15 Januar 2016

Die Zukunft der europäischen Parteien: Serienauftakt

Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.

Rote, Gelbe, Grüne und Blaue: Die europäische Parteienlandschaft ist bunt und vielen Bürgern unbekannt.
Die Europäische Union, ist häufig zu hören, sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg; es mangele an einer „politischen Union“. Fragt man nach, worin eine solche politische Union denn genau bestehen sollte, so heißt es oft, zuallererst einmal brauche man dafür „echte europäische Parteien“. Nur so könnten sich die Bürger europaweit gleichberechtigt in den europäischen Gesetzgebungsprozess einbringen, nur so stünde für gemeinsame Entscheidungen überall das gleiche Spektrum an politischen Optionen zur Verfügung, nur so könnte die europäische Ebene effektiv mit den Menschen vor Ort verbunden werden. Kurzum: Echte europäische Parteien sind das beste und vielleicht einzige Mittel, um die repräsentative Demokratie in das postnationale Zeitalter zu retten.

Europäische Parteien gibt es schon längst

Merkwürdig an dieser Diagnose ist allerdings, dass es europäische Parteien schon längst gibt. Sie heißen zum Beispiel Europäische Volkspartei (EVP), Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AEKR), Europäische Grüne Partei (EGP) oder Europäische Linke (EL). (Ein detaillierter Überblick ist hier zu finden.)

Als informelle Kontaktstellen für den Austausch zwischen ähnlich gesinnten nationalen Parteien entstanden, haben die europäischen Parteien im Lauf der Jahre immer mehr an politischem Gewicht und an rechtlicher Bedeutung gewonnen. Heute regelt eine Verordnung detailliert die Voraussetzungen zu ihrer Anerkennung und Registrierung sowie zur öffentlichen Parteienfinanzierung aus dem Haushalt der EU. Sie veröffentlichen vor der Europawahl Wahlprogramme und nominieren seit 2014 Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Sie verfügen sogar über parteinahe politische Stiftungen, die als Thinktanks und Organisatoren von Veranstaltungen fungieren.

Gewiss: Die meisten der europäischen Parteien setzen sich bis heute im Wesentlichen aus nationalen Mitgliedsparteien, nicht unmittelbar aus Einzelpersonen zusammen. Aber ist das nicht in föderalen Systemen so üblich? Auch die nationalen Parteien in Deutschland bestehen ja aus „Landesverbänden“ mit ihren jeweils eigenen regionalen Strukturen. Wenigstens auf den ersten Blick unterscheiden sich die heutigen europäischen Parteien in Aufbau und Funktionsweise jedenfalls nicht mehr allzu sehr von ihren Pendants auf nationaler Ebene.

Nationale Parteien strukturieren die politische Debatte

In der öffentlichen Wahrnehmung indessen könnten die Unterschiede kaum größer sein. Auf nationaler Ebene bilden die Parteien das wichtigste strukturierende Element in der politischen Debatte: Welche Partei in seinem Land gerade an der Regierung und welche in der Opposition ist, weiß jeder politisch interessierte Bürger; und wenn man herausfinden will, welche Vorschläge zu diesem oder jenem Thema politisch relevant werden, wandert der Blick meist auf Parteiprogramme und Parteitagsbeschlüsse.

Wenn Medien über Einzelpolitiker berichten, dann fügen sie zur besseren Einordnung oft in Klammern deren Parteizugehörigkeit an. Macht ein Politiker umstrittene Äußerungen oder legt ein skandalöses Verhalten an den Tag, so wird dies implizit meist auch seiner Partei zugerechnet. Und trotz steigender Politikverdrossenheit gehen die meisten Menschen nach wie vor davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob sie bei der nationalen Parlamentswahl ihr Kreuz bei dieser oder bei jener Partei setzen.

Europäische Parteien werden kaum wahrgenommen

Von den europäischen Parteien hingegen wüssten die meisten Bürger nicht einmal den Namen, geschweige denn, aus welchen und wie vielen Parteien sich eigentlich die derzeitige Europäische Kommission zusammensetzt. Auch in den Medien sind die europäischen Parteien kaum präsent, oft werden sie nicht einmal in der Berichterstattung über Abstimmungen im Europäischen Parlament erwähnt. Und wo sie doch einmal vorkommen, sprechen selbst Qualitätszeitungen meist lieber von „Parteienfamilien“ oder verwandeln gar den Namen der EVP in „europäische Volksparteien“ – ganz so, als könnte es eine „europäische Partei“ im Singular einfach nicht geben.

Aber auch wenn es um harte Entscheidungen geht, gelten die europäischen Parteien eher nicht als wesentlicher Orientierungspunkt. Obwohl sie etwa zur Eurokrise oder zur europäischen Flüchtlingspolitik klar unterscheidbare Vorschläge vertreten, dringen sie damit kaum durch. Dass nationale Politiker sich der Linie ihrer europäischen Partei gegenüber loyal verhalten müssten, wird nur selten als Erwartung geäußert.

Und umgekehrt ist auch die Bereitschaft, etwa von Angela Merkel (CDU/EVP), François Hollande (PS/SPE) oder David Cameron (Cons./AEKR) Rechenschaft für die Politik ihrer Parteifreunde Viktor Orbán (Fidesz/EVP), Robert Fico (Smer/SPE) und Jarosław Kaczyński (PiS/AEKR) abzuverlangen, deutlich schwächer ausgeprägt, als dies bei einer vergleichbaren Konstellation auf nationaler Ebene der Fall wäre.

Nationale Interessen prägen das Bild der EU

Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen stattdessen in der Regel die verschiedenen nationalen Regierungen. In der Grexit-Debatte vor einigen Monaten etwa war sehr viel von den Positionen Deutschlands, Italiens und Griechenlands die Rede und nur wenig von EVP, SPE oder EL. Ob zu Recht oder zu Unrecht: Nationale Interessen der Mitgliedstaaten, nicht die gesamteuropäischen Programme der Parteien prägen das Bild der EU-Politik, und als ausschlaggebend gilt eher das diplomatische Kräfteverhältnis der verschiedenen Länder – nicht das Votum der Wähler an den Urnen.

Insgesamt ist es also offenbar doch nicht so abwegig, dass die Europäische Union endlich „echte“ europäische Parteien bräuchte: Parteien, die ernst genommen werden, die in der Lage sind, die politische Debatte quer zu den nationalen Grenzen zu strukturieren, und die den Bürgern dadurch die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen europäischen Politikvorschlägen selbst eine demokratische Wahl zu treffen.

Welche Rolle sollen europäische Parteien künftig spielen?

Aber wie genau können die heutigen europäischen Parteien zu „echten“ Parteien werden? Welche Rolle sollten sie in der EU künftig einnehmen, und was müsste sich ändern, um dies zu erreichen? Inwieweit sind die Parteien auf Reformen in der Funktionsweise der EU angewiesen – etwa bei den Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments und für die Ernennung der Europäischen Kommission? Oder haben sie es auch selbst in der Hand, ihre Sichtbarkeit und ihre Bedeutung für das politische Leben in der EU zu erhöhen, zum Beispiel durch eine Neuordnung ihrer internen Strukturen und Abläufe?

Um diese Fragen soll es auf diesem Blog in den kommenden Wochen in einer Serie von Gastbeiträgen gehen. Politikerinnen und Politiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden darin beschreiben, wie sie die Zukunft der europäischen Parteien sehen. Den Anfang macht in Kürze Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europäischen Parlaments und einer der beiden Vorsitzenden der Europäischen Grünen Partei.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bild: Ulkoministeriön Eurooppatiedotus [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

4 Kommentare:

  1. << Fragt man nach, worin eine solche politische Union denn genau bestehen sollte, so heißt es oft, zuallererst einmal brauche man dafür „echte europäische Parteien“. >>

    Naja, ne. Für eine politische Union braucht es politische Macht. Politische Macht stützt sich für gewöhnlich auf Militär, Polizei und Finanzamt. In zweiter Linie dann auf Medien und Schulen.

    Entsprechend werden dann ja auch gelegentlich eine europäische Armee, gerade wieder ein europäischer Rundfunk und mitunter - und das befürworte ich - europäische Steuern gefordert.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Na, immerhin scheinen die Konzepte "politische Union" und "echte europäische Parteien" doch immer wieder zusammengedacht zu werden...

      Löschen
  2. Kann ich unterschreiben. Freue mich auf die Reihe!

    AntwortenLöschen
  3. In der kanadischen Politikwissenschaft gibt es das interessante Konzept der Cross-Level Consistency (d.h. Wie Parteien über Regierungsebenen hinweg kohärent bleiben bzw. die gleiche Wählerschaft ansprechen). In Kanada ist die "Inconsistency" aufgrund des Mehrheitswahlrechts nach britischem Muster zwischen der Provinz- und der Bundesebene besonders ausgeprägt. Teilweise gibt es zwischen den beiden Ebenen völlig unterschiedliche Parteien.

    AntwortenLöschen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.