- Natürlich ist es einfach, die Schuld für die britische Krise bei Theresa May zu suchen. Aber auch eine andere Regierung hätte den Brexit nicht zum Erfolgsprojekt gemacht.
Über
eine Million Demonstranten
auf der Straße. Über fünf Millionen Unterschriften
unter einer Petition. Die größte
(und viertgrößte)
Abstimmungsniederlage, die jemals eine Regierung im Unterhaus
erlitten hat. Rücktritte
von Ministern. Parteiaustritte
von Abgeordneten. Die „nationale
Erniedrigung“, den Europäischen Rat um eine Fristverlängerung
bitten zu müssen und nicht einmal im Raum zu sein, als über diese
verhandelt wird. Eine Premierministerin, die die
Schuld für das Debakel auf das Parlament schiebt. Ein Parlament,
das sich nicht
dazu aufraffen kann, die Regierung zu stürzen, ihr aber in der
entscheidenden Woche die
Kontrolle über die Tagesordnung entzieht: Kein Zweifel, der
Brexit hat das Vereinigte Königreich in eine politische Krise von
außergewöhnlichem Ausmaß gestürzt, und wenige Wochen vor dem
neuen Austrittsdatum am 12. April zeichnet sich noch immer keine
klare Lösung dafür ab. Vom No-Deal-Szenario bis zu einer Rücknahme
des Austrittsantrags ist keine Möglichkeit ausgeschlossen – und
keine Möglichkeit, die auch für die EU akzeptabel wäre, hat eine
Mehrheit im Parlament.
Strategische
Fehler der Regierung May
Je
höher sich diese Krise auftürmt, desto intensiver wird auch die
Suche danach, wer oder was eigentlich die Schuld daran trägt. Der
größte Teil der Kritik richtet sich dabei auf die Premierministerin
Theresa May (Cons./AKRE). Nach einer aktuellen Umfrage denken nur
sieben Prozent der britischen Bevölkerung, dass die Regierung
die Brexit-Verhandlungen gut geführt habe.
Und
natürlich ist es leicht, strategische Fehler zu identifizieren, die
Theresa May in den letzten Jahren begangen hat: Dass sie in den
ersten Wochen ihrer Amtszeit den notwendigen politischen
Entscheidungen über das künftige Verhältnis zur EU mit
nichtssagenden Floskeln wie „Brexit
heißt Brexit“ oder „was
wir wollen, ist ein rot-weiß-blauer Brexit“ aus dem Weg ging.
Dass sie sich nicht frühzeitig zu einem zweiten Referendum bekannte,
mit dem die britische Bevölkerung das zwischen der Regierung und der
EU ausgehandelte Abkommen hätte bestätigen können. Dass sie im
März 2017 den Austrittsantrag nach Art.
50 EUV einreichte, ohne ein klares Ziel für die Verhandlungen
angeben zu können.
Dass
sie nur wenige Wochen später nationale
Neuwahlen in die Wege leitete – offenbar in der Hoffnung, ihre
Parlamentsmehrheit auszubauen und sich damit auch innerparteilich
einen größeren Spielraum gegenüber Brexit-Hardlinern und Remainern
zu verschaffen, letztlich aber mit dem genau entgegengesetzten
Ergebnis, nämlich dem Verlust der eigenen Mehrheit. Dass sie
anschließend ein schon zahlenmäßig äußerst prekäres Bündnis
mit der nordirischen DUP schmiedete, statt eine Verständigung mit
der Labour Party (SPE) zu suchen. Dass sie versuchte, ihre Partei zu
einigen, indem sie politische Zocker wie Boris Johnson in das
Kabinett einband. Dass sie (wenn auch nicht immer freiwillig) die
britische Verhandlungsführung alle
paar Monate auf einen neuen Minister übertrug. Und natürlich:
dass sie ein Abkommen unterzeichnete, für das sie offenkundig keine
Mehrheit im Parlament besaß, und damit sowohl bei der EU als auch
bei ihren eigenen Parteifreunden Vertrauen
verspielte.
May
die Schuld zu geben, entlastet alle anderen
Dass
in den letzten Tagen so viel von den Fehlern der britischen Regierung
die Rede war, dürfte allerdings auch noch andere Gründe haben. Denn
die Schuld für die Brexit-Kalamitäten vor allem bei Theresa May zu
suchen, entlastet auch alle anderen politischen Akteure – oder
hilft ihnen, ihre eigene Position zu stärken. Das beginnt
naheliegenderweise bei der Labour Party, die in der Brexit-Frage
selbst nie zu einer klaren Linie gefunden hat, ihre internen
Uneinigkeiten aber durch die Kritik an der Regierung zu überdecken
versucht. Es setzt sich fort bei den britischen Remainern, die
angesichts der nachdrücklichen
Weigerung Mays, eine Rücknahme des Austrittsantrags auch nur in
Erwägung zu ziehen, auf deren Rücktritt drängen müssen.
Die
Schuld für die politische Krise vor allem bei der Inkompetenz der
Regierung zu suchen, ist aber auch ein Ausweg
für enttäuschte Brexit-Anhänger, die sich 2016 für den
EU-Austritt stark machten und sich nun fragen, warum ihre Hoffnungen
auf eine bessere politische Zukunft sich nicht bestätigten.
Brexit-Hardliner wiederum können mit der Kritik an May die
Vorstellung aufrechterhalten, dass ein No-Deal-Austritt dem von der
Regierung unterzeichneten Abkommen vorzuziehen sei. Und dann gibt es
natürlich noch die auflagenstarke britische Boulevardpresse, die
komplexe Probleme ohnehin gern erklärt, indem sie einzelne
Personen zu Helden oder Versagern stilisiert.
Strukturelle
Ursachen in der britischen Politik
Nicht
ganz so einfach machen es sich einige andere Kommentatoren, die die
Ursachen für die aktuelle Krise nicht allein bei der Regierung,
sondern in strukturellen Problemen der britischen politischen Kultur
sehen. So kritisiert etwa Aditya
Chakrabortty im Guardian eine politische Klasse, die nicht
mehr das öffentliche Gemeinwohl, sondern nur noch ihr kurzfristiges
Eigeninteresse im Blick habe. John
Harris macht als einen Grund dafür die Rolle elitärer privater
Bildungsinstitutionen wie das Eton College aus, aus denen sich eine
politische Klasse rekrutiere, die von Anspruchsdenken geprägt sei
und keine Fehler eingestehen könne.
Fintan
O’Toole wiederum
verweist in der Irish Times auf
das Fehlen eines positiven,
das gesamte Vereinigte Königreich umfassenden
Zusammengehörigkeitsgefühls: Wie
in vielen ehemaligen Kolonien, die nach der Unabhängigkeit in
Bürgerkriege versanken, habe auch in Großbritannien der
antieuropäische Nationalismus nur vorübergehend die internen
Spaltungen überdeckt. Konkrete Probleme des politischen Systems
identifiziert schließlich Jon
Worth in The
Local, der den fehlenden
britischen Pragmatismus in der Brexit-Frage vor allem auf das
kompromissunfähige Parteiensystem zurückführt, dessen Wurzeln
wiederum im britischen Mehrheitswahlrecht
liegen.
Der
Brexit war niemals ein Erfolgsprojekt
All
diese Analysen haben ohne Zweifel ihre Berechtigung. Wenn ein Land
sich so nah an einen politischen Abgrund gesteuert hat wie das
Vereinigte Königreich in den letzten zwei Jahren, so ist die Frage
angebracht, warum die nationalen demokratischen Sicherungsmechanismen
nicht (schon früher) einen Kurswechsel bewirkten. Die mit Sicherheit
vorhandenen Defizite des britischen politischen Systems sollten dabei
allerdings nicht über einen noch grundlegenderen Zusammenhang
hinwegtäuschen: Dass das britische Parlament so
lange nicht in der Lage war,
sich auf eine positive Vision
des Brexit zu verständigen, liegt auch daran, dass der Austritt aus
der Europäischen Union in jeder Version mit mehr Nachteilen als
Vorteilen verbunden ist.
Die
(auch von Theresa May oft bemühte) Rede von einem Brexit, der das
gespaltene Land zusammenführen, dem britischen Parlament
verlorengegangene Kompetenzen zurückgeben und Großbritannien
zugleich zu einer weltoffenen globalen Handelsmacht werden lassen
könnte, hat keine Grundlage in der Realität.
In vieler Hinsicht hatte die
britische Regierung deshalb von Anfang an keine Chance, ihre
Versprechen zu erfüllen. Ihr
Scheitern beim Brexit zeigte
sich gerade im Zusammenhang
mit jenen typischen
politischen Problemen,
für die die
Europäische Union überhaupt
erst geschaffen wurde.
Das
Rule-taker-Dilemma
Das
betrifft, erstens, die Frage der Mitgliedschaft in der Zollunion und
dem gemeinsamen Markt. Um
den wirtschaftlichen und sozialen Fallout des Brexit gering zu
halten, spräche alles dafür,
dass Großbritannien
weiterhin so eng wie möglich
mit seinem wichtigsten Handelspartner EU verbunden bleibt.
Dafür müsste
das Land jedoch
bereit sein, in seiner
eigenen Gesetzgebung dauerhaft
das Binnenmarktrecht bzw. die
Außenhandelszölle der EU zu
übernehmen – obwohl
es bei deren Zustandekommen kein Mitspracherecht mehr hätte und
damit, im Jargon der Brexiters,
zu einem rule
taker würde.
Tatsächlich legte sich die May-Regierung deshalb recht schnell
darauf fest, dass mit dem Brexit (nach Ablauf einer Übergangszeit)
auch ein Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion verbunden
sein sollte. Die Labour Party wiederum setzt ebenfalls auf einen
Austritt aus dem Binnenmarkt, will aber in der Zollunion verbleiben –
in der wohl
vergeblichen Hoffnung, bei der Festlegung der gemeinsamen
Außenzölle ein echtes Mitspracherecht zu erhalten. Eine
fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten schließlich
lancierte
zuletzt den Vorschlag eines „Binnenmarkts 2.0“, der auch von
einem großen Teil der britischen Unternehmerschaft unterstützt
wird, für die Brexit-Hardliner hingegen Großbritannien zu einer
„Kolonie
der EU“ machen würde.
Nur
in der EU ist ein überstaatlicher Markt demokratisch gestaltbar
Wie ich auf diesem Blog bereits
2016 geschrieben habe, steht hinter diesem Konflikt letztlich
nichts anderes als das bekannte Rodrik-Trilemma, dem zufolge man
nicht gleichzeitig demokratische Selbstbestimmung, eine
grenzüberschreitende Wirtschaft und nationale Souveränität haben
kann: Je zwei davon sind vereinbar, aber nicht alle drei. Mit ihren
überstaatlichen Institutionen ermöglicht es die EU, die Regeln
eines überstaatlichen Binnenmarkts demokratisch zu gestalten.
Durch den Brexit verliert Großbritannien diese Option und muss sich
deshalb entscheiden, entweder die wirtschaftlichen Verbindungen zu
seinem wichtigsten Handelspartner zu beschädigen oder demokratische
Mitspracherechte zu opfern. Dass über diese Entscheidung zwischen
Pest und Cholera nicht so leicht Einigkeit zu erzeugen ist, liegt
nicht nur an der Inkompetenz der britischen Regierung, sondern
einfach daran, dass keine der beiden Lösungen besonders attraktiv
ist.
Globaler
Einflussverlust
An der Frage der Zollunion zeigt sich zudem noch ein zweiter Aspekt,
der die Hoffnung auf einen alle Seiten befriedigenden Brexit
zunichtemacht: der Widerspruch zwischen der Idee eines Global
Britain und dem tatsächlichen Niedergang britischen Einflusses
in der Welt. Losgelöst von den europäischen Bindungen, so hatten es
die Austrittsbefürworter erhofft, würde Großbritannien bei der
Handelspolitik keine Kompromisse mehr machen müssen und endlich
Verträge abschließen können, die seinem eigenen Interesse am
besten dienen.
Doch die stolze Ankündigung von Boris Johnson, dass der
Rest der Welt „Schlange stehen“ würde, um mit Großbritannien
Freihandelsverträge abzuschließen, hat sich bislang als Luftnummer
erwiesen. Im Gegenteil: Staaten wie Indien oder Südkorea dürften
Großbritannien künftig größere Zugeständnisse abverlangen als
der Europäischen Union – was nicht weiter verwundert, ist doch
die EU der sehr viel größere und damit für die meisten
Drittstaaten wichtigere Markt. Auch hier ist das Problem aber nicht
ein spezifisches Versagen der britischen Regierung. Vielmehr
bestätigt die Brexit-Erfahrung nur eines der Standard-Argumente für
die europäische Integration: Kein einziger europäischer Staat kann
für sich alleine in der Welt eine so wichtige Rolle spielen wie die
vereinte Europäische Union.
