27 März 2020

Nationale Reflexe und europäische Solidarität in der Corona-Krise: Starke Institutionen helfen

Hält Europa in der Coronakrise zusammen? Bislang ist die Bilanz durchwachsen.
Eigentlich hätte es ein schönes Jubiläum sein können: Am gestrigen Donnerstag vor 25 Jahren trat das Schengener Abkommen in Kraft, mit dem die Binnengrenzkontrollen abgeschafft und das Reisen in der EU erleichtert wurde. Aber gerade sind die Grenzen wieder zu, an Reisen ist nicht zu denken, und nach Feiern war den Staats- und Regierungschefs bei ihrer Videokonferenz auch nicht zumute. Stattdessen gab es eine Menge Streit, wie die Kosten der Corona-Krise finanziert werden sollen, und am Ende eine vage Einigung, sich in zwei Wochen noch einmal mit dem Thema zu befassen. Das Coronavirus hat die EU im Griff, und den Mitgliedstaaten fällt es – trotz aller Bekenntnisse zur europäischen Solidarität – sichtlich schwer, ihre nationalen Reflexe abzulegen.

Wieder einmal Solidarität

Dass es in der Krise vor allem auf die Mitgliedstaaten ankommt, ist den EU-Verträgen geschuldet, die der Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Art. 168 AEUV) nur recht begrenzte Kompetenzen einräumen. Die EU-Institutionen können die Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld koordinieren, sie unterstützen und ihnen Empfehlungen geben, aber kaum Vorschriften machen. Und natürlich ist auch der EU-Haushalt viel zu klein, als dass die Union aus eigener Kraft nennenswerte Anstrengungen gegen die Krise unternehmen könnte.

Wie so oft in den Krisen der letzten Jahre sind deshalb alle Augen auf den Europäischen Rat gerichtet. Wieder einmal ist die Krise wenigstens teilweise asymmetrisch und Südeuropa (wenigstens für den Moment) stärker betroffen als der Norden. Und wieder einmal geht es vor allem darum, ob die nationalen Regierungen bereit sind, einander beizustehen, oder ob in der Krise jedes Land sich selbst am nächsten ist. Die bisherige Bilanz in diesem Ringen ist, im besten Fall, durchwachsen – drei Beispiele.

Beispiel 1: Medizinische Versorgung

Als sich die Corona-Epidemie noch weitgehend auf China beschränkte, lieferten EU-Mitgliedstaaten dorthin Mitte Februar Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und anderes medizinisches Material: Die Krankheit wirkte weit entfernt, Unterstützung bei ihrer Bekämpfung eine humanitäre Selbstverständlichkeit. Als wenig später die Krankheit auch in Italien ausbrach, wurde die Schutzausrüstung hingegen schnell knapp – nicht zuletzt aufgrund von Panikkäufen in der Bevölkerung. Bereits Ende Februar aktivierte die italienische Regierung deshalb den EU-Katastrophenschutzmechanismus, um um Hilfslieferungen zu bitten. Und auch die Kommission rief die übrigen Mitgliedstaaten zur Unterstützung Italiens auf.

Doch was in Wirklichkeit geschah, war genau das Gegenteil: Statt Italien zu helfen, verhängten mehrere europäische Länder, die von der Krankheit selbst zwar noch kaum betroffen waren, sich aber Sorgen wegen der Panikkäufe machten, Exportverbote für medizinische Schutzkleidung. Die französische Regierung etwa beschlagnahmte die vorhandenen Bestände an Atemschutzmasken und stellte sie nur noch medizinischem Personal und Kranken in Frankreich zur Verfügung. In Deutschland blieben, noch etwas absurder, Atemschutzmasken im freien Handel verfügbar und damit auch ihre medizinisch weitgehend sinnlose Nutzung durch private Gesunde möglich – aber eben nur innerhalb der Landesgrenzen.

Weniger solidarisch als China?

Noch hässlicher wirkte diese fehlende Hilfsbereitschaft durch den Kontrast mit China, das sich nun für die europäische Unterstützung im Februar revanchierte und Italien öffentlichkeitswirksam Atemmasken lieferte. Obwohl diese Lieferungen gegen Bezahlung erfolgten (also weniger humanitäre Hilfe als schlichte Warenexporte waren), stellten sie im Kontext der innereuropäischen Exportverbote ein großer Imageerfolg für die chinesische Regierung dar, die sich als Helferin in der Not feiern lassen konnte, während die EU zutiefst unsolidarisch erschien.

Erst nach einem einen eindringlichen öffentlichen Appell des italienischen EU-Botschafters und massiver Kritik seitens der Kommission und der Benelux-Staaten lösten sich langsam die innereuropäischen Blockaden. Mitte März entschied sich die deutsche Bundesregierung zunächst für eine Lockerung und schließlich Aufhebung des Verbots für innereuropäische Exporte. Zugleich setzte sich Deutschland nun mit Frankreich an die Spitze der Länder, die bilaterale medizinische Hilfsmaßnahmen leisteten – sei es durch Lieferung von medizinischen Gütern oder auch durch die Aufnahme von Patienten aus den meistbetroffenen italienischen Regierungen.

Der Katastrophenschutzmechanismus hilft – nach fast vier Wochen

Zugleich lief auch auf EU-Ebene endlich die gemeinsame Beschaffung von Schutzausrüstung im Rahmen des Katastrophenschutzmechanismus an. Am 24. März, fast vier Wochen nach dem ersten italienischen Ersuchen, verkündete die Kommission, entsprechende Lieferverträge könnten „in Kürze unterzeichnet werden“.

Doch auch in den letzten Tagen kam es noch zu Vorfällen, die das solidarische Bild trüben: So stoppten polnische und tschechische Behörden vergangene Woche zwei chinesische Lieferungen mit medizinischem Material für Italien, die italienische Regierung selbst beschlagnahmte kurz darauf für Griechenland bestimmte Beatmungsgeräte. Als eine Einheit agieren die EU-Mitgliedstaaten bis heute nicht.

Beispiel 2: Grenzschließungen

Dass auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nötig sind, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, war frühzeitig Konsens. Dabei setzte die italienische Regierung (ähnlich wie zuvor China) zunächst vor allem auf eine Abriegelung der am stärksten betroffenen Gebiete. Als sich die Pandemie jedoch weiter ausbreitete, verlegten sich Mitte März einige weniger betroffene Staaten vor allem im Norden und Osten Europas auf eine umgekehrte Strategie: Sie schlossen einseitig die nationalen Grenzen, um Virus draußen zu halten. Der Grenzverkehr für Personen wurde drastisch reduziert, in vielen Fällen durften nur eigene Staatsbürger und Menschen mit besonderen Genehmigungen noch einreisen.

