder einen der europäischen Parteivorsitzenden namentlich nennen könnte.

Parteigipfel werden wichtiger – und besser besucht

Auf einer anderen Ebene allerdings nehmen die europäischen Parteien an Gewicht zu: Ihre Rolle im Konzert der jeweiligen Parteifamilien wächst. Das kann man etwa an der Europäischen Grünen Partei deutlich zeigen. 2004 in Rom gegründet, verirrten sich in den ersten Jahren höchst selten politisch gewichtige Vertreter der bedeutenden nationalen Parteien auf die zweimal jährlich stattfindenden Ratstreffen.

Zu diesen „Gipfeltreffen“ kamen vorwiegend Vertreter aus der zweiten oder dritten Reihe der Mitgliedsparteien; etwaige inhaltliche Festlegungen wurden diplomatisch-vorsichtig in Konsensverfahren eingehegt; Hauptanliegen der Delegationen aus Ländern, in denen Grüne an der jeweiligen Regierung beteiligt waren, war es zumeist, dass europäische Positionsbestimmungen der heimischen Politik nicht in die Quere kommen.

Inzwischen finden unter guter Beteiligung regelmäßig Treffen mit den nationalen Parteiführungen statt. Inhaltliche Positionsbestimmungen werden im offenen demokratischen Meinungsstreit ausgetragen und entschieden. Positionen der Europäischen Grünen Partei beeinflussen nationale grüne Politik und entwickeln sogar ein Eigengewicht gegenüber der Arbeit der grünen Fraktion im Europäischen Parlament. Kandidaturen für den Vorstand der Europäischen Grünen Partei gelten mehr als früher und sind stärker umkämpft.

Mehr Gewicht gegenüber Fraktionen und nationalen Parteien

Die Europäische Grüne Partei hat 2015 zum ersten Mal außerhalb eines Wahlkampfes eine das Jahr über andauernde, mit den Mitgliedsparteien koordinierte, thematische Kampagne organisiert, die dem Klimawandel gewidmet war. In den drei gemeinsam geführten Europawahlkämpfen 2004, 2009 und 2014 stieg das Maß, in dem europäische Wahlkampfkoordination stattfand und die Arbeit der Europäischen Grünen Partei von Mitgliedsparteien genutzt wurde, jedes Mal an. Das für den Wahlkampf 2014 zusammen erarbeitete Manifest gilt weiterhin als gemeinsame Grundlage der Kooperation.

Ska Keller, MdEP, die im Europawahlkampf 2014 in insgesamt 15 europäischen Ländern öffentlich aufgetreten war, wird weiterhin von Parteien unterschiedlicher Mitgliedsländer gerne als europäisches grünes Gesicht auch für nationale Wahlkämpfe eingeladen. Die europäische Grüne Jugend (FYEG) spielt mit beachtlicher Kontinuität eine antreibende und integrative Rolle.

Von der Radnabe zum Netzwerk

Schwächen in der Arbeit der Europäischen Grünen Partei sind allerdings auch nicht zu übersehen. So gelingt es ihr bisher wenig, dafür zu sorgen, dass europapolitische und andere strategische Debatten der Mitgliedsparteien jeweils im Austausch mit Partnern aus anderen Mitgliedsländern geführt werden. Die europapolitische Gemeinsamkeit ist weitgehend eine der Parteiführungen und vielleicht der Fraktionsführungen, kaum noch ergänzt durch grenzüberschreitenden Austausch exemplarischer Erfahrungen zwischen Bürgermeistern und kommunalpolitischen Aktivisten.

Die Europäische Grüne Partei ist noch viel zu sehr ein Rad mit Brüssel als Nabe, die durch Speichen mit der Realität vor Ort verbunden ist, und viel zu wenig ein vielfältiges Netzwerk entsprechend konkreter Anlässe, viel zu selten eine Plattform für „Koalitionen der Willigen“ zwischen einzelnen Mitgliedsparteien und in nur geringem Umfang ein Angebot an europapolitisch Aktive vor Ort, sich direkt zu vernetzen und einzumischen.

