EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Reinhard Bütikofer. (Zum Anfang der Serie.)
„Europäische Parteien müssen beweisen, dass sie mehr zu bieten haben als die Summe ihrer Teile.“
Die
Europawahl 2014 brachte für die in der Öffentlichkeit weitgehend
unbekannten europäischen Parteien tatsächlich einen wegweisenden
politischen Durchbruch. Von den Mitgliedsländern der EU zunächst
unbeachtet und sträflich unterschätzt hatten sich die Führungen
der Europäischen Volkspartei, der europäischen Sozialdemokratie,
der europäischen Liberalen und der europäischen Grünen weit im
Vorfeld der Wahl darauf verständigt, den Wahlkampf zu einer
Entscheidung über die Person des künftigen Präsidenten der
Europäischen Kommission zu machen.
Diese zunächst in einem kleinen
Kreis abgesprochene Strategie entwickelte, je näher der Wahltag kam,
desto größere politische Dynamik und führte nach der Wahl des
Europäischen Parlamentes dazu, dass sich die Mitglieder des
Europäischen Rates, also die Staats- und Regierungschefs der
EU-Mitgliedsländer, diesem neuen Zug der Zeit nicht versagen
konnten.
Europa
ein Gesicht geben
Den
vier europäischen Parteien kam zugute, dass die Idee, den Wahlkampf
zu einer personalisierten Entscheidung über den künftigen
Kommissionspräsident umzufunktionieren, dem weitverbreiteten
Bedürfnis entgegenkam, Europa ein Gesicht zu geben. Die EVP wählte
ihren Spitzenkandidaten für den Europawahlkampf, ihren Kandidaten
für das Amt des Kommissionspräsidenten, unter mehreren Bewerbern
auf einem europäischen Parteikongress aus. Dabei ging es durchaus um
unterschiedliche Profile der EVP; erfolgreich war Jean Claude
Juncker, ein erfahrener Praktiker der europäischen Integration und
ein Vertreter des Konzepts des „rheinischen“ Kapitalismus.
Bei
den Sozialdemokraten manövrierte der deutsche Präsident des
Europäischen Parlaments, Martin Schulz, so machtvoll, dass sich ihm
keine Alternative entgegenstellte. Die Liberalen hatten ursprünglich
zwei Bewerber, einigten sich dann aber auf den quirligen europäischen
Föderalisten Guy Verhofstadt, einen ehemaligen belgischen
Premierminister.
Die
Europäische Grüne Partei wählte ihre zwei Spitzenkandidaten, Ska
Keller und José Bové, in einem elektronischen Online-Primary aus.
Auf der Strecke blieb dabei unter anderem die Vorsitzende der grünen
Europafraktion, Rebecca Harms. Ska Keller entwickelte sich in den
Debatten zwischen den Spitzenkandidaten der verschiedenen Parteien zu
einem neuen Stern am grünen europäischen Himmel und gewann mit
ihrer jugendlich-frischen und kompetenten Art ein starkes Profil. Auch
die Europäische Linke schickte mit Alexis Tsipras einen
Spitzenkandidaten ins Rennen.
Fortschritt
der europäischen Demokratie
Die
Wahrnehmung der Spitzenkandidaturen war in den verschiedenen
Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Deutschland
spielte sie durchaus eine Rolle und trug dazu bei, die
Wahlbeteiligung zu stabilisieren, die befürchteten Verluste der
Grünen stark zu begrenzen und das Ergebnis der Sozialdemokratie
deutlich zu steigern.
Alle
europäischen Parteien, die an diesem bisher einmaligen Experiment
teilnahmen, haben sich seither entschlossen gezeigt, diese Praxis
auch in Zukunft zu wiederholen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie
dabei durchaus noch auf Gegenwehr aus den Kreisen der Staats- und
Regierungschefs treffen werden. Denn diese sahen sich nach der
Europawahl 2014 unter dem Eindruck des Spitzenkandidatenwahlkampfes
und des den Wahltag überdauernden Konsenses der europäischen
Parteien gezwungen, die Legitimität des Kandidaten Juncker zu
respektieren und diesen zum Kommissionspräsidenten vorzuschlagen,
obwohl das etlichen von ihnen zum Teil explizit, zum Teil implizit,
nicht leicht fiel.