Offiziell begründet wurden diese Grenzschließungen oft mit der Notwendigkeit, Personenbewegungen allgemein zu reduzieren, und mit der Behauptung, dass unterschiedlich strenge nationale Regelungen (etwa bei Veranstaltungsverboten) dazu führen würden, dass Menschen auf die andere Seite der Grenze auswichen. Unter Beobachtern stießen die Grenzschließungen jedoch von Anfang an auf Kritik: Da das Virus Mitte März bereits in allen EU-Staaten vorhanden war, spielte der zwischenstaatliche Grenzverkehr für seine Ausbreitung keine so wichtige Rolle mehr, dass solch drastische Maßnahmen gerechtfertigt wären.

Außengrenzen werden schnell geschlossen, Binnengrenzen eher nicht

Besonders befremdlich war dabei, dass auf vergleichbare Maßnahmen im Inland in der Regel verzichtet wurde. So wurde etwa in Deutschland der innerstaatliche Reiseverkehr zwar dadurch erschwert, dass touristische Hotelübernachtungen und Reisebusfahrten verboten wurden – eine Ein- und Ausreise aus dem Ort Heinsberg, wo es besonders viele Infizierte gab, wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt verhindert.

Warum also waren die Staaten viel eher bereit, die nationalen Außengrenzen zu schließen als innerstaatlich Territorien abzuriegeln? Letztlich dürften dahinter praktische und politische Machbarkeitserwägungen gestanden haben: Innerstaatliche Grenzen zu schließen, um Reiseverkehr zu verringern, ist aufgrund der fehlenden Infrastruktur nur schwer umzusetzen. An zwischenstaatlichen Grenzen hingegen ist die kurzfristige Wiedereinführung von Grenzkontrollen auch durch die Schengen-Verordnung immer als Option erhalten geblieben und wirkt auch im öffentlichen Bewusstsein als ein viel normalerer Vorgang (umso mehr, als nationale Grenzschließungen ja zunächst einmal immer nur die Staatsbürger der anderen Länder einschränken, nicht die eigenen).

Auch die EU schließt ihre Außengrenzen

Der EU-Kommission blieb bei all dem nur, die einzelnen Mitgliedstaaten zu einem koordinierten Vorgehen zu ermahnen und ihnen mäßigende Leitlinien für coronabedingte Grenzmaßnahmen an die Hand zu geben. Was indessen den Rest der Welt betrifft, reagierte die EU gar nicht so anders als ihre Mitgliedstaaten: Mitte März verhängte sie strikte Einreisekontrollen für Nicht-EU-Bürger, obwohl eine ähnliche Maßnahme der USA eine Woche zuvor in Brüssel noch auf bittere Kritik gestoßen war.

Insgesamt zeigten damit die Mitgliedstaaten und die Union ein ähnliches Bild: Wer die Macht hat, eine Außengrenze zu schließen, der neigt in der Krise dazu, das auch zu tun – oft mit sehr viel größerer Bereitschaft, als wenn es um das Abriegeln besonders betroffener Gebiete im eigenen Landesinneren geht.

Beispiel 3: Finanzielle Maßnahmen

Der größte Streit der letzten Tage schließlich betrifft die finanziellen Maßnahmen zur Bekämpfung der absehbaren Wirtschaftskrise. Angesichts der massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens ist eine schwere Rezession in den nächsten Monaten wohl unvermeidbar; viele Akteure (von großen Flugunternehmen bis zu kleinen Selbstständigen) bangen um ihr wirtschaftliches Überleben und sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Wie aber soll diese Unterstützung finanziert werden?

Als erste Maßnahme schlug die Europäische Kommission am 20. März die Aktivierung der „allgemeinen Ausweichklausel“ vor, um die Defizitregeln des Stabilitätspakts auszusetzen. Als Folge dürften die nationalen Regierungen unbegrenzt Schulden aufnehmen, um die Coronakrise zu bekämpfen. Das allein dürfte allerdings noch zu wenig sein: Wenn jeder Mitgliedstaat nur für sich allein verantwortlich ist, könnte das Ausmaß der Krise viele von ihnen überfordern. Und wenn dann auf den Finanzmärkten Zweifel an ihrer Bonität entstehen, droht im schlimmsten Fall eine neue Staatsschuldenkrise wie in den Jahren ab 2010.

„Coronabonds“ und ESM-Kredite

Bereits Mitte März schlug der italienische Regierungschef Giuseppe Conte (parteilos) deshalb die Einführung von „Coronabonds“ vor: gemeinschaftlichen Anleihen der EU-Mitgliedstaaten, aus denen Maßnahmen gegen die Krise finanziert werden sollten. Der Vorschlag erinnert stark an die Eurobonds, die während der Eurokrise diskutiert wurden, und auch die Konfliktlinien zwischen den nationalen Regierungen sind die gleichen wie damals: Neun hauptsächlich südeuropäische Staats- und Regierungschefs (aus Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Slowenien, aber auch Belgien, Luxemburg und Irland) unterstützten die Idee am vergangenen Mittwoch in einem gemeinsamen Schreiben.

Deutschland und die Niederlande lehnen den Vorschlag hingegen ab. Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra (CDA/EVP) warnte gar in bester Eurokrisenrhetorik, Coronabonds würden die „strukturellen Herausforderungen“ der Mitgliedstaaten nicht lösen und „Anreize für eine umsichtige Politik auf nationaler Ebene untergraben“. Wie schon die Eurobonds könnten also auch die Coronabonds am deutsch-niederländischen Widerstand scheitern.

Die plausibelste Alternative zu ihnen wären Hilfskredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, doch auch darüber gibt es Streit: Während die südeuropäischen Länder sich dafür einsetzen, dass der ESM in dieser Situation bedingungslos Unterstützung leistet, wollen Deutschland und verschiedene nordeuropäische Länder am Prinzip festhalten, dass ESM-Kredite grundsätzlich nur gegen Auflagen möglich sind. Der niederländische Premierminister Mark Rutte (VVD/ALDE) erklärte zudem, für einen Einsatz des ESM sei es ohnehin noch „zu früh“. Die Entscheidung wurde jedenfalls erst einmal verschoben.

Während der Europäische Rat streitet, wird die EZB aktiv

Kommt es also zur Eurokrise 2.0? Einige Umstände geben immerhin Hoffnung, dass die Staatsschuldenfrage diesmal nicht ganz so dramatisch ausfallen wird wie in den Jahren nach 2010. Zum einen hat sich insbesondere in Deutschland auch der öffentliche Diskurs weiterentwickelt: Während in der deutschen Öffentlichkeit während der Eurokrise vor allem Ökonomen sichtbar waren, die Unterstützung für andere EU-Länder ablehnten, veröffentlichte jüngst sogar die konservative FAZ einen Gastbeitrag einer Gruppe deutscher Wirtschaftswissenschaftler, die sich für Coronabonds aussprachen. Zum anderen hilft auch schlicht die Tatsache, dass es den ESM bereits gibt und dass er grundsätzlich einsatzfähig ist. Worum es geht, ist nicht mehr das Ob, sondern das Wie von zwischenstaatlichen Hilfen.