Der erkennbare Fortschritt liegt aber, ironisch gesagt, darin, dass diese Schwächen inzwischen von den Mitgliedsparteien kritisch thematisiert werden. Und natürlich gibt es auch positive Beispiele, die hervorstechen: die Zahl der grünen Delegationen, die den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg besucht haben, um Erfahrungen auszutauschen, ist Legion. Ähnlich ergeht es dem grünen Bürgermeister von Grenoble, Eric Piolle. Das grüne Netzwerk europäischer Großstädte hat inzwischen einen verlässliche Kontinuität angenommen.

Europäische Parteien müssen mehr sein als die Summe ihrer Teile

Ausschlaggebend für die Entwicklung der Bedeutung der europäischen Parteien gegenüber den Mitgliedsparteien wie allgemein in der europäischen Öffentlichkeit sind aber weniger die Strukturen. Entscheidend ist, inwiefern die Parteien in der Lage sind, konstruktive Beiträge zur Überwindung der vielfältigen europäischen Spannung und Spaltungen zu den verschiedensten Themen zu leisten.

Bei der Europäischen Grünen Partei war, strukturell ähnlich wie im Europäischen Rat, nur natürlich bei Weitem nicht so scharf, die spontane Differenz in Sachen europäische Austeritätspolitik zwischen zum Beispiel Finnen und Deutschen auf der einen Seite sowie Spaniern und Griechen auf der anderen Seite unbestreitbar. Dass es nichtsdestotrotz gelang, eine gemeinsame Position zu entwickeln, die von dem Dreiklang Solidarität, Solidität, Nachhaltigkeit geprägt wurde, demonstrierte in diesem konkreten Fall den allseitigen Nutzen des europäischen Zusammenhangs umso deutlicher.

Im Fazit kann man sagen: Europäische Parteien werden sich durchsetzen, wenn sie in der Lage sind praktisch zu beweisen, dass sie für die künftige Orientierung des europäischen Projekts mehr zu bieten haben als die bloße Addition ihrer nationalen Bestandteile.

Reinhard Bütikofer ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Ko-Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bilder: Alternattiva Demokratika [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Reinhard Bütikofer [CC BY], via reinhardbuetikofer.eu.

15 Januar 2016

Die Zukunft der europäischen Parteien: Serienauftakt

Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.

Rote, Gelbe, Grüne und Blaue: Die europäische Parteienlandschaft ist bunt und vielen Bürgern unbekannt.
Die Europäische Union, ist häufig zu hören, sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg; es mangele an einer „politischen Union“. Fragt man nach, worin eine solche politische Union denn genau bestehen sollte, so heißt es oft, zuallererst einmal brauche man dafür „echte europäische Parteien“. Nur so könnten sich die Bürger europaweit gleichberechtigt in den europäischen Gesetzgebungsprozess einbringen, nur so stünde für gemeinsame Entscheidungen überall das gleiche Spektrum an politischen Optionen zur Verfügung, nur so könnte die europäische Ebene effektiv mit den Menschen vor Ort verbunden werden. Kurzum: Echte europäische Parteien sind das beste und vielleicht einzige Mittel, um die repräsentative Demokratie in das postnationale Zeitalter zu retten.

Europäische Parteien gibt es schon längst

Merkwürdig an dieser Diagnose ist allerdings, dass es europäische Parteien schon längst gibt. Sie heißen zum Beispiel Europäische Volkspartei (EVP), Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AEKR), Europäische Grüne Partei (EGP) oder Europäische Linke (EL). (Ein detaillierter Überblick ist hier zu finden.)

Als informelle Kontaktstellen für den Austausch zwischen ähnlich gesinnten nationalen Parteien entstanden, haben die europäischen Parteien im Lauf der Jahre immer mehr an politischem Gewicht und an rechtlicher Bedeutung gewonnen. Heute regelt eine Verordnung detailliert die Voraussetzungen zu ihrer Anerkennung und Registrierung sowie zur öffentlichen Parteienfinanzierung aus dem Haushalt der EU. Sie veröffentlichen vor der Europawahl Wahlprogramme und nominieren seit 2014 Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Sie verfügen sogar über parteinahe politische Stiftungen, die als Thinktanks und Organisatoren von Veranstaltungen fungieren.

Gewiss: Die meisten der europäischen Parteien setzen sich bis heute im Wesentlichen aus nationalen Mitgliedsparteien, nicht unmittelbar aus Einzelpersonen zusammen. Aber ist das nicht in föderalen Systemen so üblich? Auch die nationalen Parteien in Deutschland bestehen ja aus „Landesverbänden“ mit ihren jeweils eigenen regionalen Strukturen. Wenigstens auf den ersten Blick unterscheiden sich die heutigen europäischen Parteien in Aufbau und Funktionsweise jedenfalls nicht mehr allzu sehr von ihren Pendants auf nationaler Ebene.

Nationale Parteien strukturieren die politische Debatte

In der öffentlichen Wahrnehmung indessen könnten die Unterschiede kaum größer sein. Auf nationaler Ebene bilden die Parteien das wichtigste strukturierende Element in der politischen Debatte: Welche Partei in seinem Land gerade an der Regierung und welche in der Opposition ist, weiß jeder politisch interessierte Bürger; und wenn man herausfinden will, welche Vorschläge zu diesem oder jenem Thema politisch relevant werden, wandert der Blick meist auf Parteiprogramme und Parteitagsbeschlüsse.

Wenn Medien über Einzelpolitiker berichten, dann fügen sie zur besseren Einordnung oft in Klammern deren Parteizugehörigkeit an. Macht ein Politiker umstrittene Äußerungen oder legt ein skandalöses Verhalten an den Tag, so wird dies implizit meist auch seiner Partei zugerechnet. Und trotz steigender Politikverdrossenheit gehen die meisten Menschen nach wie vor davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob sie bei der nationalen Parlamentswahl ihr Kreuz bei dieser oder bei jener Partei setzen.

Europäische Parteien werden kaum wahrgenommen

Von den europäischen Parteien hingegen wüssten die meisten Bürger nicht einmal den Namen, geschweige denn, aus welchen und wie vielen Parteien sich eigentlich die derzeitige Europäische Kommission zusammensetzt. Auch in den Medien sind die europäischen Parteien kaum präsent, oft werden sie nicht einmal in der Berichterstattung über Abstimmungen im Europäischen Parlament erwähnt. Und wo sie doch einmal vorkommen, sprechen selbst Qualitätszeitungen meist lieber von „Parteienfamilien“ oder verwandeln gar den Namen der EVP in „europäische Volksparteien“ – ganz so, als könnte es eine „europäische Partei“ im Singular einfach nicht geben.

Aber auch wenn es um harte Entscheidungen geht, gelten die europäischen Parteien eher nicht als wesentlicher Orientierungspunkt. Obwohl sie etwa zur Eurokrise oder zur europäischen Flüchtlingspolitik klar unterscheidbare Vorschläge vertreten, dringen sie damit kaum durch. Dass nationale Politiker sich der Linie ihrer europäischen Partei gegenüber loyal verhalten müssten, wird nur selten als Erwartung geäußert.

Und umgekehrt ist auch die Bereitschaft, etwa von Angela Merkel (CDU/EVP), François Hollande (PS/SPE) oder David Cameron (Cons./AEKR) Rechenschaft für die Politik ihrer Parteifreunde Viktor Orbán (Fidesz/EVP), Robert Fico (Smer/SPE) und Jarosław Kaczyński (PiS/AEKR) abzuverlangen, deutlich schwächer ausgeprägt, als dies bei einer vergleichbaren Konstellation auf nationaler Ebene der Fall wäre.

Nationale Interessen prägen das Bild der EU

Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen stattdessen in der Regel die verschiedenen nationalen Regierungen. In der Grexit-Debatte vor einigen Monaten etwa war sehr viel von den Positionen Deutschlands, Italiens und Griechenlands die Rede und nur wenig von EVP, SPE oder EL. Ob zu Recht oder zu Unrecht: Nationale Interessen der Mitgliedstaaten, nicht die gesamteuropäischen Programme der Parteien prägen das Bild der EU-Politik, und als ausschlaggebend gilt eher das diplomatische Kräfteverhältnis der verschiedenen Länder – nicht das Votum der Wähler an den Urnen.

Insgesamt ist es also offenbar doch nicht so abwegig, dass die Europäische Union endlich „echte“ europäische Parteien bräuchte: Parteien, die ernst genommen werden, die in der Lage sind, die politische Debatte quer zu den nationalen Grenzen zu strukturieren, und die den Bürgern dadurch die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen europäischen Politikvorschlägen selbst eine demokratische Wahl zu treffen.

Welche Rolle sollen europäische Parteien künftig spielen?

Aber wie genau können die heutigen europäischen Parteien zu „echten“ Parteien werden? Welche Rolle sollten sie in der EU künftig einnehmen, und was müsste sich ändern, um dies zu erreichen? Inwieweit sind die Parteien auf Reformen in der Funktionsweise der EU angewiesen – etwa bei den Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments und für die Ernennung der Europäischen Kommission? Oder haben sie es auch selbst in der Hand, ihre Sichtbarkeit und ihre Bedeutung für das politische Leben in der EU zu erhöhen, zum Beispiel durch eine Neuordnung ihrer internen Strukturen und Abläufe?

Um diese Fragen soll es auf diesem Blog in den kommenden Wochen in einer Serie von Gastbeiträgen gehen. Politikerinnen und Politiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden darin beschreiben, wie sie die Zukunft der europäischen Parteien sehen. Den Anfang macht in Kürze Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäischen Parlaments und einer der beiden Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bild: Ulkoministeriön Eurooppatiedotus [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

07 Januar 2016

Was kann die EU für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen tun?

Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło schickt sich an, ein zweiter Viktor Orbán zu werden. Aber auch die EU hat aus der Causa Ungarn gelernt.
Seitdem in Polen vor knapp zwei Monaten die neue rechtskonservative Regierung unter Beata Szydło (PiS/AEKR) ins Amt kam, konnte man fast im Wochentakt neue schlechte Nachrichten lesen. Zunächst versuchte sie mit zweifelhaften Mitteln die Ernennung einiger unliebsamer Verfassungsrichter zu verhindern. Kurz darauf, als das Gericht dieses Vorgehen zurückwies, entmachtete sie es kurzerhand, indem sie es durch eine Verfahrensreform nahezu entscheidungsunfähig machte. Und zuletzt zog sie auch noch die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien an sich und drängte kritische Journalisten zum Rücktritt. Es kann kein Zweifel bestehen: Nach dem Ungarn von Viktor Orbán (Fidesz/EVP) sind die gemeinsamen Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nun auch in einem zweiten Mitgliedstaat der Europäischen Union in Gefahr.

Kritik aus SPE und EVP

Immerhin: Die Reaktion der EU-Partner ließ nicht allzu lange auf sich warten. Zunächst waren es vor allem Sozialdemokraten, die die Entwicklungen in Polen mit harten Worten kritisierten: Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE) sprach von einem „Staatsstreich-Charakter“; der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE) sah das Land auf einem „Kurs, den auch diktatorische Regime gegangen sind“. Der für Grundrechte zuständige Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) äußerte dann als erster EU-Vertreter in einem Schreiben an die polnische Regierung auch förmlich Bedenken.

Zuletzt war allerdings auch aus der Europäischen Volkspartei Kritik zu hören. Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) etwa bezeichnete die Politik der polnischen Regierung als „höchst problematisch“; der Kommissar für Digitale Wirtschaft Günther Oettinger (CDU/EVP) forderte gar, „Warschau unter Aufsicht zu stellen“. Diese härtere Gangart der Christdemokraten ist umso bemerkenswerter, als sie im vergleichbaren Fall Ungarn bis jetzt stets Viktor Orbán die Stange gehalten haben.

Der entscheidende Unterschied ist offenbar, dass Orbáns Fidesz selbst der Europäischen Volkspartei angehört, während die polnische Regierungspartei PiS auf europäischer Ebene Mitglied der rechtskonservativen AEKR ist. Szydłos einziger Parteifreund im Europäischen Rat ist deshalb der britische Regierungschef David Cameron (Cons./AEKR) – und der hat derzeit jedenfalls andere Sorgen.

Geschärfter Blick für die Handlungsoptionen der EU

Der Druck auf die polnische Regierung wächst also, und es ist gut möglich, dass sich die EU-Institutionen diesmal tatsächlich für Gegenmaßnahmen zum Schutz ihrer demokratischen Grundwerte entscheiden. Dabei könnte auch helfen, dass die Entwicklungen in Ungarn in den letzten Jahren gezeigt haben, wie schwer es fällt, eine einmal in Gang gekommene Autoritarismus-Spirale wieder zu stoppen.

Zudem hat die Debatte über Ungarn den Blick für die Optionen geschärft, die die EU im Umgang mit demokratisch problematischen Mitgliedstaaten hat. Diese Optionen sind begrenzt, aber sie existieren und sind nicht banal. Hier eine Übersicht.

Artikel 7 EUV: die „nukleare Option“

Die einzige Maßnahme gegen einen Mitgliedstaat auf demokratischen Abwegen, die explizit im EU-Vertrag genannt wird, ist zugleich die härtestmögliche: Art. 7 Abs. 2-3 EUV ermöglicht es, bei einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der EU-Grundwerte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“.

Welche Rechte dabei in Frage kommen, ist nicht weiter spezifiziert. Ausdrücklich erwähnt wird nur das Stimmrecht im Ministerrat; denkbar ist aber beispielsweise auch die Einbehaltung von EU-Fördermitteln, die dem Land eigentlich zustünden. Im Extremfall kommt Artikel 7 faktisch einem (im Vertrag nicht vorgesehenen) Ausschluss aus der EU gleich: Der betreffende Mitgliedstaat müsste zwar weiterhin alle Pflichten der Mitgliedschaft erfüllen, seine Rechte wären jedoch suspendiert.

Dass es jemals zur Anwendung dieser „nuklearen Option“ kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Voraussetzung dafür wäre nämlich, dass sich die Staats- und Regierungschefs aller übrigen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat einstimmig dazu entschließen. Der polnischen Regierung genügt ein einziger Verbündeter, um Sanktionen zu verhindern – beispielsweise Viktor Orbán.

Art. 7 Abs. 1 EUV: die nicht ganz so nukleare Option

Etwas realistischer ist hingegen die Anwendung einer Vorstufe der „nuklearen Option“, die in Art. 7 Abs. 1 EUV beschrieben wird. Demnach kann der Europäische Rat „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der EU-Grundwerte durch einen Mitgliedstaat feststellen. Anders als für die Sanktionen nach Abs. 2-3 ist dafür keine Einstimmigkeit, sondern nur eine Vier-Fünftel-Mehrheit notwendig. Die konkreten Auswirkungen einer solchen Feststellung halten sich allerdings in Grenzen: Der Europäische Rat kann auf dieser Grundlage lediglich „Empfehlungen“ an die betreffende Regierung richten, ohne dass es irgendwelche rechtlichen Folgen hätte, falls diese die Empfehlungen einfach ignoriert.

Worauf Art. 7 Abs. 1 EUV tatsächlich abzielt, ist deshalb eher ein Diskurs-Effekt. Sollten wirklich vier Fünftel der nationalen Regierungschefs einen ihrer Kollegen so klar brüskieren, so dürfte das in der öffentlichen Meinung des betroffenen Landes hohe Wellen schlagen – und, so die Hoffnung, demokratischen Kräften Auftrieb geben.

Gleichzeitig allerdings wäre bei einer solchen Maßnahme natürlich auch der diplomatische Fallout zwischen den Mitgliedstaaten gewaltig. Man müsste davon ausgehen, dass eine solcherart bloßgestellte Regierung bei nächster Gelegenheit zurückschlägt: Da sie weiterhin ihr Stimmrecht im Rat behält, könnte sie etwa Beschlüsse der EU-Außenpolitik blockieren, bei denen jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht hat. Darauf aber werden es die anderen Regierungschefs kaum ankommen lassen. Auch Art. 7 Abs. 1 EUV dürfte deshalb in der Realität kaum je zur Anwendung kommen.

Die Kommission wird aktiv: der „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“

In den letzten Jahren hat die Europäische Kommission deshalb ein neues, niedrigschwelligeres Verfahren entwickelt. Dieser neue „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ wurde im März 2014 präsentiert und sieht eine dreistufige Vorgehensweise vor: Im ersten Schritt sammelt die Kommission Material, formuliert in einem Schreiben ihre „Bedenken“ und gibt der betroffenen Regierung eine Möglichkeit zur Antwort. Ist die Kommission damit nicht zufrieden, veröffentlicht sie als zweiten Schritt eine „Empfehlung“ und setzt der Regierung eine Frist zur Umsetzung. Bleibt auch dies erfolglos, schlägt sie im dritten Schritt dem Europäischen Rat Maßnahmen nach Artikel 7 vor.

Auch der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus setzt also nicht auf harte Sanktionen, sondern auf diskursiven Druck – indem er zum einen Öffentlichkeit herstellt und zum anderen durch die langsame Eskalation eine Anwendung von Artikel 7 plausibler macht. Wenn die Kommission in ihrer Sitzung am kommenden Mittwoch beschließt, den Mechanismus gegen die polnische Regierung einzuleiten, wäre das also nur der erste Schritt auf einem längeren Weg, der vor allem in einer verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung über die europäischen Werte und die Lage in Polen bestünde.

Zweifel an der Legitimität der Kommission

Dass die Kommission in dieser Auseinandersetzung eine solch zentrale Rolle übernimmt, stieß zuletzt allerdings auch auf Kritik. Verschiedene Akteure bezweifeln ihre politische Legitimität, um die demokratische Qualität nationaler Regierungen zu überprüfen – mit Argumenten, die kaum gegensätzlicher sein könnten.

Auf der einen Seite wird der Kommission dabei vorgeworfen, dass sie selbst nicht demokratisch gewählt sei. In diesem Sinne reagierte etwa der polnische Außenminister Witold Waszczykowski (PiS/AEKR) vor einigen Tagen auf den Brief des Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans: „Da schreibt ein EU-Beamter, der durch politische Beziehungen ins Amt kam, einer demokratisch gewählten Regierung. Woher nimmt er das Recht dazu?“

Ein unabhängiger Grundrechtebeauftragter?

Auf der anderen Seite hingegen wird kritisiert, dass die Kommission in Wirklichkeit sehr wohl gewählt ist und sich deshalb nach bestimmten parteipolitischen Mustern zusammensetzt. Dies könnte dazu führen, dass mit bestimmten nationalen Regierungen härter umgesprungen werde als mit anderen – ein Vorwurf, der gerade angesichts des direkten Vergleichs mit dem EVP-Mitglied Viktor Orbán nicht unplausibel wirkt.

Verschiedentlich wurde deshalb in letzter Zeit vorgeschlagen, anstelle der Kommission andere Institutionen mit der Überwachung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten zu beauftragen. Die europäischen Grünen etwa forderten in ihrem Europawahlprogramm 2014 ein neues unabhängiges Spezialgremium, das ausschließlich zu diesem Zweck dienen sollte; die deutsche Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner buchstabierte diese Idee jüngst noch detaillierter aus. Der deutsche Europa-Staatssekretär Michael Roth (SPD/SPE) wiederum setzte sich bereits 2013 für die Einsetzung eines unabhängigen EU-Grundrechtebeauftragten ein.

Den EuGH ins Spiel bringen

Diese Vorschläge dürften allerdings nicht nur für den konkreten Problemfall Polen zu spät kommen; sie übersehen auch, dass es in der EU schon längst ein unabhängiges Organ gibt, das für die Durchsetzung von Rechtsstaatsprinzipien geradezu prädestiniert ist: den Europäischen Gerichtshof. Eine Reihe anderer Überlegungen stellte deshalb in den letzten Jahren die Frage in den Mittelpunkt, wie man im Umgang mit demokratisch problematischen Mitgliedstaaten den EuGH ins Spiel bringen könnte.

Ein Ansatz setzt dabei auf Vertragsverletzungsverfahren, mit denen die Europäische Kommission Mitgliedstaaten, die gegen EU-Recht verstoßen, vor dem EuGH verklagen kann. Im Zusammenhang mit geringeren Rechtsbrüchen gehören solche Verfahren längst zum europäischen Alltag. Verstöße gegen die Grundwerte in Art. 2 EUV jedoch wurden noch nie auf diese Weise geahndet – obwohl keine offensichtlichen rechtlichen Argumente dagegen sprechen.

Wie ein solches Vertragsverletzungsverfahren aussehen könnte, habe ich selbst Anfang 2013 auf diesem Blog skizziert; einige Monate später präsentierte die Rechtswissenschaftlerin Kim Lane Scheppele einen ähnlichen, detaillierteren Vorschlag. Ob der EuGH diesem Ansatz folgen und Art. 2 EUV tatsächlich als justiziabel ansehen würde, ist offen. Damit er sich dazu äußern kann, müsste allerdings erst einmal die Kommission ein entsprechendes Verfahren einleiten.

Einsatz der EU-Grundrechtecharta

Andere Ansätze wiederum versuchen gegen Übergriffe der nationalen Regierungen auf Rechtsstaatsprinzipien die EU-Grundrechtecharta zum Einsatz zu bringen, die 2009 mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft trat. Das Problem daran ist allerdings, dass die Charta nach ihrem Artikel 51 für die EU-Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt – also nicht bei rein nationalen Gesetzen.

Bereits 2012 präsentierte der Rechtswissenschaftler Armin von Bogdandy deshalb einen Vorschlag, der als „umgekehrte Solange-Doktrin“ bekannt wurde. Er spielt auf die Solange-Rechtsprechung an, mit der sich das deutsche Bundesverfassungsgericht für die Zukunft vorbehält, EU-Rechtsakte selbst auf die Einhaltung von Grundrechten zu überprüfen, falls die EU keinen eigenen wirksamen Grundrechtsschutz sicherstellen sollte. Bogdandy zufolge ließe sich dieses Prinzip auch umgekehrt anwenden, indem der EuGH sich selbst dafür zuständig erklärt, nationale Gesetze von Mitgliedstaaten, die auf nationaler Ebene keinen wirksamen Grundrechteschutz mehr bieten, anhand der EU-Grundrechtecharta zu überprüfen. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn wie jetzt in Polen das nationale Verfassungsgericht so entmachtet wird, dass es als Kontrollinstanz faktisch ausfällt.

Der EuGH ist diesem (aus juristischer Sicht recht gewagten) Schritt bislang nicht gefolgt. Er ging allerdings in den letzten Jahren ganz allgemein dazu über, den Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ und damit auch den Geltungsbereich der Grundrechtecharta sehr weit zu interpretieren. Damit haben sich die Richter einen Spielraum eröffnet, der sich wenigstens im Prinzip auch gegen grundrechtsfeindliche Maßnahmen der ungarischen oder polnischen Regierung nutzen lässt. Voraussetzung ist lediglich, dass sich ein Anknüpfungspunkt zwischen diesen Maßnahmen und einem Rechtsakt der Europäischen Union finden lässt.

Demokratie und Grundrechte gehören zum EU-Verfassungsrecht

Fazit: Dafür, dass sich die Europäische Union als „Wertegemeinschaft“ versteht, hat sie nicht allzu viele direkte Möglichkeiten, um die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten zu garantieren. Artikel 7 EUV, der scheinbar diese Funktion erfüllen soll, dürfte in der Praxis kaum je zur Anwendung kommen, und auch der neue „Rechtsstaatlichkeitsmechanismus“ der Kommission ist eher ein Werkzeug zur Anregung der öffentlichen Debatte als ein echtes Kontrollinstrument.

Ganz zahnlos ist die Union gegenüber den autoritären Versuchen in Polen trotzdem nicht. Vor allem der Europäische Gerichtshof hat das Potenzial, in dieser Sache künftig zu einem wichtigeren Akteur zu werden. Klar ist: Die gemeinsamen demokratischen Werte und die Grundrechte sind Bestandteil des europäischen Verfassungsrechts selbst. Es wäre nur logisch, wenn das höchste Gericht der EU die Aufgabe übernähme, über ihre Einhaltung auch in den Mitgliedstaaten zu wachen.

Bild: By Platforma Obywatelska RP [CC BY-SA 2.0], via Flickr.