29 Mai 2019

Nach der Europawahl 2019


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EDD ENF fʼlos Weitere
alt 52 52 187 69 216 77 42 36 20
neu,
mit UK
42 69 144 113 177 61 45* 71 11 18*
dynamisch 44 73 147 117 165 76 88 41
neu,
ohne UK
41 62 139 101 180 59 16* 75 10 22*
dynamisch 44 67 142 105 168 74 93 12
Die Zahlen entsprechen dem Stand der Fraktionszuordnungen am 29. Mai 2019, unmittelbar nach der Europawahl. Für die Fraktionsstärken bei Konstituierung des Parlaments am 2. Juli 2019 siehe hier.

Wahlergebnis (mit UK, dynamisches Szenario), Stand: 29.5.2019. Details hier.
Kaum ist die Europawahl vorbei, schon geht die europapolitische Debatte zu den nächsten Aufregern über: Wer wird Kommissionspräsidentin, wer sichert sich einen der anderen EU-Top-Jobs? Die gestrigen Treffen der Fraktionschefs des Europäischen Parlaments sowie der Staats- und Regierungschefs boten hierzu wenig neue Informationen, aber ausgiebig Raum für Diskussion und Spekulation. An dieser Stelle aber soll es noch einmal um eine Bilanz der Wahl selbst gehen: Wie haben sich die Kräfte- und Mehrheitsverhältnisse im Parlament geändert, welche langfristigen Entwicklungen setzten sich fort, und wo zeichnen sich Trendwenden ab?

Dabei sind alle Angaben zu den Fraktionsstärken in diesem Artikel noch vorläufig: Da viele nationale Parteien noch nicht eindeutig erklärt haben, welcher Fraktion sie sich anschließen wollen, lassen sich Aussagen über die künftige Zusammensetzung des Parlaments bis jetzt nur unter Vorbehalt treffen. (Ein laufend aktualisierter Gesamtüberblick über die neuen Fraktionen ist hier zu finden.) Die wesentlichen Konturen des Wahlergebnisses aber zeichnen sich jetzt schon deutlich ab.

Niedergang der Volksparteien

Das erste, offensichtlichste und schon am Wahlabend stark kommentierte Ergebnis sind dabei die massiven Stimmverluste der traditionellen Volksparteien der rechten und linken Mitte, die im Europäischen Parlament die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten (S&D) bilden. Die S&D erreichte ihr mit Abstand schlechtestes Wahlergebnis überhaupt; und auch die EVP befindet sich nahe an ihrem Tiefstpunkt von 1989 und könnte noch darunter fallen, falls sich die ungarische Fidesz dazu entschließt, die Fraktion zu verlassen. Gemeinsam kommen die beiden Fraktionen der informellen Großen Koalition, deren Zusammenarbeit seit jeher den Ton im Europäischen Parlament angab, erstmals nicht mehr auf eine absolute Mehrheit der Sitze.

Historische Wahlergebnisse.
Allerdings ist diese Entwicklung durchaus nicht überraschend. Schon bei den vorangehenden drei Europawahlen war der kombinierte Sitzanteil der beiden größten Fraktionen bei jeder Europawahl kontinuierlich zurückgegangen. Und auch während der Wahlperiode 2014-19 hatten Umfragen von Anfang an einen nahezu kontinuierlichen Abstieg für EVP und S&D gezeigt: In den Sitzprojektionen auf diesem Blog hatte die Große Koalition schon seit Dezember 2017 keine Mehrheit mehr. Auch wenn sich der Niedergang der traditionellen Volksparteien beschleunigt hat, war diese Europawahl also nicht etwa ein „Erdbeben“, wie diverse Medien schrieben, sondern nur die Fortsetzung eines längerfristigen Trends.

Eher „Finnlandisierung“ als „Niederlandisierung“

Ein Schlagwort, mit dem dieser Trend verschiedentlich zu beschreiben versucht wird, ist die „Niederlandisierung“ des europäischen Parteiensystems. Gemeint ist damit die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft, wie man sie in den Niederlanden besonders deutlich beobachten kann. Begünstigt durch ein reines Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel sind dort seit der letzten nationalen Wahl 13 Parteien im Parlament vertreten, von denen nur eine einzige auf mehr als 15 Prozent der Stimmen kam.