Dennoch: Erst einmal hat sich der Europäische Rat in dieser Frage so zerstritten, dass in den nächsten zwei Wochen mit überhaupt keine Entscheidung gerechnet werden kann. In der Zwischenzeit bleibt wie in der Eurokrise nur die Europäische Zentralbank als Akteur übrig, um mit einem gewaltigen Aufkaufprogramm gegen die Corona-Krise vorzugehen. (Dabei hatte EZB-Chefin Christine Lagarde nur eine Woche zuvor noch die Regierungschefs aufgerufen, doch bitte selbst aktiv zu werden und diese Angelegenheit nicht der Zentralbank zu überlassen. Aber auch diese Dynamik ist noch aus der Eurokrise vertraut.)

Fazit

Betrachtet man all diese Beispiele zusammen, so lässt sich daraus eine allgemeine Lehre ziehen: Wenn es hart auf hart kommt, hängt das Ausmaß an europäischer Solidarität wesentlich davon ab, ob es für den Umgang mit der Krise gemeinsame Institutionen mit echten Kompetenzen gibt.

Wo europäische Institutionen fest etabliert sind und eigene Entscheidungen treffen können, suchen sie wie die EZB nach Möglichkeiten, in der Krise im gemeinsamen europäischen Interesse zu handeln. Wo Institutionen vom guten Willen der nationalen Regierungen abhängig sind, reagieren sie wie der Katastrophenschutzmechanismus oder der ESM nur mit Verzögerung und nach großem Streit. Und wo Institutionen zum Rückzug ins Nationale einladen, werden sie wie die nationale Kompetenz zur vorübergehenden Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen trotz aller schönen Worte genutzt.

Es wäre sicher falsch, die grundsätzliche europäische Solidaritätsbereitschaft der EU-Mitgliedstaaten in Zweifel zu ziehen. Aber damit sie in Krisensituationen in schnelles Handeln umgesetzt werden kann, ist es besser, sich nicht auf „gemeinsame Werte“ und dergleichen zu verlassen, sondern auf starke supranationale Institutionen.

Bild: CDC / Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM [Public domain], via Wikimedia Commons.

23 März 2020

Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten

Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Charles Goerens. (Zum Anfang der Serie.)

The plenary chamber of the European Parliament during the European Elections
„Die Lösung besteht weder in der Aufgabe des Spitzenkandidaten-Modells noch in der Ablehnung transnationaler Listen, sondern vielmehr in der Kombination dieser beiden Ansätze.“
Die Wahlsysteme in der Europäischen Union unterscheiden sich je nach Mitgliedstaat erheblich. So wird die Unterhauswahl im Vereinigten Königreich in einer Runde durchgeführt. Danach weiß man in der Regel, wer der Premierminister ist und welche Mehrheit ihn unterstützt. Es handelt sich hier um ein einfaches Mehrheitswahlrecht, bei dem in jedem Wahlkreis eine Person gewählt wird. Dies führt dazu, dass die – oft nur relative – Mehrheit der abgegebenen Stimmen in jedem Wahlkreis den Sieger bestimmt, auch wenn die Zahl der Stimmen, die den Kandidaten ins Amt gebracht haben, zuweilen lächerlich erscheinen kann. Die Regel ist einfach und der Bürger hat klare Entscheidungsoptionen.

Das britische Wahlsystem ist zugleich demokratischer und weniger demokratisch als eine Verhältniswahl. Es ist demokratischer, weil in der Praxis der Wähler das letzte Wort behält, bei der Frage welche Partei das Land regiert. Doch es ist weniger demokratisch, weil es die schwächeren politischen Strömungen ausradiert. Das britische System spiegelt die verschiedenen Teile der Gesellschaft schlechter wider als die Verhältniswahl, da unter Umständen eine Partei mit einem Stimmenanteil von 20 Prozent keinen einzigen Sitz erreicht, während ein doppelt so großer Stimmenanteil der siegreichen Partei eine sehr komfortable Mehrheit verschaffen kann.

Zwei Wahlsysteme

In Ländern mit einem Verhältniswahlsystem hingegen entspricht die Zahl der Sitze einer Partei der Anzahl der Personen, die für diese Partei gestimmt haben. Im Gegensatz zum Mehrheitswahlsystem sind die verschiedenen weltanschaulichen Strömungen hier im Allgemeinen besser repräsentiert. Dadurch sinkt meist der Abstand zwischen den Parteien und Koalitionsregierungen sind gewissermaßen die Regel geworden. Oft kann die Exekutive erst nach umständlichen Sondierungen und Verhandlungen gebildet werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Wochen oder auch Monate vergehen, manchmal sogar mehr als ein Jahr, bevor sich eine parlamentarische Mehrheit abzeichnet.

Gewiss würde niemand am demokratischen Charakter des Mehrheitssystems zweifeln. Dennoch muss festgehalten werden, dass seine Effizienz bei der parlamentarischen Mehrheitsfindung einen Preis hat: nämlich die Gefahr, dass politischen Akteuren kaum etwas an der Suche nach Kompromissen liegt, da die Bestrebungen von Minderheitsparteien ohnehin nicht berücksichtigt werden müssen. Verhältniswahlsysteme, die die verschiedenen Ansichten so gut wie möglich im Parlament abbilden wollen, fördern hingegen den parteiübergreifenden Austausch zwischen politischen Akteuren, mit dem Ziel, die kritische Masse für eine parlamentarische Mehrheit zusammenzubringen.

Auf der einen Seite steht also eine effizientere, radikalere, aber in Bezug auf Minderheitspositionen weniger respektvolle Praxis. Auf der anderen eine aufwendigere, langsamere, weniger effiziente, aber repräsentativere Tradition: So lassen sich die beiden wesentlichen Wahlsysteme in unseren Mitgliedstaaten zusammenfassen.

Auf dem Weg zu einer Demokratisierung?

Die Wahlgesetze in unseren Ländern überstehen den Zahn unserer Zeit, in der keine Errungenschaft mehr sicher zu sein scheint, überraschend gut. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entwicklung der europäischen Demokratie auf Ebene der EU zu betrachten. Bei näherem Hinsehen hat sich die Haltung der meisten Mitgliedstaaten gegenüber den Europawahlen jedoch seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 weiterentwickelt. Seitdem haben einige Staaten, insbesondere das Vereinigte Königreich und Frankreich, akzeptiert, bei der Wahl ihrer Abgeordneten im Europäischen Parlament wenn schon kein reines Verhältniswahlsystem, so doch wenigstens eine gute Dosis davon einzuführen.

Über die Direktwahl der Europaabgeordneten hinaus wurden weitere Maßnahmen getroffen, um die EU zu demokratisieren. Denken wir etwa an die europäische Unionsbürgerschaft, die allen Bürgerinnen und Bürgern die Teilnahme an Kommunal- und Europawahlen im Land ihres Wohnsitzes ermöglicht, auch wenn sie dort nicht die Staatsangehörigkeit besitzen. Hinzu kommt der Übergang von einer bloßen Konsultation zum echten Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments in mehr als 85 Prozent der Gesetzgebungsverfahren.

Der Streit um die Spitzenkandidaten

Obwohl wir im Nachhinein also sagen können, dass die Demokratisierung der EU bereits einen langen Weg zurückgelegt hat, erscheint ihre weitere Entwicklung ungewiss. 2018 gelang es dem Europäischen Parlament nicht, eine Mehrheit für den Vorschlag zur Schaffung transnationaler Wahllisten zu vereinen. Die Grundidee hinter der Wahl von 46 Abgeordneten in einem einzigen europaweiten Wahlkreis bestand darin, über diese Listen die Persönlichkeit mit der größten Legitimität zur Beanspruchung der Kommissionspräsidentschaft zu bestimmen und damit das Konzept der „Spitzenkandidaten“ zu stärken.

Es war die Europäische Volkspartei (EVP), die 2018 im Europäischen Parlament gegen die transnationalen Listen stimmte, die ursprünglich als Mittel zur Stärkung der Legitimität der künftigen Kommissionsspitze gedacht waren. Ihre Ablehnung durch die EVP-Abgeordneten veranlasste wiederum Emmanuel Macron, das Spitzenkandidaten-Verfahren in Frage zu stellen. Der französische Präsident hatte es satt, dass all seine Vorschläge für einen Neustart des europäischen Integrationsprozesses von der deutschen CDU ignoriert wurden. So weigerte er sich vergangenen Mai, die Nominierung des EVP-Kandidaten Manfred Weber zum Kommissionspräsidenten zu unterstützen, und gab dadurch dem Spitzenkandidaten-Verfahren den Todesstoß – wenigstens für eine Zeit.

Das bedeutet aber nicht, dass das Konzept nicht wiederbelebt werden könnte. Tatsächlich wird die Konferenz über die Zukunft Europas eine Gelegenheit für die Bürger sein, um sich für eine demokratischere, sichtbarere und besser verständliche Union auszusprechen. Die Art und Weise, wie die Erneuerung der EU-Institutionen zu Beginn der laufenden Wahlperiode umgesetzt wurde, ist jedenfalls, gelinde gesagt, stark verbesserungswürdig.

Ein Moment der Wahrheit und der Klarheit

Sowohl für die Bürger als auch für die Kandidaten soll eine Wahl ein Moment der Wahrheit und der Klarheit sein. Wenn ein Mensch im Wahllokal nicht erkennen kann, dass sein Stimmzettel denn auch wirklich zur Ernennung der Person beiträgt, der in den nächsten fünf Jahren die Verantwortung für die politische Steuerung der EU übertragen wird, wird er oder sie sich betrogen fühlen. Kurz gesagt, der Wähler möchte wissen, wer was tun wird.

Konnte der Wähler während des Wahlkampfs 2019 eine klare Antwort auf diese doppelte Frage bekommen? Für die Parteigänger der EVP stand fest, dass der nächste Kommissionspräsident kein anderer als Manfred Weber sein konnte. Offensichtlich hat die EVP das größte Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. In ihrer Logik garantiert ihre vorherrschende Stellung in der Parteienlandschaft ihr einen nahezu sicheren Zugriff auf die Kommissionspräsidentschaft. Die anderen politischen Familien sind jedoch nicht mehr bereit, diese Monopolstellung einer politischen Strömung zu akzeptieren, die trotz ihrer gegenwärtigen Stärke weit davon entfernt ist, eine Mehrheit der Wähler zu vertreten.

Zudem ist unbestreitbar, dass das Spitzenkandidaten-System – selbst wenn sich die großen politischen Parteien darüber einig wären – in der Vergangenheit auf die Frage nach dem „Was?“ nicht die notwendige Klarheit bieten konnte. Für die Wähler sollte klar sein, für welches verbindliche politische Programm sie sich mit ihrer Stimme aussprechen.

Spitzenkandidaten, die transnationale Listen anführen

Wie lässt sich diese festgefahrene Situation überwinden? Mir scheint, die Lösung besteht weder in der Aufgabe des Spitzenkandidaten-Modells noch in der Ablehnung transnationaler Listen, sondern vielmehr in der Kombination dieser beiden Ansätze. Stellen wir uns für einen Moment den Europawahlkampf 2024 vor: Es gibt sechs Listenerste, die jeweils eine transnationale Liste anführen. Der Wähler kann den Namen der Kandidatin oder des Kandidaten ankreuzen, den er am liebsten an der Spitze der Kommission 2024-2029 sehen will. Wer diesen Wettbewerb gewinnt, hat eine unbestreitbare Legitimität, um das höchste Amt der EU zu beanspruchen. Es ist offensichtlich, dass die Kandidaten für dieses Amt in diesem Wahlkampf nur dann bestehen, wenn sie klare Ansagen zu den wichtigen Themen unserer Zeit machen.

Wer wird was in der Europäischen Union von morgen tun? Spitzenkandidaten, die transnationale Listen anführen, können uns das bereits im April und Mai 2024 mitteilen – wenn wir es wollen.

Charles Goerens (DP/ALDE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion Renew Europe und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO).
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Bilder: Plenarsaal des EP während der Europawahl: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Charles Goerens: © Charles Goerens [alle Rechte vorbehalten].
Übersetzung aus dem Französischen: Manuel Müller.

Savoir qui fera quoi : Les listes transnationales peuvent sauver le système des « Spitzenkandidaten »

La procédure des « Spitzenkandidaten » visait à démocratiser l’élection du président de la Commission européenne, mais elle a toujours été controversée. Pourquoi a-t-elle échoué en 2019 ? Et comment pourrait-elle être réformée ? Dans une série d’articles invités, des représentants de la politique, du monde universitaire et de la société civile répondent à cette question. Aujourd’hui: Charles Goerens. (Au début de la série.)

The plenary chamber of the European Parliament during the European Elections
« La réponse n’est ni l’abandon des ‹ Spitzenkandidaten › ni le refus de listes transnationales, mais, me semble-t-il, une combinaison des deux approches. »
Dans l’Union Européenne, les systèmes électoraux varient sensiblement d’un État membre à l’autre. Ainsi au Royaume-Uni, l’élection pour la Chambre des communes se fait-elle à un tour à l’issue duquel on sait en principe qui est le premier ministre et quelle est la majorité qui le soutient. Il s’agit en l’occurrence d’un scrutin uninominal qui consiste à faire élire une seule personne dans chaque circonscription. De ce fait, la majorité des votes exprimés, souvent relative, dans chaque circonscription désigne le vainqueur, même si le nombre de voix ayant permis au candidat de l’emporter peut paraître dérisoire. La règle est simple et le citoyen est, quant à lui, confronté à des choix clairs.

Le système électoral britannique pour les législatives est à la fois plus démocratique et moins démocratique qu’un système de représentation proportionnelle. Plus démocratique parce que l’électeur a, en pratique, un pouvoir de dernier mot quant à la désignation du parti appelé à gouverner le pays. En même temps, il est moins démocratique parce qu’en réalité, il écrase les courants politiques moins forts. Ce système est moins représentatif des diverses composantes de la société, étant donné qu’avec un score total de 20%, par exemple, un parti peut, le cas échéant, n’avoir aucun député tandis que le double des voix exprimées peut procurer une majorité très confortable au parti vainqueur.

Deux systèmes électoraux

Dans les pays où l’on vote à la proportionnelle, par contre, le nombre de sièges attribués à un parti est en fonction du nombre de personnes ayant voté pour celui-ci. Ici, contrairement au système électoral majoritaire, les courants de pensée politique sont généralement plus fidèlement représentés. L’écart entre eux tend à se réduire et les gouvernements de coalition sont pour ainsi dire devenus la règle. Souvent l’exécutif ne se met en place qu’après d’âpres consultations et négociations. Il n’est pas anormal de voir passer des semaines et des mois, parfois plus d’une année, avant qu’une majorité parlementaire se profile.

Certes, il ne viendrait à l’esprit de personne de douter du caractère démocratique du système majoritaire. Force est de constater, cependant, que son efficacité dans la désignation d’une majorité a un prix : le risque de la non prise en considération des aspirations des courants minoritaires et par voie de conséquence, la faible prédisposition des acteurs politiques à la recherche du compromis. Soucieux de voir dans la mesure du possible les différentes sensibilités mieux représentées au sein du parlement, les acteurs politiques des pays votant à la proportionnelle sont plus enclins à multiplier les conciliabules entre partis, afin de rassembler la masse critique nécessaire à l’obtention d’une majorité.

D’un côté, une pratique électorale plus efficace, plus radicale mais moins respectueuse des attentes des courants minoritaires et, de l’autre, une tradition plus laborieuse, plus lente, moins efficace mais plus représentative, voilà ce à quoi peuvent se résumer les deux systèmes électoraux principaux en vigueur dans nos États membres.

Vers une démocratisation ?

A une époque où plus rien ne semble être définitivement acquis, les lois électorales dans nos pays résistent assez bien à l’usure du temps. C’est sur cette toile de fond que se développe la démocratie européenne à l’échelle de l’UE. Néanmoins à y voir de plus près, l’attitude de la plupart des États membres au regard des élections européennes est moins figée depuis la première élection du Parlement européen au suffrage universel en 1979. Depuis, d’aucuns et notamment le Royaume-Uni et la France ont accepté d’introduire sinon la, du moins une bonne dose de proportionnelle dans la désignation de leurs représentants au Parlement européen.

Outre l’élection directe des députés européens, d’autres mesures sont à mettre à l’actif de l’UE en matière de démocratisation. Citons à cet égard la citoyenneté européenne qui a notamment ouvert la voie à la participation de tous les citoyens aux élections municipales, ainsi qu’aux élections européennes dans leur pays de résidence, même s’ils n’en ont pas la nationalité. S’y ajoute le passage de la simple consultation au pouvoir de codécision du Parlement européen dans plus de quatre-vingt-quinze pour cent des cas pour ce qui est de l’adoption des textes législatifs.

La querelle sur les « Spitzenkandidaten »

Si l’on peut dire, avec le recul, que la démocratisation de l’UE a fait son petit bonhomme de chemin, la poursuite de celle-ci s’annonce plus hasardeuse. En 2018, le Parlement européen n’a pas réussi à rassembler une majorité autour de la proposition de créer des listes électorales transnationales. L’idée, à la base, de faire élire dans une seule circonscription paneuropéenne 46 députés a été de faire émerger de cette liste la personnalité la plus légitimée pour pouvoir prétendre à la présidence de la Commission et de renforcer ainsi le concept des « Spitzenkandidaten ».

C’est le Parti Populaire Européen (PPE) qui, en 2018, a voté contre les listes transnationales au Parlement européen. Conçues initialement comme un moyen de renforcer la légitimité de la future équipe dirigeante de la Commission, son rejet par les députés du PPE a amené le président français Emmanuel Macron, à son tour, à remettre en question la règle des « Spitzenkandidaten ». En refusant de supporter la nomination du candidat du PPE, Manfred Weber, à la présidence de la Commission en mai dernier, Emmanuel Macron, las de voir toutes ses propositions de relance du projet d’intégration européenne ignorées par la CDU, a sonné le glas des « Spitzenkandidaten », du moins provisoirement.

Rien n’indique, pourtant, en ce moment, que le concept ne pourrait pas être remis sur le métier. En effet, la Conférence sur le futur de l’Europe va être l’occasion pour les citoyens de se prononcer pour une Union plus démocratique, plus visible et plus lisible. La manière dont le récent renouvellement du cycle législatif a été réalisé est hautement perfectible pour dire le moins.

Un moment de vérité et de clarté

Tant pour le citoyen que pour les candidats, une élection doit être un moment de vérité et de clarté. Si la personne qui se rend aux urnes n’a pas le sentiment que le dépôt de son bulletin de vote contribue à désigner le ou la responsable politique qui sera en charge de piloter l’UE dans les cinq ans à venir, elle se sentira flouée. Bref, l’électeur aimerait savoir qui fera quoi.

Est-ce que l’électeur a pu obtenir une réponse claire à cette double question pendant la campagne électorale de 2019 ? Pour les partisans du PPE, il était entendu que le prochain président de la Commission ne pouvait être autre que Manfred Weber. De toute évidence, c’est le PPE qui a le plus grand intérêt au maintien du statu quo des « Spitzenkandidaten », étant donné que dans sa logique, sa position dominante dans le paysage des partis lui garantit quasiment une emprise permanente sur la présidence de la Commission. Les autres familles politiques, cependant, ne sont plus prêtes à accepter cette situation de monopole d’un courant politique qui, malgré sa force actuelle, est loin de représenter la majorité de l’électorat.

Par ailleurs, même si le système des « Spitzenkandidaten » était consensuel entre les grandes formations politiques, il est indéniable que par le passé, l’électeur en attente d’une réponse sur le « quoi ? » – c’est-à-dire, sur un programme politique clair des candidats et qui est connu en avance – est resté sur sa faim.

