27 März 2020

Nationale Reflexe und europäische Solidarität in der Corona-Krise: Starke Institutionen helfen

Hält Europa in der Coronakrise zusammen? Bislang ist die Bilanz durchwachsen.
Eigentlich hätte es ein schönes Jubiläum sein können: Am gestrigen Donnerstag vor 25 Jahren trat das Schengener Abkommen in Kraft, mit dem die Binnengrenzkontrollen abgeschafft und das Reisen in der EU erleichtert wurde. Aber gerade sind die Grenzen wieder zu, an Reisen ist nicht zu denken, und nach Feiern war den Staats- und Regierungschefs bei ihrer Videokonferenz auch nicht zumute. Stattdessen gab es eine Menge Streit, wie die Kosten der Corona-Krise finanziert werden sollen, und am Ende eine vage Einigung, sich in zwei Wochen noch einmal mit dem Thema zu befassen. Das Coronavirus hat die EU im Griff, und den Mitgliedstaaten fällt es – trotz aller Bekenntnisse zur europäischen Solidarität – sichtlich schwer, ihre nationalen Reflexe abzulegen.

Wieder einmal Solidarität

Dass es in der Krise vor allem auf die Mitgliedstaaten ankommt, ist den EU-Verträgen geschuldet, die der Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Art. 168 AEUV) nur recht begrenzte Kompetenzen einräumen. Die EU-Institutionen können die Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld koordinieren, sie unterstützen und ihnen Empfehlungen geben, aber kaum Vorschriften machen. Und natürlich ist auch der EU-Haushalt viel zu klein, als dass die Union aus eigener Kraft nennenswerte Anstrengungen gegen die Krise unternehmen könnte.

Wie so oft in den Krisen der letzten Jahre sind deshalb alle Augen auf den Europäischen Rat gerichtet. Wieder einmal ist die Krise wenigstens teilweise asymmetrisch und Südeuropa (wenigstens für den Moment) stärker betroffen als der Norden. Und wieder einmal geht es vor allem darum, ob die nationalen Regierungen bereit sind, einander beizustehen, oder ob in der Krise jedes Land sich selbst am nächsten ist. Die bisherige Bilanz in diesem Ringen ist, im besten Fall, durchwachsen – drei Beispiele.

Beispiel 1: Medizinische Versorgung

Als sich die Corona-Epidemie noch weitgehend auf China beschränkte, lieferten EU-Mitgliedstaaten dorthin Mitte Februar Schutzkleidung, Desinfektionsmittel und anderes medizinisches Material: Die Krankheit wirkte weit entfernt, Unterstützung bei ihrer Bekämpfung eine humanitäre Selbstverständlichkeit. Als wenig später die Krankheit auch in Italien ausbrach, wurde die Schutzausrüstung hingegen schnell knapp – nicht zuletzt aufgrund von Panikkäufen in der Bevölkerung. Bereits Ende Februar aktivierte die italienische Regierung deshalb den EU-Katastrophenschutzmechanismus, um um Hilfslieferungen zu bitten. Und auch die Kommission rief die übrigen Mitgliedstaaten zur Unterstützung Italiens auf.

Doch was in Wirklichkeit geschah, war genau das Gegenteil: Statt Italien zu helfen, verhängten mehrere europäische Länder, die von der Krankheit selbst zwar noch kaum betroffen waren, sich aber Sorgen wegen der Panikkäufe machten, Exportverbote für medizinische Schutzkleidung. Die französische Regierung etwa beschlagnahmte die vorhandenen Bestände an Atemschutzmasken und stellte sie nur noch medizinischem Personal und Kranken in Frankreich zur Verfügung. In Deutschland blieben, noch etwas absurder, Atemschutzmasken im freien Handel verfügbar und damit auch ihre medizinisch weitgehend sinnlose Nutzung durch private Gesunde möglich – aber eben nur innerhalb der Landesgrenzen.

Weniger solidarisch als China?

Noch hässlicher wirkte diese fehlende Hilfsbereitschaft durch den Kontrast mit China, das sich nun für die europäische Unterstützung im Februar revanchierte und Italien öffentlichkeitswirksam Atemmasken lieferte. Obwohl diese Lieferungen gegen Bezahlung erfolgten (also weniger humanitäre Hilfe als schlichte Warenexporte waren), stellten sie im Kontext der innereuropäischen Exportverbote ein großer Imageerfolg für die chinesische Regierung dar, die sich als Helferin in der Not feiern lassen konnte, während die EU zutiefst unsolidarisch erschien.

Erst nach einem einen eindringlichen öffentlichen Appell des italienischen EU-Botschafters und massiver Kritik seitens der Kommission und der Benelux-Staaten lösten sich langsam die innereuropäischen Blockaden. Mitte März entschied sich die deutsche Bundesregierung zunächst für eine Lockerung und schließlich Aufhebung des Verbots für innereuropäische Exporte. Zugleich setzte sich Deutschland nun mit Frankreich an die Spitze der Länder, die bilaterale medizinische Hilfsmaßnahmen leisteten – sei es durch Lieferung von medizinischen Gütern oder auch durch die Aufnahme von Patienten aus den meistbetroffenen italienischen Regierungen.

Der Katastrophenschutzmechanismus hilft – nach fast vier Wochen

Zugleich lief auch auf EU-Ebene endlich die gemeinsame Beschaffung von Schutzausrüstung im Rahmen des Katastrophenschutzmechanismus an. Am 24. März, fast vier Wochen nach dem ersten italienischen Ersuchen, verkündete die Kommission, entsprechende Lieferverträge könnten „in Kürze unterzeichnet werden“.

Doch auch in den letzten Tagen kam es noch zu Vorfällen, die das solidarische Bild trüben: So stoppten polnische und tschechische Behörden vergangene Woche zwei chinesische Lieferungen mit medizinischem Material für Italien, die italienische Regierung selbst beschlagnahmte kurz darauf für Griechenland bestimmte Beatmungsgeräte. Als eine Einheit agieren die EU-Mitgliedstaaten bis heute nicht.

Beispiel 2: Grenzschließungen

Dass auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nötig sind, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, war frühzeitig Konsens. Dabei setzte die italienische Regierung (ähnlich wie zuvor China) zunächst vor allem auf eine Abriegelung der am stärksten betroffenen Gebiete. Als sich die Pandemie jedoch weiter ausbreitete, verlegten sich Mitte März einige weniger betroffene Staaten vor allem im Norden und Osten Europas auf eine umgekehrte Strategie: Sie schlossen einseitig die nationalen Grenzen, um Virus draußen zu halten. Der Grenzverkehr für Personen wurde drastisch reduziert, in vielen Fällen durften nur eigene Staatsbürger und Menschen mit besonderen Genehmigungen noch einreisen.

Offiziell begründet wurden diese Grenzschließungen oft mit der Notwendigkeit, Personenbewegungen allgemein zu reduzieren, und mit der Behauptung, dass unterschiedlich strenge nationale Regelungen (etwa bei Veranstaltungsverboten) dazu führen würden, dass Menschen auf die andere Seite der Grenze auswichen. Unter Beobachtern stießen die Grenzschließungen jedoch von Anfang an auf Kritik: Da das Virus Mitte März bereits in allen EU-Staaten vorhanden war, spielte der zwischenstaatliche Grenzverkehr für seine Ausbreitung keine so wichtige Rolle mehr, dass solch drastische Maßnahmen gerechtfertigt wären.

Außengrenzen werden schnell geschlossen, Binnengrenzen eher nicht

Besonders befremdlich war dabei, dass auf vergleichbare Maßnahmen im Inland in der Regel verzichtet wurde. So wurde etwa in Deutschland der innerstaatliche Reiseverkehr zwar dadurch erschwert, dass touristische Hotelübernachtungen und Reisebusfahrten verboten wurden – eine Ein- und Ausreise aus dem Ort Heinsberg, wo es besonders viele Infizierte gab, wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt verhindert.

Warum also waren die Staaten viel eher bereit, die nationalen Außengrenzen zu schließen als innerstaatlich Territorien abzuriegeln? Letztlich dürften dahinter praktische und politische Machbarkeitserwägungen gestanden haben: Innerstaatliche Grenzen zu schließen, um Reiseverkehr zu verringern, ist aufgrund der fehlenden Infrastruktur nur schwer umzusetzen. An zwischenstaatlichen Grenzen hingegen ist die kurzfristige Wiedereinführung von Grenzkontrollen auch durch die Schengen-Verordnung immer als Option erhalten geblieben und wirkt auch im öffentlichen Bewusstsein als ein viel normalerer Vorgang (umso mehr, als nationale Grenzschließungen ja zunächst einmal immer nur die Staatsbürger der anderen Länder einschränken, nicht die eigenen).

Auch die EU schließt ihre Außengrenzen

Der EU-Kommission blieb bei all dem nur, die einzelnen Mitgliedstaaten zu einem koordinierten Vorgehen zu ermahnen und ihnen mäßigende Leitlinien für coronabedingte Grenzmaßnahmen an die Hand zu geben. Was indessen den Rest der Welt betrifft, reagierte die EU gar nicht so anders als ihre Mitgliedstaaten: Mitte März verhängte sie strikte Einreisekontrollen für Nicht-EU-Bürger, obwohl eine ähnliche Maßnahme der USA eine Woche zuvor in Brüssel noch auf bittere Kritik gestoßen war.

Insgesamt zeigten damit die Mitgliedstaaten und die Union ein ähnliches Bild: Wer die Macht hat, eine Außengrenze zu schließen, der neigt in der Krise dazu, das auch zu tun – oft mit sehr viel größerer Bereitschaft, als wenn es um das Abriegeln besonders betroffener Gebiete im eigenen Landesinneren geht.

Beispiel 3: Finanzielle Maßnahmen

Der größte Streit der letzten Tage schließlich betrifft die finanziellen Maßnahmen zur Bekämpfung der absehbaren Wirtschaftskrise. Angesichts der massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens ist eine schwere Rezession in den nächsten Monaten wohl unvermeidbar; viele Akteure (von großen Flugunternehmen bis zu kleinen Selbstständigen) bangen um ihr wirtschaftliches Überleben und sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Wie aber soll diese Unterstützung finanziert werden?

Als erste Maßnahme schlug die Europäische Kommission am 20. März die Aktivierung der „allgemeinen Ausweichklausel“ vor, um die Defizitregeln des Stabilitätspakts auszusetzen. Als Folge dürften die nationalen Regierungen unbegrenzt Schulden aufnehmen, um die Coronakrise zu bekämpfen. Das allein dürfte allerdings noch zu wenig sein: Wenn jeder Mitgliedstaat nur für sich allein verantwortlich ist, könnte das Ausmaß der Krise viele von ihnen überfordern. Und wenn dann auf den Finanzmärkten Zweifel an ihrer Bonität entstehen, droht im schlimmsten Fall eine neue Staatsschuldenkrise wie in den Jahren ab 2010.

„Coronabonds“ und ESM-Kredite

Bereits Mitte März schlug der italienische Regierungschef Giuseppe Conte (parteilos) deshalb die Einführung von „Coronabonds“ vor: gemeinschaftlichen Anleihen der EU-Mitgliedstaaten, aus denen Maßnahmen gegen die Krise finanziert werden sollten. Der Vorschlag erinnert stark an die Eurobonds, die während der Eurokrise diskutiert wurden, und auch die Konfliktlinien zwischen den nationalen Regierungen sind die gleichen wie damals: Neun hauptsächlich südeuropäische Staats- und Regierungschefs (aus Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Slowenien, aber auch Belgien, Luxemburg und Irland) unterstützten die Idee am vergangenen Mittwoch in einem gemeinsamen Schreiben.

Deutschland und die Niederlande lehnen den Vorschlag hingegen ab. Der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra (CDA/EVP) warnte gar in bester Eurokrisenrhetorik, Coronabonds würden die „strukturellen Herausforderungen“ der Mitgliedstaaten nicht lösen und „Anreize für eine umsichtige Politik auf nationaler Ebene untergraben“. Wie schon die Eurobonds könnten also auch die Coronabonds am deutsch-niederländischen Widerstand scheitern.

Die plausibelste Alternative zu ihnen wären Hilfskredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, doch auch darüber gibt es Streit: Während die südeuropäischen Länder sich dafür einsetzen, dass der ESM in dieser Situation bedingungslos Unterstützung leistet, wollen Deutschland und verschiedene nordeuropäische Länder am Prinzip festhalten, dass ESM-Kredite grundsätzlich nur gegen Auflagen möglich sind. Der niederländische Premierminister Mark Rutte (VVD/ALDE) erklärte zudem, für einen Einsatz des ESM sei es ohnehin noch „zu früh“. Die Entscheidung wurde jedenfalls erst einmal verschoben.

Während der Europäische Rat streitet, wird die EZB aktiv

Kommt es also zur Eurokrise 2.0? Einige Umstände geben immerhin Hoffnung, dass die Staatsschuldenfrage diesmal nicht ganz so dramatisch ausfallen wird wie in den Jahren nach 2010. Zum einen hat sich insbesondere in Deutschland auch der öffentliche Diskurs weiterentwickelt: Während in der deutschen Öffentlichkeit während der Eurokrise vor allem Ökonomen sichtbar waren, die Unterstützung für andere EU-Länder ablehnten, veröffentlichte jüngst sogar die konservative FAZ einen Gastbeitrag einer Gruppe deutscher Wirtschaftswissenschaftler, die sich für Coronabonds aussprachen. Zum anderen hilft auch schlicht die Tatsache, dass es den ESM bereits gibt und dass er grundsätzlich einsatzfähig ist. Worum es geht, ist nicht mehr das Ob, sondern das Wie von zwischenstaatlichen Hilfen.

Dennoch: Erst einmal hat sich der Europäische Rat in dieser Frage so zerstritten, dass in den nächsten zwei Wochen mit überhaupt keine Entscheidung gerechnet werden kann. In der Zwischenzeit bleibt wie in der Eurokrise nur die Europäische Zentralbank als Akteur übrig, um mit einem gewaltigen Aufkaufprogramm gegen die Corona-Krise vorzugehen. (Dabei hatte EZB-Chefin Christine Lagarde nur eine Woche zuvor noch die Regierungschefs aufgerufen, doch bitte selbst aktiv zu werden und diese Angelegenheit nicht der Zentralbank zu überlassen. Aber auch diese Dynamik ist noch aus der Eurokrise vertraut.)

Fazit

Betrachtet man all diese Beispiele zusammen, so lässt sich daraus eine allgemeine Lehre ziehen: Wenn es hart auf hart kommt, hängt das Ausmaß an europäischer Solidarität wesentlich davon ab, ob es für den Umgang mit der Krise gemeinsame Institutionen mit echten Kompetenzen gibt.

Wo europäische Institutionen fest etabliert sind und eigene Entscheidungen treffen können, suchen sie wie die EZB nach Möglichkeiten, in der Krise im gemeinsamen europäischen Interesse zu handeln. Wo Institutionen vom guten Willen der nationalen Regierungen abhängig sind, reagieren sie wie der Katastrophenschutzmechanismus oder der ESM nur mit Verzögerung und nach großem Streit. Und wo Institutionen zum Rückzug ins Nationale einladen, werden sie wie die nationale Kompetenz zur vorübergehenden Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen trotz aller schönen Worte genutzt.

Es wäre sicher falsch, die grundsätzliche europäische Solidaritätsbereitschaft der EU-Mitgliedstaaten in Zweifel zu ziehen. Aber damit sie in Krisensituationen in schnelles Handeln umgesetzt werden kann, ist es besser, sich nicht auf „gemeinsame Werte“ und dergleichen zu verlassen, sondern auf starke supranationale Institutionen.

Bild: CDC / Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM [Public domain], via Wikimedia Commons.

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