Für
die europäischen Wählerinnen und Wähler brachte diese politische
Neuerung entschiedene Vorteile. Was vorher in Hinterzimmern
ausgehandelt worden war, die Entscheidung über die
Kommissionsspitze, wurde nun in den öffentlichen Raum des
Wahlkampfes verlegt und von der Realität parlamentarischer
Mehrheiten abhängig gemacht. Das kann man gar nicht anders denn als
einen Fortschritt der europäischen Demokratie bezeichnen.
Uneinigkeit
bei der Wahlrechtsreform
Seit
der Europawahl 2014 hat es nur in einem weiteren Fall ein gemeinsames
Vorgehen europäischer Parteien gegeben: bei den Absprachen zwischen
Sozialdemokratie und Christdemokratie über im Europäischen
Parlament zu beantragende Veränderungen des europäischen
Wahlrechts, insbesondere über die europaweite Einführung einer
3%-Hürde als Mindesterfordernis für einen Einzug ins
Europaparlament.
Doch
während Sozialdemokraten, Konservative und ein großer Teil der
europäischen Liberalen dafür waren, widersprachen die Europäische
Grüne Partei, die Linke und andere dem ausdrücklich. Es ist zu
erwarten, dass die Uneinigkeit zwischen den verschiedenen
europäischen Parteien es dem Ministerrat leichter machen wird, zu
etlichen der vorgeschlagenen Reformen „Nein“ zu sagen.
Der
Spitzenkandidatenerfolg von 2014 bleibt daher bis auf Weiteres eine
Ausnahme. Das insgesamt sehr begrenzte Gewicht der europäischen
Parteien in der europäischen Öffentlichkeit lässt sich auch daran
ermessen, dass wohl kaum jemand eine oder einen der europäischen
Parteivorsitzenden namentlich nennen könnte.
Parteigipfel
werden wichtiger – und besser besucht
Auf
einer anderen Ebene allerdings nehmen die europäischen Parteien an
Gewicht zu: Ihre Rolle im Konzert der jeweiligen Parteifamilien
wächst. Das kann man etwa an der Europäischen Grünen Partei
deutlich zeigen. 2004 in Rom gegründet, verirrten sich in den ersten
Jahren höchst selten politisch gewichtige Vertreter der bedeutenden
nationalen Parteien auf die zweimal jährlich stattfindenden
Ratstreffen.
Zu
diesen „Gipfeltreffen“ kamen vorwiegend Vertreter aus der zweiten
oder dritten Reihe der Mitgliedsparteien; etwaige inhaltliche
Festlegungen wurden diplomatisch-vorsichtig in Konsensverfahren
eingehegt; Hauptanliegen der Delegationen aus Ländern, in denen
Grüne an der jeweiligen Regierung beteiligt waren, war es zumeist,
dass europäische Positionsbestimmungen der heimischen Politik nicht
in die Quere kommen.
Inzwischen
finden unter guter Beteiligung regelmäßig Treffen mit den
nationalen Parteiführungen statt. Inhaltliche Positionsbestimmungen
werden im offenen demokratischen Meinungsstreit ausgetragen und
entschieden. Positionen der Europäischen Grünen Partei beeinflussen
nationale grüne Politik und entwickeln sogar ein Eigengewicht
gegenüber der Arbeit der grünen Fraktion im Europäischen
Parlament. Kandidaturen für den Vorstand der Europäischen Grünen
Partei gelten mehr als früher und sind stärker umkämpft.
Mehr
Gewicht gegenüber Fraktionen und nationalen Parteien
Die
Europäische Grüne Partei hat 2015 zum ersten Mal außerhalb eines
Wahlkampfes eine das Jahr über andauernde, mit den
Mitgliedsparteien koordinierte, thematische Kampagne organisiert, die
dem Klimawandel gewidmet war. In den drei gemeinsam geführten
Europawahlkämpfen 2004, 2009 und 2014 stieg das Maß, in dem
europäische Wahlkampfkoordination stattfand und die Arbeit der
Europäischen Grünen Partei von Mitgliedsparteien genutzt wurde,
jedes Mal an. Das für den Wahlkampf 2014 zusammen erarbeitete
Manifest gilt weiterhin als gemeinsame Grundlage der Kooperation.
Ska
Keller, MdEP, die im Europawahlkampf 2014 in insgesamt 15
europäischen Ländern öffentlich aufgetreten war, wird weiterhin
von Parteien unterschiedlicher Mitgliedsländer gerne als
europäisches grünes Gesicht auch für nationale Wahlkämpfe
eingeladen. Die europäische Grüne Jugend (FYEG) spielt mit
beachtlicher Kontinuität eine antreibende und integrative Rolle.
Von
der Radnabe zum Netzwerk
Schwächen
in der Arbeit der Europäischen Grünen Partei sind allerdings auch
nicht zu übersehen. So gelingt es ihr bisher wenig, dafür zu
sorgen, dass europapolitische und andere strategische Debatten der
Mitgliedsparteien jeweils im Austausch mit Partnern aus anderen
Mitgliedsländern geführt werden. Die europapolitische Gemeinsamkeit
ist weitgehend eine der Parteiführungen und vielleicht der
Fraktionsführungen, kaum noch ergänzt durch grenzüberschreitenden
Austausch exemplarischer Erfahrungen zwischen Bürgermeistern und
kommunalpolitischen Aktivisten.
Die
Europäische Grüne Partei ist noch viel zu sehr ein Rad mit Brüssel
als Nabe, die durch Speichen mit der Realität vor Ort verbunden ist,
und viel zu wenig ein vielfältiges Netzwerk entsprechend konkreter
Anlässe, viel zu selten eine Plattform für „Koalitionen der
Willigen“ zwischen einzelnen Mitgliedsparteien und in nur geringem
Umfang ein Angebot an europapolitisch Aktive vor Ort, sich direkt zu
vernetzen und einzumischen.
Der
erkennbare Fortschritt liegt aber, ironisch gesagt, darin, dass diese
Schwächen inzwischen von den Mitgliedsparteien kritisch thematisiert
werden. Und natürlich gibt es auch positive Beispiele, die
hervorstechen: die Zahl der grünen Delegationen, die den grünen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg
besucht haben, um Erfahrungen auszutauschen, ist Legion. Ähnlich
ergeht es dem grünen Bürgermeister von Grenoble, Eric Piolle. Das
grüne Netzwerk europäischer Großstädte hat inzwischen einen
verlässliche Kontinuität angenommen.
Europäische
Parteien müssen mehr sein als die Summe ihrer Teile
Ausschlaggebend
für die Entwicklung der Bedeutung der europäischen Parteien
gegenüber den Mitgliedsparteien wie allgemein in der europäischen
Öffentlichkeit sind aber weniger die Strukturen. Entscheidend ist,
inwiefern die Parteien in der Lage sind, konstruktive Beiträge zur
Überwindung der vielfältigen europäischen Spannung und Spaltungen
zu den verschiedensten Themen zu leisten.
Bei
der Europäischen Grünen Partei war, strukturell ähnlich wie im
Europäischen Rat, nur natürlich bei Weitem nicht so scharf, die
spontane Differenz in Sachen europäische Austeritätspolitik
zwischen zum Beispiel Finnen und Deutschen auf der einen Seite sowie
Spaniern und Griechen auf der anderen Seite unbestreitbar. Dass es
nichtsdestotrotz gelang, eine gemeinsame Position zu entwickeln, die
von dem Dreiklang Solidarität, Solidität, Nachhaltigkeit geprägt
wurde, demonstrierte in diesem konkreten Fall den allseitigen Nutzen
des europäischen Zusammenhangs umso deutlicher.
Im
Fazit kann man sagen: Europäische Parteien werden sich durchsetzen,
wenn sie in der Lage sind praktisch zu beweisen, dass sie für die
künftige Orientierung des europäischen Projekts mehr zu bieten
haben als die bloße Addition ihrer nationalen Bestandteile.