So ganz lässt sich der Vergleich allerdings nicht auf das Europäische Parlament übertragen. Denn anders als in den Niederlanden führte der Niedergang der großen Volksparteien auf europäischer Ebene bislang nicht zu einer Zersplitterung mit einer Vielzahl kleiner und kleinster Gruppierungen. Auch wenn in verschiedenen Mitgliedstaaten neue Parteien ins Europäische Parlament einziehen, gelingt es den bestehenden Fraktionen vielmehr recht gut, diese zu integrieren. Tatsächlich könnte sich die Zahl der Fraktionen im nächsten Parlament sogar von acht auf sieben verringern.

Das Besondere an der Entwicklung auf europäischer Ebene ist deshalb nicht so sehr die Fragmentierung, sondern der schrumpfende Abstand zwischen den großen und den mittelgroßen und kleineren Fraktionen. Sucht man für dieses Muster ein Vergleichsbeispiel aus einem der EU-Mitgliedstaaten, so wird man am ehesten wohl in Finnland fündig, wo es drei bis vier große Parteien gibt, die jeweils um die 20 Prozent der Stimmen erreichen. Auch in anderen Mitgliedstaaten, etwa Spanien, Luxemburg und Deutschland, zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, ohne dass daraus gleich eine so starke Zersplitterung des Parlaments wie in den Niederlanden folgen würde.

Neue Polarisierung: Inklusion vs. Exklusion

Die mittelgroßen Fraktionen, die bei dieser Europawahl dazugewinnen konnten, entstammen aus sehr unterschiedlichen Ecken des politischen Spektrums: Mit dem größten Sitzzuwachs im neuen Parlament können die liberale ALDE und die rechte ENF rechnen (die beide künftig unter einem anderen Namen firmieren werden), gefolgt von den europäischen Grünen. Alle drei Fraktionen könnten so stark werden wie noch niemals zuvor.

Auch dieses Ergebnis lässt sich als Folge eines längerfristigen Trends verstehen, nämlich einer zunehmenden Polarisierung entlang des Gegensatzes zwischen inkludierender und exkludierender Politik. Während sich die traditionellen Volksparteien vor allem über einen ökonomischen Rechts-Links-Gegensatz (wirtschaftliche Freiheit oder soziale Umverteilung) definierten, gewinnen in der politischen Debatte schon seit einigen Jahrzehnten zunehmend andere Konfliktachsen an Bedeutung. Im Wesentlichen geht es dabei in der Regel um die Trennlinie zwischen der („inkludierenden“) Gleichstellung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen einerseits und der („exkludierenden“) Bewahrung etablierter gesellschaftlicher Ordnungsmuster, Hierarchien und sozialer Privilegien andererseits. Dieser Gegensatz zeigt sich besonders deutlich etwa in der Migrations- und der Geschlechterpolitik sowie der Debatte über den Islam, aber auch in der Frage, welche Verhaltensänderungen bestimmten sozialen Gruppen zur Bekämpfung des Klimawandels zuzumuten sind.

Diese Debatten werden meist nicht mehr von den traditionellen Volksparteien der linken und rechten Mitte dominiert, deren Anhängerschaft in diesen Fragen oft intern gespalten ist. Wer die Pole in den neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen besetzt, sind vielmehr rechte und rechtspopulistische Parteien einerseits und urban-kosmopolitische (Links-)Liberale andererseits. Und genau diese Gruppierungen gewannen auch bei dieser Europawahl am stärksten hinzu.

Erfolge kosmopolitischer Liberaler und Grüner

Am kosmopolitischen Pol sind dabei sowohl die liberale ALDE-Fraktion als auch die europäischen Grünen angesiedelt. Letztere waren nach der Europawahl 2014 zunächst zurückgefallen, legten in den Umfragen aber seit Mitte 2017 kontinuierlich zu und konnten am Wahlabend – wohl auch begünstigt durch die mediale Sichtbarkeit der „Fridays-for-Future“-Klimademonstrationen, die in den Tagen und Wochen vor der Wahl in zahlreichen Mitgliedstaaten stattfanden – noch einmal deutlich die Erwartungen übertreffen. Allerdings ist diese „grüne Welle“ stark auf den Nordwesten der EU begrenzt: Während die Grünen in Deutschland, Frankreich, Irland, Österreich und Finnland gut abschnitten, konnten sie unter den seit 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten nur in Lettland und Litauen Sitze gewinnen.

Die liberale ALDE wiederum hatte die größten Zugewinne dank der jungen französischen Regierungspartei LREM, die bei der Wahl erstmals ins Parlament einzog und mit 21 Sitzen gleich die mit Abstand stärkste Kraft in der Fraktion wird. Stark zulegen konnten auch die britischen LibDems, die den größten Teil der Anti-Brexit-Stimmen auf sich zogen. Aber auch in den östlichen Mitgliedstaaten konnten zentristisch-liberale Parteien, die oft erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, Erfolge feiern – etwa in Rumänien, Ungarn oder der Slowakei, wo die neuen ALDE-Mitglieder sich jeweils als Gegenpol zu autoritären oder als korrupt angesehenen nationalen Regierungen profilieren konnten.

Konsolidierung der Rechten

Auf der rechten Seite fallen die Zugewinne weniger spektakulär aus, als das die mediale Aufregung in den Wochen vor der Wahl zum Teil erwarten ließ. Nur wenige Parteien – vor allem die italienische Lega – konnten sich gegenüber der Europawahl 2014 deutlich verbessern; insgesamt dürfte das rechte Lager von rund 160 auf gut 180 Sitze zulegen (rechte Fraktionslose sowie das italienische M5S jeweils eingeschlossen). Dieses Ergebnis ist damit vor allem Ausdruck einer Konsolidierung in den letzten Jahren: Bei der Europawahl 2014 hatten rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern deutliche Zugewinne erfahren, die sie nun im Wesentlichen halten konnten. Wie in vielen EU-Mitgliedstaaten wird auch im Europäischen Parlament der starke Rechtsblock zur neuen Normalität.

Diese Konsolidierung des rechten Lagers zeigt sich auch in der Aufteilung der Fraktionen, auch wenn hier noch einiges im Fluss ist. Die von der Lega dominierte, stark wachsende ENF dürfte zur neuen Referenzfraktion werden, der die meisten nationalen Rechtsparteien beitreten. Anders als früher handelt es sich dabei auch nicht mehr um ein reines Oppositionsbündnis: Inzwischen sind rechte Parteien in mehreren EU-Staaten an der Regierung beteiligt und setzen angesichts ihres wachsenden Einflusses im Ministerrat zunehmend darauf, europäische Politik aktiv mitzugestalten – wenigstens in Fragen wie dem Außengrenzschutz, in dem sie länderübergreifend eine geschlossene Position vertreten.

Neuzuschnitt der Rechtsfraktionen

Die EFDD-Fraktion hingegen, die bisher unter Führung der britischen UKIP und des italienischen M5S eine heterogene Sammlung meist nationalpopulistischer Parteien versammelte, wird im neuen Parlament wohl nicht mehr existieren. Auch die vom M5S angestrebte Neugründung der Fraktion mit veränderter Mitgliederschaft dürfte scheitern: Von den vier möglichen Partnerparteien, die M5S-Chef Luigi di Maio im Februar präsentierte, schaffte nur eine einzige (die kroatische ŽZ) den Sprung ins Parlament.

Größere Veränderungen stehen auch der nationalkonservativen EKR-Fraktion bevor, in der die bisher dominierende Kraft, die britischen Tories, stark geschwächt aus der Wahl hervorgingen und nach dem Brexit ganz wegfallen werden. Unter der neuen Führung der polnischen Regierungspartei PiS wird die EKR zwar als eigene Fraktion bestehen bleiben, muss sich aber neu definieren. Sie könnte künftig zum Auffangbecken für europaskeptische Parteien werden, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht an der ENF beteiligen wollen: Sei es, dass sie (wie die PiS) die pro-russische Linie der ENF ablehnen, sei es, dass sie (wie die italienischen FdI) auf nationaler Ebene mit einem ENF-Mitglied konkurrieren. Insgesamt dürfte die EKR dabei jedenfalls heterogener werden und zugleich weiter nach rechts rücken.

Mehrheitsoptionen: Die Große Koalition muss sich erweitern

Mehrheitsoptionen (mit UK, dynamisches Szenario), Stand: 29.5.2019. Details hier.
Der Niedergang der großen und der Aufstieg der mittelgroßen Fraktionen wirft auch die Frage auf, welche Mehrheitsoptionen im Europäischen Parlament noch möglich sind. Die Große Koalition aus EVP und S&D wird künftig bekanntlich auf die Unterstützung weiterer Fraktionen angewiesen sein. Die plausibelsten Partner sind dabei die liberale ALDE, mit der es ohne Weiteres für eine Mehrheit reicht, sowie die Grünen, mit denen zusammen EVP und S&D ebenfalls auf knapp mehr als die Hälfte der Sitze kommen.

Diese notwendige Erweiterung der Großen Koalition wird das Kräftegleichgewicht im Parlament beeinflussen, eine dramatische Veränderung dürfte sie jedoch nicht bringen. Tatsächlich waren Liberale und Grüne schon bisher bei den meisten Abstimmungen auf einer gemeinsamen Linie wie EVP und S&D: Die Suche nach großen, fraktionenübergreifenden Mehrheiten ist im Europäischen Parlament eine gängige Praxis, um in der institutionellen Auseinandersetzung mit dem Rat erfolgreich zu sein. Die neuen Mehrheitsverhältnisse werden also nur die bisherige Entwicklung verstärken, nach der die Parteien der Mitte – oft zu ihrem eigenen Verdruss – eng zusammenarbeiten müssen.

Mehrheitsoptionen: Mitte-Links kann an Bedeutung gewinnen

Neben der Großen Koalition spielten im Parlament bislang vor allem zwei Mehrheitsoptionen eine Rolle: ein Mitte-Links-Bündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken, das vor allem in Umwelt- und Bürgerrechtsfragen zusammenfand, sowie ein Mitte-Rechts-Bündnis als EVP, Liberalen und EKR, das in Wirtschafts- und Handelsfragen oft gemeinsame Linien vertrat. Beide Bündnisse hatten im Parlament jedoch knapp keine eigene Mehrheit, sodass sie jeweils auf Abweichler oder Enthaltungen aus anderen Fraktionen angewiesen waren.

In den nächsten Jahren könnte von diesen beiden Optionen vor allem das Mitte-Links-Bündnis an Bedeutung gewinnen. Dank der Sitzgewinne von ALDE und Grünen könnte es künftig knapp auf eine eigene Mehrheit im Parlament kommen; und auch in der Europäischen Kommission werden die Parteien links der EVP anders als früher eine Mehrheit der Mitglieder stellen. Allerdings sollte man dabei auch keine zu hohen Erwartungen haben: Das Bündnis bleibt eine politisch heterogene Gruppe („von Jean-Luc Mélenchon bis Christian Lindner“), aus der sich keine stabile themenübergreifende Allianz wird schmieden lassen. Und nicht zuletzt haben Regierungen mit EVP-Beteiligung auch nach wie vor eine Sperrminorität im Ministerrat. Es ist deshalb zu erwarten, dass sich zwar die Zusammenarbeit innerhalb des Mitte-Links-Bündnisses intensiviert, dieses aber auch in Zukunft nicht die dominante Mehrheitsoption im Parlament wird.

Mehrheitsoptionen: Mitte-Rechts wird politisch schwieriger

Demgegenüber kann das Mitte-Rechts-Bündnis zwar ungefähr seine Sitzzahl halten und wird auch künftig wohl nur knapp unter einer absoluten Mehrheit bleiben. Politisch wird diese Mehrheitsoption künftig jedoch schwieriger werden: Die nach rechts rückende und heterogenere EKR dürfte als Bündnispartner künftig unzuverlässiger werden – während sich umgekehrt die ALDE-Mitgliedsparteien in zahlreichen Ländern gerade über ihre Abgrenzung nach rechts definieren.

Von den auf nationaler Ebene regierenden Rechtsparteien (wie der Lega oder noch vor kurzem der österreichischen FPