- Aus Angst vor Flüchtlingen stellen Europas Regierungen die offenen Binnengrenzen in Frage. Aber ist das wirklich unvermeidbar?
Schengen
ist in Gefahr. Der europaweite Raum der Reisefreiheit ohne
Grenzkontrollen droht zu zerbröckeln. Nach dem offiziellen
Überblick der EU-Kommission haben seit letztem Herbst nicht
weniger als neun Mitgliedstaaten vorübergehend wieder
Grenzkontrollen eingeführt; aktuell sind diese noch in sechs Ländern
in Kraft: in Deutschland und Österreich seit vergangenem September,
in Frankreich, Schweden und Norwegen seit November, in Dänemark seit
dem 4. Januar. Niemals zuvor in der Geschichte des Schengen-Systems
hatte es eine so lang andauernde Dauerschließung gegeben – und
erst recht nicht von so vielen Ländern zugleich.
Infolgedessen
mehren sich inzwischen die apokalyptischen Warnungen:
EU-Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) etwa sprach vor kurzem von
einem
Zeitraum von zwei Monaten, innerhalb dessen eine Lösung gefunden
werden müsse, um „den Kollaps des Schengen-Raums“ zu verhindern.
Kommissionschef Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sah in der Konsequenz
sogar den
europäischen Binnenmarkt in Gefahr. Unabhängig davon, ob man
sich diesen Einschätzungen im Einzelnen anschließt: Mit der
Reisefreiheit geht es, so viel ist klar, um eine zentrale
Errungenschaft der europäischen Integration. Wie aber lässt sich
Schengen retten?
Die Schengen-Krise ist eine
Krise des EU-Asylsystems
Dass
die derzeitige Schengen-Krise eigentlich eine Krise des europäischen
Asylsystems ist, dürfte ein Gemeinplatz sein. Um die heutigen
Probleme zu verstehen, lohnt es sich dennoch, ihre Entstehung noch
einmal zu rekapitulieren. Ihr Ausgangspunkt ist die
berühmt-berüchtigte Dublin-Verordnung
(Wortlaut),
der zufolge Flüchtlinge einen Asylantrag in der Regel in jenem
Mitgliedstaat stellen müssen, in dem sie als Erstes das Territorium
der EU erreicht haben. Reisen sie in ein anderes Land weiter, können
sie von dort in das Ersteintrittsland zurück abgeschoben werden. Um
das zu kontrollieren, sind die Grenzländer verpflichtet, alle
ankommenden Flüchtlinge zu registrieren und ihre Fingerabdrücke in
einer europaweiten Datenbank zu speichern.
Diese
Regelung führte zu einem massiven Ungleichgewicht in der
Flüchtlingsverteilung: Während die südlichen Grenzstaaten, vor
allem Italien und Griechenland, sehr viele Asylanträge zu bearbeiten
haben, sind die nördlichen Staaten kaum betroffen – sofern sie
nicht freiwillig zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind. (Spanien
wiederum zog sich durch eine enge Zusammenarbeit mit dem nordafrikanischen Nachbarn Marokko aus der Affäre, trotz
dessen zweifelhaftem Umgang mit den Menschenrechten von
Flüchtlingen.)
Italien
und Griechenland
Die
übermäßige Belastung Italiens und Griechenlands – und die
Weigerung der nördlichen Staaten, das Dublin-System zugunsten einer
faireren Verteilung zu reformieren – führte schon in der
Vergangenheit verschiedentlich
zu Krisen. Zu einem ersten Eklat kam es 2011, als infolge des
arabischen Frühlings die Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika
sprunghaft anstieg. Statt diese Flüchtlinge zu registrieren, begann
die italienische Regierung damals, ihnen Touristenvisa auszustellen
oder sie einfach untertauchen zu lassen, in der Hoffnung, dass sie in
andere EU-Länder weiterreisen und nicht nach Italien zurückkehren
würden.
Ebenfalls
im Jahr 2011 urteilte
außerdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die
Lage von Asylbewerbern in Griechenland sei so schlecht, dass eine
Abschiebung dorthin im Rahmen des Dublin-Systems nicht erlaubt sei.
(2014 folgte auch für Italien ein
ähnliches, etwas schwächeres Urteil.) Flüchtlinge müssen zwar
trotzdem weiterhin in Griechenland ihren Asylantrag stellen, wenn sie
vom dortigen Grenzschutz aufgegriffen und registriert werden. Gelingt
es ihnen aber, Griechenland unbemerkt zu durchqueren und ein anderes
EU-Land zu erreichen, müssen sie nicht nach Griechenland zurück –
was sowohl in ihrem eigenen als auch im griechischen Interesse ist.
Streit
um die Flüchtlingsquote
Und
an dieser Stelle kommt nun das Schengen-System ins Spiel. Die
Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern, die seit Sommer 2015 zu
Hunderttausenden Europa erreichten, wollen zum größten Teil nicht
in Griechenland oder Italien bleiben, sondern in andere
Mitgliedstaaten, besonders Deutschland und Schweden, weiterreisen. Dies lag
zum einen an deren liberaleren Aufnahmepraxis und den besseren
Bedingungen für Asylbewerber, zum anderen aber auch daran, dass es
in diesen beiden Ländern inzwischen bereits größere syrische
Gemeinschaften gibt, von denen sich die Neuankömmlinge Orientierung
und Hilfe versprechen. Auch die drastische Verschärfung des
deutschen und schwedischen Asylrechts in den letzten Monaten dürfte
deshalb nicht allzu viel an den innereuropäischen
Flüchtlingsbewegungen ändern.
Infolgedessen
drängen seit 2015 nicht mehr nur Italien und Griechenland, sondern
unter anderem auch Deutschland, Schweden und die Europäische Kommission auf eine
EU-weite Asylbewerber-Umverteilung nach festen Länderquoten (ein
Überblick über alle nationalen Positionen findet sich hier).
Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, war Deutschland im
September 2015 das erste Land, das mit
Verweis auf die Flüchtlingskrise einseitig die Schengener
Reisefreiheit suspendierte – allerdings mit bescheidenem Erfolg. Vor allem
die ostmitteleuropäischen Staaten, in die fast überhaupt keine
Flüchtlinge einreisen, verweigern sich weiterhin jeder Reform des
Dublin-Systems.
Selbst
die einmalige Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen war im letzten
Herbst deshalb nur
mit einer umstrittenen Mehrheitsabstimmung im Rat zu erreichen
und ist bis heute nicht umgesetzt. Die Slowakei und Ungarn reichten
vor dem Europäischen Gerichtshof sogar Klagen
gegen den Beschluss ein. Auch wenn die Kommission jüngst noch
einmal einen
neuen Vorstoß angekündigt hat – konkrete Vorschläge sollen
im März folgen –, scheint die Dublin-Reform wenigstens im
Moment in einer Sackgasse zu stecken.
Hotspots
zur Erstaufnahme und Registrierung
Schon
seit einiger Zeit scheinen sich die Bemühungen Deutschlands und
seiner nördlichen Partner deshalb eher auf ein anderes Ziel zu
konzentrieren: einen effektiveren Schutz der Schengen-Außengrenzen.
Im Mittelpunkt stehen dabei neue
Erstaufnahme-Zentren, sogenannte „Hotspots“, die in
Griechenland und Italien eingerichtet werden sollen. Sämtliche neu
ankommenden Flüchtlinge sollen künftig zunächst in diesen Zentren
aufgenommen und registriert werden. Große Zahlen undokumentierter
Migranten, die wie im letzten Herbst ohne Papiere und Registrierung
quer durch Europa ziehen, soll es dadurch künftig nicht mehr geben.
Geplant sind derzeit elf solche Zentren, von denen drei bereits in
Betrieb sind; die übrigen sollen in den nächsten Wochen folgen.
Das
Problem daran: Ohne einen wirksamen Verteilungsmechanismus haben
weder Italien noch Griechenland ein Interesse daran, diese Hotspots
tatsächlich funktionsfähig zu machen – denn nach dem
Dublin-System wären sie dann schließlich für die Bearbeitung der
dort gestellten Asylanträge verantwortlich. In der Darstellung der
EU-Kommission dienen die Hotspots deshalb vor allem jener schon im
Herbst beschlossenen Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Doch
wenn die Einwanderung nach Europa 2016 auch nur annähernd das Maß
von 2015 erreicht, dürfte dieses Kontingent spätestens in wenigen
Monaten erschöpft sein.
EU-Grenzschutz gegen den Willen der Mitgliedstaaten?
Dem
zuständigen EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos (ND/EVP) zufolge
ist das Hauptproblem schon heute, dass die griechischen und
italienischen Grenzschutzbehörden kaum
Flüchtlinge in die Hotspots bringen – aus Sorge, dass diese zu
„geschlossenen Zentren“ würden, für die letztlich doch wieder
sie die Verantwortung trügen. Stattdessen scheinen sie weiter darauf
zu setzen, Flüchtlinge nach Möglichkeit einfach zu „übersehen“
und unregistriert weiterziehen zu lassen, auch wenn das natürlich
gegen ihre Pflicht zur Sicherung der Schengen-Außengrenzen verstößt.
Im
Dezember präsentierte die Europäische Kommission deshalb noch eine
weitere Initiative: Geht es nach ihren Vorstellungen, soll die
EU-Grenzschutzagentur Frontex künftig selbst operativ
tätig werden können – und zwar auch gegen den Willen des
betroffenen Staates. Offiziell als eine Art aufgezwungene
europäische Hilfe für „überforderte“ nationale
Grenzschutzbehörden dargestellt, soll dieser Vorschlag
offensichtlich vor allem eine Sabotage der Flüchtlingsregistrierung
durch die Ersteintrittsländer verhindern. Infolgedessen wurde er von
Deutschland und Frankreich unterstützt, von den meisten Grenzstaaten
aber unter Verweis auf ihre nationale Souveränität abgelehnt. Eine
Entscheidung darüber soll auf dem Europäischen Rat im kommenden
Juni fallen.
Ostmitteleuropa von der Dublin-Reform überzeugen
Wie
aber lässt sich Schengen nun retten? Selbst wenn der Plan, künftig
Frontex die Überwachung der Außengrenzen übernehmen zu lassen,
Erfolg hat: Auf die Dauer kann es keine Lösung sein, die
Verantwortung für die eintreffenden Asylbewerber wieder komplett auf
Griechenland und Italien abzuwälzen. Und auch die parallele
Strategie der EU, die Türkei als Partner zu gewinnen, damit
Flüchtlinge gar nicht erst europäischen Boden erreichen, ist
überaus zweifelhaft – schon allein, weil sich die EU damit von
einer Regierung abhängig macht, die in jüngerer Zeit in
eine bedrohliche Spirale von Autoritarismus und Gewalt eingetreten
ist.
Die
besten Chancen dürften deshalb trotz allem darin bestehen, die
Dublin-Reform endlich zum Erfolg zu bringen und doch noch eine
dauerhafte Umverteilung von Flüchtlingen zu erreichen. Dafür ist es
freilich notwendig, mindestens einige der bis jetzt noch zögernden
oder ablehnenden Regierungen in Ostmitteleuropa von dieser Strategie
zu überzeugen. Und das wiederum wirft die Frage auf, warum diese
Regierungen die Aufnahme von Flüchtlingen eigentlich so vehement
zurückweisen.
Angst
vor Überfremdung – und vor finanziellen Kosten
Im Wesentlichen dürfte es dafür zwei Gründe geben: zum einen eine
ideologische, aus Nationalismus und Islamophobie gespeiste Angst vor
Überfremdung – eine Angst, mit der nicht nur nationalkonservative
Regierungschefs wie die Polin Beata Szydło
(PiS/AEKR) oder der Ungar Viktor Orbán
(Fidesz/EVP), sondern auch Sozialdemokraten wie der Slowake Robert
Fico (Smer-SD/SPE) im Wahlkampf
auf Stimmenfang gehen.
Zum
anderen aber spielt wohl auch die pragmatische Feststellung eine
Rolle, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen für das überalterte
Europa zwar langfristig von wirtschaftlichem Nutzen sein wird,
kurzfristig aber für das Aufnahmeland auch mit einigen finanziellen
Kosten verbunden ist: für Unterbringung und Versorgung, für
Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen, für Dolmetscher,
Sozialarbeiter und Polizisten.
Es
sind die reichen Staaten, die die Flüchtlingsquote wollen
Gegen
die Überfremdungsangst lässt sich wenigstens auf die Schnelle wohl
nicht viel tun: Akzeptanz für kulturelle Vielfalt wächst in der
Regel nur langsam und durch konkrete positive Erfahrungen. Was aber das
finanzielle Argument betrifft, hat die EU noch einigen
Handlungsspielraum: Immerhin zählen viele der Staaten, denen
besonders an einer Umverteilung von Flüchtlingen gelegen ist –
Deutschland, Schweden, Österreich oder Italien –, zugleich
auch zu den reichsten Mitgliedsländern, während die
ostmitteleuropäischen Staaten sämtlich EU-Nettoempfänger sind.
Man
kann deshalb, wie
der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ/SPE) vor
einigen Wochen, den Osteuropäern mit einer Kürzung der
EU-Strukturfonds drohen, falls sie nicht ihren Widerstand in der
Flüchtlingsfrage aufgeben. Man könnte aber auch umgekehrt auf
Positivanreize setzen, indem künftig der EU-Haushalt die Finanzierung der Asylpolitik übernimmt.
Und
wenn die EU die Asyl-Finanzierung übernimmt?
Tatsächlich
ist der EU-Asylfonds
AMIF bislang nur äußerst spärlich ausgestattet; für die
Periode 2014-20 sind darin pro Jahr nicht einmal 500 Millionen Euro
vorgesehen. Zwar beantragte die Europäische Kommission im letzten
Herbst bereits eine
Aufstockung dieser Mittel. Doch im Verhältnis zu den realen
Kosten der Flüchtlingskrise ist der AMIF weiterhin kaum mehr als ein
Tropfen auf den heißen Stein.
Man
stelle sich vor, dieser Fonds wäre so gut ausgestattet, dass er in
der Lage wäre, die Kosten für Asylverfahren komplett zu bestreiten – oder gar zu überkompensieren, sodass Mitgliedstaaten, die
Flüchtlinge aufnehmen, daraus einen fiskalischen Gewinn erzielen.
Das entspräche nicht nur dem Solidarprinzip, dass man für eine
gemeinsame Politik gemeinsam bezahlt, sondern würde überdies
wohl auch helfen, manche Vorbehalte in den ostmitteleuropäischen
Ländern zu überwinden.
Sicher,
eine solche Aufstockung des EU-Haushalts würde die Steuerzahler in
den reichen Nettozahler-Ländern einige Milliarden kosten. Aber dafür bekämen wir die Chance zu einer
Dublin-Reform, mit der Flüchtlinge besser zwischen den
Mitgliedstaaten verteilt würden. Und über den Untergang des
Schengen-Raums müssten wir auch nicht mehr sprechen.
Unter dem Motto #DontTouchMySchengen führen die Jungen Europäischen Föderalisten vom 1. bis 7. Februar europaweit Aktionen durch, um für den Erhalt der offenen Binnengrenzen zu demonstrieren. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.
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Bilder: International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Junge Europäische Föderalisten.
An sich ein schöner Vorschlag - gibt es irgendwo schon wahrnehmbare Bemühungen, ihn auf politischer Ebene zumindest zu diskutieren? (Im Prinzip ist es ja die Wiederbelebung der alten Kohlschen "Bimbes"-Maxime.) Ich bin aber nicht überzeugt, dass damit das andere Problem - das des weit verbreiteten Rassismus - gelöst ist. Siehe zum Beispiel diese zutiefst deprimierende Analyse über die Slowakei: https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2016/01/18/refugees-in-europe-heres-a-different-reason-people-are-saying-no-to-them/.
AntwortenLöschenMeine persönliche Vorhersage ist eher, dass es im besten Fall so bleiben wird wie jetzt - es werden weiterhin sehr viele Flüchtlinge gerade nach Deutschland kommen, mit allen sowohl guten wie schlechten Folgen, mit einer deutlichen Verschärfung des Überforderungsgefühls bzw. der Überforderungsrhetorik und ernsthaften Wahlerfolgen für rechte Parteien wie der AfD und der CSU. Im schlechteren Fall aber (und das passiert ja bereits) wird die Festung Europa noch stärker ausgebaut werden (d. h. in der offiziellen Rhetorik: der "Schutz der Grenzen" wird vorangetrieben). Mit der Türkei wird man vielleicht eine Lösung finden wie die Spanier mit Marokko; Zäune und stark verstärkte Pushbacks könnten ihr übriges tun. Folge wäre eine starke Zunahme der Todesopfer an den Außengrenzen, die bereits jetzt teilweise spürbar ist, aber noch deutlich andere Dimensionen annehmen könnte.