« Spitzenkandidaten » menant les listes transnationales

Comment sortir de cette impasse ? La réponse à cette interrogation n’est ni l’abandon des « Spitzenkandidaten » ni le refus de listes transnationales, mais, me semble-t-il, une combinaison des deux approches. Imaginons-nous un seul instant la campagne pour les élections européennes de 2024 avec six têtes de liste, menant chacune une liste transnationale où l’électeur aurait la possibilité de cocher le nom du candidat qu’il aimerait voir présider la Commission de 2024 à 2029. Celui ou celle qui sortirait vainqueur de cette compétition aurait une légitimité incontestable pour prétendre à la plus haute fonction de l’UE. Il est évident que les prétendants à ladite fonction ne pourraient survivre politiquement à une campagne électorale sans avoir pris des engagements clairs sur les grands dossiers de notre époque.

Qui fera quoi dans l’Union européenne de demain ? Les « Spitzenkandidaten » menant les listes transnationales nous pourront déjà nous le dire en avril mai 2024, si nous le voulons.

Charles Goerens (PD/ALDE) est membre du Parlement Européen dans le groupe Renew Europe et vice-président de la Commission des affaires constitutionnelles (AFCO).
La réforme de la procédure des « Spitzenkandidaten » – Sommaire

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Resuscitating the lead candidates procedure: What can the Europarties do themselves? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Spitzenkandidaten System: A View from Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Savoir qui fera quoi : Les listes transnationales peuvent sauver le système des « Spitzenkandidaten » [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Images : Salle plénière du PE pendant les élections européennes : © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; portrait Charles Goerens : © Charles Goerens [tous droits réservés].

13 März 2020

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (März 2020): Auftrieb für S&D und Linksfraktion – dank Thüringen und Irland

GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 39 68 147 98 187 61 76 29
Jan. 20 49 58 135 93 186 65 82 24 13
März 20 51 58 138 88 188 67 82 21 12
dynamisch 52 59 138 90 189 70 82 25

Basis-Szenario,
Stand: 10.3.2020.


Dynamisches Szenario,
Stand: 10.3.2020.
Der Brexit, die Eskalation der polnischen Justizkrise, die Rückkehr der Asylfrage, das Coronavirus – an politischen Großereignissen mit gesamteuropäischer Dimension bestand in den letzten acht Wochen kein Mangel. Doch in der Öffentlichkeit werden solche Ereignisse aus verschiedenen Gründen kaum in einem parteipolitischen Kontext gebracht. Sie haben deshalb kurzfristig auch nur wenig Einfluss auf die Umfragewerte der europäischen Parteien. Was die europäischen Umfragen seit der letzten Sitzprojektion von Mitte Januar tatsächlich bewegt hat, waren vielmehr zwei nationale Ereignisse, die sich so stark auf die nationalen Umfragen der betreffenden Mitgliedstaaten auswirkten, dass sie auch in der gesamteuropäischen Aggregation sichtbar werden.

Das eine dieser Ereignisse war der Eklat um die Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten Anfang Februar. Dieser ließ in Deutschland die CDU (EVP) und besonders die FDP (RE) in den Umfragen abrutschen, während die SPD (S&D) und in geringerem Umfang die Grünen (G/EFA) dazugewannen. Auch wenn es dabei insgesamt nur um ein paar Prozentpunkte ging, fällt Deutschland aufgrund seiner großen Zahl an Europaabgeordneten in der EU-Sitzprojektion besonders ins Gewicht.

Das zweite Ereignis war die irische nationale Parlamentswahl Anfang Februar, bei der die links-republikanische Sinn Féin (GUE/NGL) einen Überraschungserfolg erzielte und erstmals knapp mehr Stimmen als die bislang dominanten Fine Gael (EVP) und Fianna Fáil (RE) errang. In den ersten Umfragen nach der Wahl konnte SF diesen Vorsprung noch weiter ausbauen, sodass sie derzeit als vorherrschende nationale Kraft erscheint.

Diese beiden Entwicklungen schlagen sich auch auf die aktuelle Sitzprojektion nieder und belasteten die christdemokratisch-konservative EVP und die liberale RE, während die sozialdemokratische S&D und die Linksfraktion GUE/NGL profitierten.

EVP im Plus, aber geschwächt

Im Einzelnen verliert die EVP-Fraktion gegenüber der Januar-Projektion sowohl in Deutschland als auch in Irland je zwei Sitze. Auch dass bei der slowakischen Parlamentswahl Ende Februar die OĽANO – eine intern sehr heterogene konservativ populistische Protestpartei, die seit der Europawahl 2019 der EVP-Fraktion angehört – einen überraschend deutlichen Sieg erzielte, brachte der EVP als Ganzes für die Projektion keinen Nutzen, da dieser Wahlsieg zulasten anderer EVP-Mitgliedsparteien ging: Die christdemokratische KDH und die beiden ungarischen Minderheitenparteien SMK-MKP und Most-Híd scheiterten alle an der Fünf-Prozent-Hürde.

Dennoch liegt die EVP im Vergleich zur Januar-Projektion insgesamt knapp im Plus (188 Sitze / +2), da sie in zahlreichen anderen Ländern (Malta, Niederlande, Polen, Portugal, Schweden, Ungarn) leichte Zugewinne verbuchen kann. Allerdings liegen diese Zugewinne größtenteils innerhalb der Schwankungsbreiten der nationalen Umfragen; dass sie durchweg positiv ausfallen, dürfte ein bloßer Zufallseffekt sein. Im Ganzen erscheint die Situation der EVP heute deshalb etwas schwächer als noch im Januar.

S&D gewinnt, RE verliert

Der größte Gewinner der letzten Wochen ist die S&D-Fraktion (138 Sitze / +3). Außer der deutschen SPD erfuhr hier vor allem die italienische Mitgliedspartei PD eine Aufwärtsentwicklung. Auch der rumänische PSD, der seit mehreren Jahren in den Umfragen kontinuierlich abstürzte, erholte sich zuletzt – allerdings auf Kosten der ebenfalls sozialdemokratisch ausgerichteten kleineren Partei PRO, die nun nicht mehr ins Europäische Parlament einziehen würde. In mehreren anderen Ländern (Lettland, Malta, Polen, Tschechien, Ungarn) fielen die Umfragen der Sozialdemokraten zuletzt etwas schwächer aus, was in der Projektion den Aufschwung für die S&D insgesamt dämpft. Allerdings bleiben diese Verluste (spiegelbildlich zu den Zugewinnen der EVP) weitgehend im Rahmen der üblichen Zufallsschwankungen.

Die größten Verluste seit Januar erfuhr demgegenüber die liberale RE-Fraktion, die in der Projektion auf 88 Sitze abstürzt (–5) – ihr schlechtester Wert seit Mai 2017. Diese Einbußen sind vor allem den Ereignissen in Deutschland und Irland geschuldet. Sie stehen allerdings im Kontext eines breiteren, auch andere Länder umfassenden Abwärtstrends der Fraktion, die noch im Herbst 2019 auf 108 Sitze kam. Seitdem mussten die Liberalen in fast allen großen Mitgliedstaaten, speziell in Spanien, Rumänien und den Niederlanden, Rückschläge hinnehmen. (Über die Situation der französischen Regierungspartei LREM, die allein rund ein Viertel der RE-Fraktion ausmacht, lassen sich mangels nationaler Umfragedaten keine klaren Aussagen treffen.)

Einen Sonderfall in diesem Abwärtstrend bildet die Partei Italia Viva, mit der sich der frühere italienische Premierminister Matteo Renzi im September 2019 von den Sozialdemokraten abgespalten hat. Die europäische Zuordnung von IV blieb damals offen: Renzi bekundete zwar seine Nähe zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron und damit zur RE, doch Nicola Danti – der einzige in Italien gewählte Europaabgeordnete, der zu IV übertrat – verblieb zunächst in der S&D-Fraktion. Erst vor wenigen Wochen wechselte Danti nun doch zu RE und stellte damit Klarheit her. In der Projektion kommt Italia Viva nun allerdings überhaupt nicht mehr vor: Die Partei würde derzeit an der nationalen Vier-Prozent-Hürde scheitern.

GUE/NGL gewinnt in Irland deutlich hinzu

Zu den Umfragegewinnern der jüngsten Ereignisse in Deutschland und Irland gehören auch die grüne Fraktion G/EFA und die Linksfraktion GUE/NGL. Die G/EFA gewinnt in der Projektion in beiden Ländern je einen Sitz hinzu, die GUE/NGL in Deutschland einen, in Irland sogar drei.

Ähnlich wie im Fall der S&D-Fraktion werden diese Zugewinne allerdings durch leichte Verluste in anderen Mitgliedstaaten teilweise wieder aufgezehrt. So wären etwa die Grünen in Portugal und Schweden, wo sie sich hart am Rand der nationalen Sperrklausel entlangbewegen, nach den jüngsten Umfragen knapp nicht mehr im Parlament vertreten. Insgesamt erreicht die G/EFA deshalb weiterhin nur 58 Sitze (±0), die GUE/NGL kommt auf 51 (+2).

ID unverändert, EKR in Italien im Aufwind

Wenig Neues gibt es schließlich auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Die rechtsextreme ID-Fraktion steht hier nun schon in der fünften Projektion in Folge unverändert bei 82 Sitzen (±0). Leichten Verlusten der deutschen AfD stehen leichte Gewinne der slowakischen Sme Rodina gegenüber.

Die rechtskonservative EKR-Fraktion wiederum kann auf 67 Sitze zulegen (+2). Dies liegt im Wesentlichen an ihrer italienischen Mitgliedspartei FdI, die in den Umfragen bereits seit rund einem Jahr kontinuierlich gewachsen ist und inzwischen (gleichauf mit der spanischen Vox) die zweitstärkste nationale Delegation in der Fraktion stellen würde. Hingegen haben sich die Umfragewerte der dominanten Kraft in der EKR, der polnischen Regierungspartei PiS, trotz der Aufregung um das polnische Justizsystem seit Januar kaum verändert und blieben im Rahmen der üblichen Schwankungen.

Weniger Fraktionslose und „Weitere“

Etwas zurück geht in der aktuellen Projektion die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten (21 Sitze / –3). Dies liegt teilweise an neuerlichen leichten Verlusten des italienischen M5S, das seit Beginn seiner nationalen Regierungsbeteiligung vor knapp zwei Jahren mehr als die Hälfte ihrer Wähler eingebüßt hat. Zum anderen sind die beiden fraktionslosen Parteien aus Kroatien, ŽZ und NLMK, zuletzt in den Umfragen abgestürzt und wären nun nicht mehr im Parlament vertreten.

Einen Rückgang gibt es auch unter den „weiteren Parteien“, die derzeit nicht im Parlament vertreten sind und auch keiner europäischen Partei angehören (12 Sitze / –1). Die proeuropäisch-linke MeRA25 aus Griechenland sowie die Rechtsparteien THO aus Tschechien, SNS aus der Slowakei und Chega aus Portugal, die nach den Umfragen im Januar alle noch auf einen Sitz kamen, wären derzeit nicht mehr im Parlament vertreten.

Neue Parteien aus Kroatien und dem Baltikum

Neu im Tableau ist hingegen die nationalkonservative DPMŠ um den kroatischen Sänger und Musikproduzenten Miroslav Škoro, die erst im Februar gegründet wurde und aus dem Stand auf zweistellige Umfragewerte kommt. Mehrere neue „weitere Parteien“ gibt es zudem aus dem Baltikum: Die estnische liberale Partei E200 erfährt derzeit den größten Höhenflug seit ihrer Gründung vor knapp zwei Jahren und könnte erstmals ins Europäische Parlament einziehen. Auch die zentristische LRA aus Lettland ist in den Umfragen nun wieder so stark, dass sie einen Sitz erringen könnte. In Litauen schließlich hat sich die rechtspopulistische TT, die in der Vergangenheit bereits im Europäischen Parlament vertreten war, mit einigen kleineren nationalliberalen Parteien zusammengeschlossen und firmiert nun unter der neuen Abkürzung LT.

Neu unter den „Weiteren“ ist schließlich auch die deutsche Tierschutzpartei, deren einziger Abgeordneter Martin Buschmann der GUE/NGL-Fraktion gehörte – bis Ende Januar bekannt wurde, dass er in der Vergangenheit der neonazistischen NPD angehört hatte. Buschmann verließ daraufhin die Fraktion und wenig später auch die Tierschutzpartei, behielt jedoch als fraktionsloser Abgeordneter seinen Sitz im Parlament. In der Projektion wird die Tierschutzpartei deshalb künftig als „weitere Partei“ geführt, im dynamischen Szenario jedoch weiterhin der GUE/NGL zugerechnet.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dabei dem Basisszenario, in dem nationale Parteien in der Regel jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet und Parteien ohne klare Zuordnung als „weitere Parteien“ ausgewiesen werden. Demgegenüber geht das dynamische Szenario von stärkeren Annahmen aus und ordnet insbesondere die „weiteren Parteien“ der Fraktion zu, der diese plausiblerweise am nächsten stehen. Die Veränderungen im dynamischen Szenario sind in der Tabelle durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter den Tabellen erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 39 68 147 98 187 61 76 29
Jan. 20 49 58 135 93 186 65 82 24 13
März 20 51 58 138 88 188 67 82 21 12
dynamisch 52 59 138 90 189 70 82 25

GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
DE 9 Linke 21 Grüne
1 Piraten
1 ÖDP
1 Volt
1 Partei
15 SPD 6 FDP
2 FW
24 Union 1 Familie 12 AfD 1 Partei 1 Tier
FR 6 FI 13 EELV 6 PS 23 LREM 8 LR
23 RN

IT

19 PD
5 FI
1 SVP
11 FdI 27 Lega 13 M5S
ES 8 UP
1 Bildu
2 ERC 18 PSOE 3 Cʼs
1 PNV
13 PP 11 Vox
1 JxC 1 MP
PL

7 Lewica
15 KO
4 KP
22 PiS

4 Konf
RO

11 PSD 5 USR-PLUS 17 PNL



NL 2 SP
1 PvdD
2 GL 3 PvdA 4 VVD
3 D66
3 CDA
2 50plus
1 CU
3 FvD
1 SGP
4 PVV

EL 6 Syriza
2 KINAL
10 ND 1 EL
1 KKE
1 XA

BE 2 PTB-PvdA 1 Groen
2 Ecolo
1 sp.a
2 PS
1 O-VLD
2 MR
1 CD&V
1 cdH
1 CSP
3 N-VA 4 VB

PT 2 BE
10 PS
8 PSD
1 CDS-PP




CZ 1 KSČM 3 Piráti 1 ČSSD 8 ANO 3 TOP09
1 KDU-ČSL
3 ODS 1 SPD

HU

3 DK
1 MSZP
2 MM 13 Fidesz

2 Jobbik
SE 2 V
5 S 2 C 4 M
2 KD
6 SD


AT 3 Grüne 3 SPÖ 2 Neos 8 ÖVP
3 FPÖ

BG

5 BSP 2 DPS 6 GERB
2 DB
2 WMRO


DK 1 Enhl. 1 SF 5 S 4 V
1 RV
1 K
1 DF

FI 1 Vas 2 Vihr 2 SDP 2 Kesk 3 Kok
4 PS

SK

3 SMER 1 PS
4 OĽANO
1 SaS 2 SR 2 ĽSNS 1 Za ľudí
IE 6 SF 1 GP
3 FF 3 FG



HR

5 SDP
5 HDZ


2 DPMŠ
LT
2 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
1 DP
4 TS-LKD


1 LT
LV

2 SDPS 1 AP!
1 ZZS
1 JV
1 JKP
1 NA

1 LRA
SI 1 Levica
1 SD 2 LMŠ 3 SDS-SLS
1 NSi




EE

1 SDE 2 RE
2 KE


1 EKRE
1 E200
CY 2 AKEL
1 DIKO
1 EDEK

2 DISY



LU
1 Gréng 1 LSAP 1 DP 2 CSV 1 ADR


MT

3 PL
3 PN




Verlauf (Basisszenario)


GUE/
NGL
G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
10.03.2020 51 58 138 88 188 67 82 21 12
09.01.2020 49 58 135 93 186 65 82 24 13
23.11.2019 48 57 138 99 181 62 82 22 16
23.09.2019 49 61 139 108 175 56 82 24 11
30.07.2019 47 64 138 108 180 57 82 22 7
Wahl 2019 40 68 148 97 187 62 76 27

Die Zeile „Wahl 2019“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 2. Juli 2019, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2019.
Angegeben sind jeweils die Werte im Basisszenario ohne das Vereinigte Königreich. Eine Übersicht der Werte mit dem Vereinigten Königreich für die Zeit bis Januar 2020 ist hier zu finden.
Eine Übersicht älterer Projektionen aus der Wahlperiode 2014-2019 gibt es hier.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Sofern eine Partei im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet ist als im Basisszenario, ist dies ebenfalls im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Fraktionszuordnung

Basisszenario: Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Europawahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden im Basisszenario als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Jeder Leserin und jedem Leser bleibt es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Im dynamischen Szenario werden alle „weiteren Parteien“ einer schon bestehenden Fraktion (oder der Gruppe der Fraktionslosen) zugeordnet. Außerdem werden gegebenenfalls Fraktionsübertritte von bereits im Parlament vertretenen Parteien berücksichtigt, die politisch plausibel erscheinen, auch wenn sie noch nicht öffentlich angekündigt wurden. Um diese Veränderungen gegenüber dem Basisszenario deutlich zu machen, sind Parteien, die im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet werden, in der Tabelle mit der Farbe dieser Fraktion gekennzeichnet; zudem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Die Zuordnungen im dynamischen Szenario basieren auf einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien und sind daher im Einzelnen oft recht unsicher; in der Gesamtschau kann das dynamische Szenario jedoch näher an der wirklichen Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl liegen als das Basisszenario.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wird bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wird der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet, wobei jedoch von jedem einzelnen Umfrageinstitut nur die jeweils letzte Umfrage berücksichtigt wird. Stichtag für die Berücksichtigung einer Umfrage ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Feldforschung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung.
Für Länder, in denen es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, wird stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament bzw. der Durchschnitt aller Umfragen für das nationale oder das Europäische Parlament aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten verfügbaren Umfrage verwendet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wird auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel werden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. Für Länder, in denen die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (aktuell Belgien und Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion werden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass mehrere Parteien als Wahlbündnis auf einer gemeinsamen Liste antreten, werden der Projektion plausibel erscheinende Listengemeinschaften zugrunde gelegt. Dies betrifft folgende Parteien: Spanien: Más País (1., 3. Listenplatz), Compromís (2.) und Equo (4.); ERC (1., 3.-4.), Bildu (2.) und BNG (5.); PNV (1.) und CC (2.); Niederlande: CU (1., 3.-4.) und SGP (2., 5.); Slowakei: PS (1.) und Spolu (2.).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 2 Sitze für PARTEI und FW, je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, Volt und Familienpartei).
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb stets mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Feldforschung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 5.-9.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Italien: nationale Umfragen, 27.2.-10.3.2020, Quelle: Wikipedia.Spanien: nationale Umfragen, 25.2.-6.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 13.-26.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 28.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 8.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 4.-7.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 6.12.2019, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 6.12.2019, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Portugal: nationale Umfragen, 5.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 28.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 12.-20.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 23.2.-3.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 15.-27.2.2020, Quelle: Europe Elects.
Bulgarien: nationale Umfragen, 12.12.2019, Quelle: Europe Elects.
Dänemark: nationale Umfragen, 7.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Finnland: nationale Umfragen, 3.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 29.2.2020.
Irland: nationale Umfragen, 16.-25.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 25.2.-8.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 13.2.2020, Quelle: Europe Elects.
Lettland: nationale Umfragen, 18.-28.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: nationale Umfragen, 28.2.-5.3.2020, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 17.-22.2.2020, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Luxemburg: nationale Umfragen, 23.11.2019, Quelle: Europe Elects.
Malta: nationale Umfragen, 28.2.2020, Quelle: Europe Elects.

Bilder: Eigene Grafiken.