Der
Streit um die irische Grenze
Und schließlich, drittens, die Frage der irischen Grenze: Wenn sich
die Ablehnung der Conservative Party gegen Mays Austrittsabkommen mit
der EU an einem einzelnen Thema festmachen lässt, dann an dem „Irish
Backstop“ – also an der Vereinbarung, dass die „unsichtbare“
Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland in jedem Fall
erhalten werden muss und das Vereinigte Königreich deshalb bis auf
Weiteres in der Zollunion verbleiben wird, sofern kein anderes, beide
Seiten zufrieden stellendes Modell gefunden wird (etwa eine
technische Lösung, die Zollkontrollen ohne die Einrichtung von
physischen Grenzanlagen ermöglichen würde).
Für die EU ist dieser Backstop eine unverhandelbare Bedingung des
Austrittsabkommens: Immerhin ergibt sich die Abwesenheit einer harten
Grenze zwischen Irland und Nordirland aus dem Karfreitagsabkommen,
das 1998 den jahrzehntelangen Nordirlandkonflikt beilegte. Sollte es
nach dem Brexit wieder zu Grenzkontrollen kommen, fürchten viele ein
Wiederaufleben der Gewalt zwischen Unionisten und Republikanern –
eine Sorge, die durch
einen Autobombenanschlag im Januar noch weiter verstärkt wurde.
Für die konservativen Brexit-Hardliner hingegen droht der Backstop
das Vereinigte Königreich dauerhaft an die europäische Zollunion zu
binden. Die nordirische DUP wiederum fürchtet das Ende der Einheit
zwischen Nordirland und Großbritannien, falls sich das britische
Parlament eines Tages entscheiden sollte, Nordirland allein in der
Zollunion zu belassen und die Handelsgrenze in die Irische See zu
verlegen.
Die
europäische Friedensstrategie: Grenzen die Bedeutung nehmen
Auch die Nordirland-Frage ist aber – so spezifisch es auf den
ersten Blick anmutet – keine Besonderheit des Vereinigten
Königreichs, sondern auch ein allgemeines Symptom für die Probleme
europäischer Desintegration. Denn das Karfreitagsabkommen, das jetzt
auf dem Spiel steht, folgte genau jener Logik, mit der die
Europäische Union schon viele andere zwischenstaatliche Konflikte in
ihrem Inneren beigelegt hat: Frieden zu schaffen, indem die
gesellschaftliche Verflechtung zwischen früheren Gegnern
vorangetrieben und politische Grenzen zwar nicht völlig abgeschafft,
aber unsichtbar und möglichst belanglos gemacht werden.
Diese Friedensstrategie ist aber eben nur dann möglich, wenn Grenzen
auch wirklich ihre wirtschaftliche und migrationsrechtliche Bedeutung
verlieren – zum einen durch Zollunion und Binnenmarkt, zum anderen
durch das Schengen-Regime (bzw. in diesem Fall durch die Common
Travel Area zwischen Großbritannien und Irland). Indem der
Brexit nationale Grenzen wieder mit Bedeutung auflädt, droht er auch
die Konflikte zurückzubringen, die in der Vergangenheit um diese
Grenzen ausgetragen wurden. Auch dies ist ein fundamentales Problem,
das dem EU-Austritt selbst inhärent ist und nicht allein auf ein
Versagen der britischen Politik im Umgang mit dem Brexit
zurückzuführen ist.
Unvermeidliche
Probleme der Desintegration
Es erscheint derzeit ausgesprochen wahrscheinlich, dass Theresa May
den Brexit politisch nicht überleben wird: Zu groß ist die
Versuchung für ihre politischen Gegner inner- und außerhalb der
Conservative Party, ihr die Verantwortung für die politische Krise
der letzten Wochen zuzuschreiben, und bis zu einem gewissen Punkt
haben sie damit natürlich auch Recht.
Aber niemand sollte daraus den Umkehrschluss ziehen, dass der
Austritt aus der Europäischen Union mit einer anderen britischen
Regierung womöglich doch zu einem Erfolg hätte werden können. Die
Probleme, an denen May gescheitert ist, sind nicht allein ihrem
Ungeschick geschuldet, ja nicht einmal den strukturellen
Unzulänglichkeiten des britischen politischen Systems. Es sind
vielmehr Dilemmata, die nahezu unvermeidlich auftauchen, wenn man die
entstandene wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche
Verflechtung zwischen den europäischen Ländern rückgängig zu
machen versucht. Die Brexit-Krise ist die traurige Bestätigung für
die Logik hinter der europäischen Integration.
Bild: Lassewillken [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons.