- Ob mit oder ohne Europaflagge: Wahlkampfveranstaltungen wie diese Demo von 2016 sind in Polen derzeit nicht erlaubt. Gewählt werden soll trotzdem.
Dass
die Corona-Pandemie für die EU eine Krise von außergewöhnlichem
Ausmaß darstellt, ja sogar – in den Worten der deutschen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) – die „größte
Bewährungsprobe in ihrer Geschichte“,
ist inzwischen nahezu zu einem Gemeinplatz geworden. Dass es dabei an
vielen Ecken knirscht, ebenso: Die wochenlangen Verzögerungen bei
der gemeinsamen Beschaffung von medizinischem Material, die
einseitigen Binnengrenzschließungen, die heftigen Streitigkeiten um
die Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach der
anstehenden Rezession warfen kein
gutes Bild auf die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zu abgestimmtem und
solidarischem Handeln. Dass nach der Euro- und der Asylkrise die
Bruchlinien in diesen Streitigkeiten nun schon zum dritten Mal in
einem Jahrzehnt zwischen Nord und Süd verlaufen, kommt verschärfend
hinzu. Besonders im einst so integrationsfreundlichen Italien haben
nationalistische Europagegner deshalb gerade leichtes Spiel.
Bei der europäischen Solidarität bewegt sich etwas
Aber
wird die EU, wie nun zuweilen
gewarnt wird, an diesen Herausforderungen zerbrechen? Die Gefahr,
dass durch die massiven Belastungen und die angestauten Ressentiments
rechtsextreme Parteien in großen Mitgliedstaaten wie Italien oder
Frankreich in den nächsten Jahren die Regierung übernehmen könnten,
ist jedenfalls real.
Immerhin
aber ist auch die Notwendigkeit solidarischen Handelns im
öffentlichen Bewusstsein der nördlichen Mitgliedstaaten –
speziell Deutschlands – heute
sehr
viel
präsenter
als noch in der Eurokrise. Und auch wenn die deutsche und
niederländische Regierung nach außen an ihrem starren Nein zu
„Coronabonds“ festhalten, so zeigen die Beschlüsse
der Eurogruppe von vergangener Woche und die aktuelle Diskussion
um einen billionenschweren,
aus Anleihen auf den EU-Haushalt finanzierten Wiederaufbau-Fonds,
dass nun vieles an europäischer Solidarität möglich wird, was vor
kurzem noch kaum denkbar schien.
Zerfall
demokratischer Werte
Doch
die unzureichende Solidarität ist nicht die einzige Bedrohung für
den Zusammenhalt der EU in der Coronakrise. Ein anderer
Zerfallsprozess hat bereits eingesetzt: nämlich jener der
gemeinsamen demokratischen Werte. Die Rede ist natürlich von den
Regierungen Ungarns und Polens, die beide auf ihre jeweils eigene
Weise die Krise zu nutzen versuchen, um ihre autoritäre Macht
auszubauen.
Vor
allem zwei Dinge leisten ihnen dabei Vorschub: Zum einen hat die
Pandemie auch in anderen Mitgliedstaaten zu Einschränkungen von
Bürgerrechten und zu Sondervollmachten für die Exekutive geführt, wodurch diese in der Öffentlichkeit einen Anstrich von Normalität
erhalten. Und zum anderen setzen die beiden Regierungen offenbar darauf, dass die
EU-Institutionen und die anderen Mitgliedstaaten in der jetzigen
Krise davor zurückschrecken werden, einen zusätzlichen offenen
Konflikt vom Zaun zu brechen. Bislang scheint dieses Kalkül
weitgehend aufzugehen. Doch wenn die EU hier nicht dagegen hält,
droht ihr mit dem Zerfall ihrer Wertegrundlage
eine noch weitaus existenziellere Gefahr als im Streit um die
Coronabonds.
Ungarn:
Zeitlich unbegrenzte Ermächtigung der Regierung
Im
Einzelnen zeigt das Vorgehen der beiden Regierungen einige
Unterschiede, wobei jene in Ungarn, gestützt von ihrer
Zweidrittelmehrheit im nationalen Parlament, ihre Machtambitionen
unverblümter umsetzte. Mit rund 170 bestätigten Krankheits- und 15
Todesfällen pro Million Einwohner (Stand:
16. April) gehört Ungarn bis heute zu den – wenigstens nach
offiziellen Daten – von der Pandemie vergleichsweise wenig
betroffenen EU-Ländern und verzichtete bislang auch anders
als die meisten anderen Mitgliedstaaten auf eine nationale
Ausgangssperre.
Dennoch
verhängte die Regierung
unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) bereits Mitte März einen
Ausnahmezustand, der am
30. März vom Parlament
auf unbegrenzte Zeit
verlängert wurde. Zugleich übertrug das Parlament der Regierung im
sogenannten
„Corona-Gesetz“
für die Dauer dieses Ausnahmezustands weitreichende
Gesetzgebungsvollmachten und verbot die Abhaltung von Wahlen
und Referenden. Zugleich wurde durch Androhung mehrjähriger Haftstrafen auf „Falschinformationen zu
einer öffentlichen Gefahr, die geeignet sind, Unruhe unter einer
großen Zahl an Menschen auszulösen“, die Pressefreiheit eingeschränkt – mit der besonderen Pointe, dass die Regierung selbst das Coronavirus regelmäßig nutzt, um Halb- und Unwahrheiten über ihre Lieblingsgegner wie Migranten oder den ungarisch-amerikanischen Milliardär und Demokratie-Aktivisten George Soros zu verbreiten.
All
diese Maßnahmen sollen zwar auf den Zweck der Pandemie-Bekämpfung
beschränkt sein. Doch das drastisch unverhältnismäßige Ausmaß
der Regierungsermächtigung und der Verzicht auf eine zeitliche Begrenzung lassen nichts Gutes erahnen. Insbesondere im Licht vergangener Erfahrungen: Auch
der Ausnahmezustand, den
die ungarische Regierung
während
der Asylkrise 2015
verhängte, wurde
seitdem niemals
aufgehoben.
Polen:
Präsidentschaftswahl trotz Ausgangssperre
Auf
den ersten Blick genau umgekehrt ist
die Situation in Polen, das mit 200 bestätigten Krankheits- und 7,5
Todesfällen pro Million Einwohner
(Stand:
16. April) ebenfalls
zu den nur wenig betroffenen Ländern gehört. Im
Gegensatz zu Ungarn ordnete die Regierung in Polen sehr schnell recht
weitgehende Ausgangssperren an, verzichtete jedoch auf die Ausrufung
des Ausnahmezustands, der
mit solchen Maßnahmen üblicherweise einher ginge.
Das
politische Kalkül dahinter ist recht
offensichtlich: Am 10.
Mai ist die polnische Präsidentschaftswahl geplant, die im
Ausnahmezustand verschoben werden müsste. Vor Ausbruch der Pandemie
lag der von der Regierungspartei PiS (EKR) unterstützte Amtsinhaber
Andrzej Duda in den Umfragen vorn, doch in der Stichwahl wäre die
stärkste Oppositionskandidatin Małgorzata
Kidawa-Błońska
(PO/EVP) durchaus nicht aussichtslos gewesen. Nun aber verhindern die
Ausgangsbeschränkungen einen effektiven Wahlkampf, während Duda
durch die Berichterstattung über die Anti-Corona-Maßnahmen
zusätzliche
mediale Sichtbarkeit gewann.
Eine
verfassungswidrige Wahlrechtsreform
Doch
damit nicht genug: Um die Wahlen überhaupt einigermaßen sicher
abhalten zu können, beschloss
die Regierungsmehrheit im Parlament Ende März ein Gesetz zur
allgemeinen Briefwahl. Das war nicht nur ein Novum für Polen, wo
es Briefwahl zuvor nur in wenigen Ausnahmefällen gab, sondern auch
ein recht offensichtlicher Verstoß gegen ein
Verfassungsgerichtsurteil von 2006, das Wahlrechtsreformen in den
letzten sechs Monaten vor einer Wahl verbietet. (Durch
ihre Mehrheit im polnischen Senat könnte die Opposition das
Inkrafttreten dieses Gesetzes zwar noch bis zum 8. Mai verzögern,
wodurch der ursprüngliche Wahltermin nicht mehr zu halten wäre.
Allerdings erlaubt das Gesetz auch eine kurzfristige Verschiebung
durch die Parlamentspräsidentin, sodass die Wahl dann einfach eine
Woche später stattfinden könnte.)
Als
Reaktion darauf stellte Kidawa-Błońska
Ende
März ihren
Wahlkampf ein und rief zum Wahlboykott auf.
Als
das wahrscheinlichste Ergebnis erscheint derzeit deshalb ein Sieg
von Duda in der ersten Runde, gefolgt von einer Klage der Opposition
gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl. Nach
der Justizreform von 2018 würde diese Klage allerdings vor
der neu eingerichteten Kammer für Außerordentliche Kontrolle und
Öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts verhandelt –
einer Kammer, deren Richter von dem PiS-kontrollierten
Landesjustizrat nominiert wurden und die deshalb wohl (ebenso wie die
Disziplinarkammer) nicht den
Maßstab
des Europäischen Gerichtshofs an ein unabhängiges und
unparteiliches Gericht erfüllt.
Europaabgeordnete
starten eine Petition
Während
die ungarische Regierung also die parlamentarische Kontrolle
reduziert und die Pressefreiheit einschränkt, nutzt die polnische
Regierung die Pandemie, um ihrem Kandidaten einen nahezu sicheren Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu verschaffen und damit ihre
nationale Machtposition für die nächsten Jahre zu festigen. Beide
Vorgehensweisen verstoßen recht offensichtlich gegen
demokratische Prinzipien. Wie aber reagiert die Europäische Union auf diese Herausforderung?
Noch
die
klarsten Worte fand eine parteienübergreifende Gruppe von
Europaabgeordneten, die in einer öffentlichen
Petition explizite Kritik an der polnischen und ungarischen
Regierung übte und die Europäische Kommission aufrief, die
Demokratie in der Corona-Krise zu verteidigen. Inzwischen wurde
dieser Aufruf von über 50.000 weiteren Menschen unterzeichnet. Dass
Europaabgeordnete sich überhaupt dafür entscheiden, zum Instrument
einer öffentlichen Petition zu greifen, zeigt allerdings schon, wie
eingeschränkt ihr institutioneller Handlungsspielraum in dieser
Sache ist.
Regierungen sind „tief besorgt“, nennen aber keine Namen
Unter
den nationalen Regierungen wiederum war es die luxemburgische, die am
deutlichsten Position bezog: Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE)
warnte
vor einer „diktatorischen Regierung“ in Ungarn und forderte
eine „politische Quarantäne“ in Form von Sanktionen nach Art. 7
EUV.
Die
große Mehrzahl der Mitgliedstaaten konnte sich zu einer so klaren
Haltung hingegen nicht aufraffen. Stattdessen veröffentlichten
13 Regierungen
am
1. April eine gemeinsame
Stellungnahme, in der sie sich
„tief
besorgt über die Gefahr einer Verletzung demokratischer,
rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Prinzipien“ gaben.
Sechs weitere Regierungen schlossen sich später an. Allerdings
nannte die Stellungnahme Ungarn und Polen nicht beim Namen und blieb
auch sonst äußerst vage – so vage, dass die Regierung Orbán sie
sich am 2. April in einem Akt politischer Trollerei einfach selbst zu eigen machte.
Die
Kommission „überwacht“, will aber noch nicht handeln
Ähnlich
zurückhaltend gab sich zunächst die Europäische Kommission, deren
Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) am 31. März ebenfalls
zur Einhaltung demokratischer Prinzipien aufrief, ohne ein Land explizit zu erwähnen.
Nach
öffentlicher
Kritik daran
wurden die Erklärungen aus der Kommission nach und nach deutlicher:
Sowohl von
der Leyen selbst als auch die
für
die EU-Grundwerte zuständige Vizepräsidentin Věra Jourová
(ANO/ALDE) und
Justizkommissar
Didier Reynders (MR/ALDE) äußerten öffentliche Besorgnis über
Polen und Ungarn.
Am
vergangenen Sonntag stellte von der Leyen sogar die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens in den Raum. Auch in einem Schreiben
an den Präsidenten des Europäischen Parlaments kündigte sie an, die Kommission
werde die Entwicklungen in Ungarn hinsichtlich
der „Vereinbarkeit mit den Grundwerten unserer Union, wie in Art. 2 EUV festgehalten,
sowie mit dem EU-Recht im Allgemeinen und der Grundrechtecharta im
Besonderen“ überwachen. Konkret einleiten will sie ein Vertragsverletzungsverfahren auf dieser Grundlage jedoch anscheinend noch nicht, was die Frage aufwirft, an welcher Stelle genau die Kommission eigentlich
ihre rote Linie zieht.
Die
EVP diskutiert über einen Ausschluss, aber vertagt sich erneut
Mit
derselben Frage beschäftigt sich unterdessen auch die Europäische
Volkspartei, der die ungarische Regierungspartei Fidesz bis heute
angehört. Zwar sind ihre Mitgliedschaftsrechte seit März 2019 suspendiert, seit Februar 2020 „bis auf Weiteres“. Zu einem Ausschluss konnte sich die EVP bislang
jedoch nicht aufraffen.
Infolge
der jüngsten Entwicklungen entstand nun noch
einmal eine
nennenswerte Dynamik, das zu ändern: Anfang April forderte
EVP-Präsident Donald Tusk (PO/EVP) in einem Schreiben an die
nationalen EVP-Parteichefs, die Position zur Fidesz „noch einmal zu überdenken“. 13
der 68 EVP-Mitgliedsparteien antworteten darauf mit der Forderung
nach einem Ausschluss der Partei sowie der Suspendierung
ihrer Mitgliedschaft in der EVP-Fraktion. Beteiligt waren an
diesem Vorstoß allerdings hauptsächlich EVP-Mitgliedsparteien aus
Nordeuropa und dem Benelux, die sich schon zuvor stets kritisch gegenüber der Fidesz geäußert hatten. Andere wichtige Mitglieder wie die deutsche CDU, der spanische PP oder die österreichische ÖVP hielten sich weiterhin
bedeckt.
Und
dabei dürfte es erst einmal bleiben: Viktor Orbán selbst antwortete
auf Tusks Initiative mit einem Brief
an den EVP-Generalsekretär, in dem er recht rüde erklärte, er
habe „für so etwas keine Zeit“, da er sich um die Pandemie im
eigenen Land kümmern müsse. Zudem finden aufgrund der Reisebeschränkungen derzeit
ohnehin keine Treffen der EVP-Parteigremien statt. Letztlich verschob die
EVP-Spitze die Entscheidung über einen möglichen Ausschluss der Fidesz deshalb erst einmal wieder auf unbestimmte Zeit.
Die
EU muss gerade jetzt entschlossen handeln
Und nun? Die Corona-Gesetze in Ungarn und Polen sind keine überraschenden
Einzelphänomene. Die
Aushöhlung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte durch die
Fidesz- und die PiS-Regierung schreitet nun schon seit Jahren voran, und die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die
lange praktizierte Strategie
der vorsichtigen Einbindung sie nicht bremsen wird.
Auch die nationale Zivilgesellschaft und Oppositionsparteien, die ihnen
sonst entgegentreten würden, sind unter den derzeitigen Umständen
kaum
handlungsfähig.
Es kann deshalb kein Argument sein, dass die Gesundheits- und Wirtschaftspolitik gerade viel politische Energie bindet und niemand Lust hat, neben dem Streit um Coronabonds noch einen weiteren Großkonflikt zu eröffnen. Wenn die EU in
Ungarn und Polen nicht eine vollständige Erosion ihrer Grundwerte hinnehmen will, dann muss sie den beiden Regierungen jetzt entschieden
entgegentreten – auch und gerade in Zeiten der Pandemie.
Bild: Grzegorz Żukowski [CC BY-NC 2.0], via Flickr.
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