Es fällt mir derzeit überaus schwer, bei diesem Thema Optimist zu bleiben.
Zumindest die Vorstufe zur politischen Diskussion hat der Vorschlag schon genommen: In Thinktanks und Forschungszentren erfreut er sich wachsender Beliebtheit. Außer dem im Artikel verlinkten Beitrag zweier Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel legte jüngst auch das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung eine entsprechende Studie vor. Und wer weiß, welche Pläne die Kommission noch für ihren für März angekündigten Dublin-Reformvorschlag in petto hat.
LöschenOb es am Ende zu einer solchen "europäischen" Lösung kommt oder nicht, bleibt abzuwarten. Ich halte es aber für wichtig zu zeigen, dass es Alternativen zu der derzeitigen Nationalisierungsdynamik gibt und dass auch die großen Aufnahmeländer wie Deutschland oder Schweden dafür noch mehr tun könnten, als das bis jetzt der Fall ist. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit derzeit immer wieder suggeriert wird, dass man nun einmal zu "nationalen Maßnahmen" greifen müsse, da die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer europäischen Lösung bereit seien, dann muss man festhalten, dass auch die Bundesregierung bislang lieber den Schengen-Raum in Frage stellt, als auf ein solidarisch finanziertes EU-Asylsystem hinzuarbeiten.
Ich bin sehr skeptisch, ob eine finanzielle Kompensation die Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen in den mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten tatsächlich erhöhen würde. Selbst wenn die EU vollständig für die Unterkunft, Verpflegung und Integrationsleistungen aufkäme, würde das die große Skepsis und das Misstrauen in Ungarn, Polen oder der Slowakei gegenüber Flüchtlingen aus dem Süden nicht im Geringsten mindern. Ein SWP-Papier spricht gar von einer „klar negativen Haltung in den jeweiligen Gesellschaften. Die harte Position der Regierungen entspricht tiefverwurzelten Sichtweisen der jeweiligen Öffentlichkeiten. Dadurch ergibt sich eine auch innenpolitisch verankerte Abwehrdisposition, die nur schwer zu ändern ist.“ (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A84_lng.pdf
AntwortenLöschenFinanzielle Anreize werden da nichts bewirken, solange rechts- und linkspopulistische Politiker die Ruder in Händen halten und sich die Gesellschaften nicht weiter öffnen, was noch sehr lange dauern kann. Nichtsdestotrotz wäre ein europäischer Verteilungsschlüssel, der finanzielle Kompensationen vorsieht, sicherlich ein guter Ansatz und könnte dort erfolgreich sein, wo Länder und Gesellschaften grundsätzlich gewillt sind, Flüchtlinge aufzunehmen, aber Angst vor wirtschaftlichen Einbußen haben. Allerdings müsste es zur realistischen Umsetzung dieser Idee ein Opt-out für die unwilligen Länder geben. Wer dann noch übrig wäre, vermag ich nicht zu sagen, aber gegen ihren Willen werden die EU-Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen, da helfen auch hohe Summen oder Drohungen aus Österreich nicht weiter.
Auf der anderen Seite stellt sich bei einem Umverteilungsmechanismus auch die Frage, wer oder was Asylsuchende davon abhalten sollte, die EU-Binnengrenzen zu überschreiten und sich in einem anderen als dem zugewiesenen Land niederzulassen? Viele Menschen denken gar nicht daran, z.B. in Polen zu leben, sondern wollen lieber nach Deutschland oder Schweden. Um diese aufzuhalten, müssten wir erst recht wieder Grenzkontrollen einführen und das Schengen-System ad absurdum führen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Wahrscheinlich wird andersherum ein Schuh draus: Damit Polen, Ungarn und Co. keine weiteren Flüchtlingen aufnehmen müssen, zahlen sie in einen europäischen „Asyl-Topf“ ein, von dem dann die Aufnahmeländer profitieren. Auf jeden Fall benötigen wir europäische Lösungen und keine weiteren nationalen Alleingänge.