16 April 2020

Demokratieabbau in Zeiten der Pandemie: Mit Ungarn und Polen tut sich die EU (schon wieder) schwer

Ob mit oder ohne Europaflagge: Wahlkampfveranstaltungen wie diese Demo von 2016 sind in Polen derzeit nicht erlaubt. Gewählt werden soll trotzdem.
Dass die Corona-Pandemie für die EU eine Krise von außergewöhnlichem Ausmaß darstellt, ja sogar – in den Worten der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) – die „größte Bewährungsprobe in ihrer Geschichte“, ist inzwischen nahezu zu einem Gemeinplatz geworden. Dass es dabei an vielen Ecken knirscht, ebenso: Die wochenlangen Verzögerungen bei der gemeinsamen Beschaffung von medizinischem Material, die einseitigen Binnengrenzschließungen, die heftigen Streitigkeiten um die Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach der anstehenden Rezession warfen kein gutes Bild auf die Fähigkeit der Mitgliedstaaten zu abgestimmtem und solidarischem Handeln. Dass nach der Euro- und der Asylkrise die Bruchlinien in diesen Streitigkeiten nun schon zum dritten Mal in einem Jahrzehnt zwischen Nord und Süd verlaufen, kommt verschärfend hinzu. Besonders im einst so integrationsfreundlichen Italien haben nationalistische Europagegner deshalb gerade leichtes Spiel.

Bei der europäischen Solidarität bewegt sich etwas

Aber wird die EU, wie nun zuweilen gewarnt wird, an diesen Herausforderungen zerbrechen? Die Gefahr, dass durch die massiven Belastungen und die angestauten Ressentiments rechtsextreme Parteien in großen Mitgliedstaaten wie Italien oder Frankreich in den nächsten Jahren die Regierung übernehmen könnten, ist jedenfalls real.

Immerhin aber ist auch die Notwendigkeit solidarischen Handelns im öffentlichen Bewusstsein der nördlichen Mitgliedstaaten – speziell Deutschlands – heute sehr viel präsenter als noch in der Eurokrise. Und auch wenn die deutsche und niederländische Regierung nach außen an ihrem starren Nein zu „Coronabonds“ festhalten, so zeigen die Beschlüsse der Eurogruppe von vergangener Woche und die aktuelle Diskussion um einen billionenschweren, aus Anleihen auf den EU-Haushalt finanzierten Wiederaufbau-Fonds, dass nun vieles an europäischer Solidarität möglich wird, was vor kurzem noch kaum denkbar schien.

Zerfall demokratischer Werte

Doch die unzureichende Solidarität ist nicht die einzige Bedrohung für den Zusammenhalt der EU in der Coronakrise. Ein anderer Zerfallsprozess hat bereits eingesetzt: nämlich jener der gemeinsamen demokratischen Werte. Die Rede ist natürlich von den Regierungen Ungarns und Polens, die beide auf ihre jeweils eigene Weise die Krise zu nutzen versuchen, um ihre autoritäre Macht auszubauen.

Vor allem zwei Dinge leisten ihnen dabei Vorschub: Zum einen hat die Pandemie auch in anderen Mitgliedstaaten zu Einschränkungen von Bürgerrechten und zu Sondervollmachten für die Exekutive geführt, wodurch diese in der Öffentlichkeit einen Anstrich von Normalität erhalten. Und zum anderen setzen die beiden Regierungen offenbar darauf, dass die EU-Institutionen und die anderen Mitgliedstaaten in der jetzigen Krise davor zurückschrecken werden, einen zusätzlichen offenen Konflikt vom Zaun zu brechen. Bislang scheint dieses Kalkül weitgehend aufzugehen. Doch wenn die EU hier nicht dagegen hält, droht ihr mit dem Zerfall ihrer Wertegrundlage eine noch weitaus existenziellere Gefahr als im Streit um die Coronabonds.

Ungarn: Zeitlich unbegrenzte Ermächtigung der Regierung

Im Einzelnen zeigt das Vorgehen der beiden Regierungen einige Unterschiede, wobei jene in Ungarn, gestützt von ihrer Zweidrittelmehrheit im nationalen Parlament, ihre Machtambitionen unverblümter umsetzte. Mit rund 170 bestätigten Krankheits- und 15 Todesfällen pro Million Einwohner (Stand: 16. April) gehört Ungarn bis heute zu den – wenigstens nach offiziellen Daten – von der Pandemie vergleichsweise wenig betroffenen EU-Ländern und verzichtete bislang auch anders als die meisten anderen Mitgliedstaaten auf eine nationale Ausgangssperre.

Dennoch verhängte die Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) bereits Mitte März einen Ausnahmezustand, der am 30. März vom Parlament auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde. Zugleich übertrug das Parlament der Regierung im sogenannten „Corona-Gesetz“ für die Dauer dieses Ausnahmezustands weitreichende Gesetzgebungsvollmachten und verbot die Abhaltung von Wahlen und Referenden. Zugleich wurde durch Androhung mehrjähriger Haftstrafen auf „Falschinformationen zu einer öffentlichen Gefahr, die geeignet sind, Unruhe unter einer großen Zahl an Menschen auszulösen“, die Pressefreiheit eingeschränkt – mit der besonderen Pointe, dass die Regierung selbst das Coronavirus regelmäßig nutzt, um Halb- und Unwahrheiten über ihre Lieblingsgegner wie Migranten oder den ungarisch-amerikanischen Milliardär und Demokratie-Aktivisten George Soros zu verbreiten.

All diese Maßnahmen sollen zwar auf den Zweck der Pandemie-Bekämpfung beschränkt sein. Doch das drastisch unverhältnismäßige Ausmaß der Regierungsermächtigung und der Verzicht auf eine zeitliche Begrenzung lassen nichts Gutes erahnen. Insbesondere im Licht vergangener Erfahrungen: Auch der Ausnahmezustand, den die ungarische Regierung während der Asylkrise 2015 verhängte, wurde seitdem niemals aufgehoben.

Polen: Präsidentschaftswahl trotz Ausgangssperre

Auf den ersten Blick genau umgekehrt ist die Situation in Polen, das mit 200 bestätigten Krankheits- und 7,5 Todesfällen pro Million Einwohner (Stand: 16. April) ebenfalls zu den nur wenig betroffenen Ländern gehört. Im Gegensatz zu Ungarn ordnete die Regierung in Polen sehr schnell recht weitgehende Ausgangssperren an, verzichtete jedoch auf die Ausrufung des Ausnahmezustands, der mit solchen Maßnahmen üblicherweise einher ginge.

Das politische Kalkül dahinter ist recht offensichtlich: Am 10. Mai ist die polnische Präsidentschaftswahl geplant, die im Ausnahmezustand verschoben werden müsste. Vor Ausbruch der Pandemie lag der von der Regierungspartei PiS (EKR) unterstützte Amtsinhaber Andrzej Duda in den Umfragen vorn, doch in der Stichwahl wäre die stärkste Oppositionskandidatin Małgorzata Kidawa-Błońska (PO/EVP) durchaus nicht aussichtslos gewesen. Nun aber verhindern die Ausgangsbeschränkungen einen effektiven Wahlkampf, während Duda durch die Berichterstattung über die Anti-Corona-Maßnahmen zusätzliche mediale Sichtbarkeit gewann.

Eine verfassungswidrige Wahlrechtsreform

Doch damit nicht genug: Um die Wahlen überhaupt einigermaßen sicher abhalten zu können, beschloss die Regierungsmehrheit im Parlament Ende März ein Gesetz zur allgemeinen Briefwahl. Das war nicht nur ein Novum für Polen, wo es Briefwahl zuvor nur in wenigen Ausnahmefällen gab, sondern auch ein recht offensichtlicher Verstoß gegen ein Verfassungsgerichtsurteil von 2006, das Wahlrechtsreformen in den letzten sechs Monaten vor einer Wahl verbietet. (Durch ihre Mehrheit im polnischen Senat könnte die Opposition das Inkrafttreten dieses Gesetzes zwar noch bis zum 8. Mai verzögern, wodurch der ursprüngliche Wahltermin nicht mehr zu halten wäre. Allerdings erlaubt das Gesetz auch eine kurzfristige Verschiebung durch die Parlamentspräsidentin, sodass die Wahl dann einfach eine Woche später stattfinden könnte.)

Als Reaktion darauf stellte Kidawa-Błońska Ende März ihren Wahlkampf ein und rief zum Wahlboykott auf. Als das wahrscheinlichste Ergebnis erscheint derzeit deshalb ein Sieg von Duda in der ersten Runde, gefolgt von einer Klage der Opposition gegen die Rechtmäßigkeit der Wahl. Nach der Justizreform von 2018 würde diese Klage allerdings vor der neu eingerichteten Kammer für Außerordentliche Kontrolle und Öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts verhandelt – einer Kammer, deren Richter von dem PiS-kontrollierten Landesjustizrat nominiert wurden und die deshalb wohl (ebenso wie die Disziplinarkammer) nicht den Maßstab des Europäischen Gerichtshofs an ein unabhängiges und unparteiliches Gericht erfüllt.

Europaabgeordnete starten eine Petition

Während die ungarische Regierung also die parlamentarische Kontrolle reduziert und die Pressefreiheit einschränkt, nutzt die polnische Regierung die Pandemie, um ihrem Kandidaten einen nahezu sicheren Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu verschaffen und damit ihre nationale Machtposition für die nächsten Jahre zu festigen. Beide Vorgehensweisen verstoßen recht offensichtlich gegen demokratische Prinzipien. Wie aber reagiert die Europäische Union auf diese Herausforderung?

Noch die klarsten Worte fand eine parteienübergreifende Gruppe von Europaabgeordneten, die in einer öffentlichen Petition explizite Kritik an der polnischen und ungarischen Regierung übte und die Europäische Kommission aufrief, die Demokratie in der Corona-Krise zu verteidigen. Inzwischen wurde dieser Aufruf von über 50.000 weiteren Menschen unterzeichnet. Dass Europaabgeordnete sich überhaupt dafür entscheiden, zum Instrument einer öffentlichen Petition zu greifen, zeigt allerdings schon, wie eingeschränkt ihr institutioneller Handlungsspielraum in dieser Sache ist.

Regierungen sind „tief besorgt“, nennen aber keine Namen

Unter den nationalen Regierungen wiederum war es die luxemburgische, die am deutlichsten Position bezog: Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE) warnte vor einer „diktatorischen Regierung“ in Ungarn und forderte eine „politische Quarantäne“ in Form von Sanktionen nach Art. 7 EUV.

Die große Mehrzahl der Mitgliedstaaten konnte sich zu einer so klaren Haltung hingegen nicht aufraffen. Stattdessen veröffentlichten 13 Regierungen am 1. April eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie sich „tief besorgt über die Gefahr einer Verletzung demokratischer, rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Prinzipien“ gaben. Sechs weitere Regierungen schlossen sich später an. Allerdings nannte die Stellungnahme Ungarn und Polen nicht beim Namen und blieb auch sonst äußerst vage – so vage, dass die Regierung Orbán sie sich am 2. April in einem Akt politischer Trollerei einfach selbst zu eigen machte.

Die Kommission „überwacht“, will aber noch nicht handeln

Ähnlich zurückhaltend gab sich zunächst die Europäische Kommission, deren Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) am 31. März ebenfalls zur Einhaltung demokratischer Prinzipien aufrief, ohne ein Land explizit zu erwähnen. Nach öffentlicher Kritik daran wurden die Erklärungen aus der Kommission nach und nach deutlicher: Sowohl von der Leyen selbst als auch die für die EU-Grundwerte zuständige Vizepräsidentin Věra Jourová (ANO/ALDE) und Justizkommissar Didier Reynders (MR/ALDE) äußerten öffentliche Besorgnis über Polen und Ungarn.

Am vergangenen Sonntag stellte von der Leyen sogar die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens in den Raum. Auch in einem Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Parlaments kündigte sie an, die Kommission werde die Entwicklungen in Ungarn hinsichtlich der „Vereinbarkeit mit den Grundwerten unserer Union, wie in Art. 2 EUV festgehalten, sowie mit dem EU-Recht im Allgemeinen und der Grundrechtecharta im Besonderen“ überwachen. Konkret einleiten will sie ein Vertragsverletzungsverfahren auf dieser Grundlage jedoch anscheinend noch nicht, was die Frage aufwirft, an welcher Stelle genau die Kommission eigentlich ihre rote Linie zieht.

Die EVP diskutiert über einen Ausschluss, aber vertagt sich erneut

Mit derselben Frage beschäftigt sich unterdessen auch die Europäische Volkspartei, der die ungarische Regierungspartei Fidesz bis heute angehört. Zwar sind ihre Mitgliedschaftsrechte seit März 2019 suspendiert, seit Februar 2020 „bis auf Weiteres“. Zu einem Ausschluss konnte sich die EVP bislang jedoch nicht aufraffen.

Infolge der jüngsten Entwicklungen entstand nun noch einmal eine nennenswerte Dynamik, das zu ändern: Anfang April forderte EVP-Präsident Donald Tusk (PO/EVP) in einem Schreiben an die nationalen EVP-Parteichefs, die Position zur Fidesz „noch einmal zu überdenken“. 13 der 68 EVP-Mitgliedsparteien antworteten darauf mit der Forderung nach einem Ausschluss der Partei sowie der Suspendierung ihrer Mitgliedschaft in der EVP-Fraktion. Beteiligt waren an diesem Vorstoß allerdings hauptsächlich EVP-Mitgliedsparteien aus Nordeuropa und dem Benelux, die sich schon zuvor stets kritisch gegenüber der Fidesz geäußert hatten. Andere wichtige Mitglieder wie die deutsche CDU, der spanische PP oder die österreichische ÖVP hielten sich weiterhin bedeckt.

Und dabei dürfte es erst einmal bleiben: Viktor Orbán selbst antwortete auf Tusks Initiative mit einem Brief an den EVP-Generalsekretär, in dem er recht rüde erklärte, er habe „für so etwas keine Zeit“, da er sich um die Pandemie im eigenen Land kümmern müsse. Zudem finden aufgrund der Reisebeschränkungen derzeit ohnehin keine Treffen der EVP-Parteigremien statt. Letztlich verschob die EVP-Spitze die Entscheidung über einen möglichen Ausschluss der Fidesz deshalb erst einmal wieder auf unbestimmte Zeit.

Die EU muss gerade jetzt entschlossen handeln

Und nun? Die Corona-Gesetze in Ungarn und Polen sind keine überraschenden Einzelphänomene. Die Aushöhlung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte durch die Fidesz- und die PiS-Regierung schreitet nun schon seit Jahren voran, und die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die lange praktizierte Strategie der vorsichtigen Einbindung sie nicht bremsen wird. Auch die nationale Zivilgesellschaft und Oppositionsparteien, die ihnen sonst entgegentreten würden, sind unter den derzeitigen Umständen kaum handlungsfähig.

Es kann deshalb kein Argument sein, dass die Gesundheits- und Wirtschaftspolitik gerade viel politische Energie bindet und niemand Lust hat, neben dem Streit um Coronabonds noch einen weiteren Großkonflikt zu eröffnen. Wenn die EU in Ungarn und Polen nicht eine vollständige Erosion ihrer Grundwerte hinnehmen will, dann muss sie den beiden Regierungen jetzt entschieden entgegentreten – auch und gerade in Zeiten der Pandemie.

Bild: Grzegorz Żukowski [CC BY-NC 2.0], via Flickr.

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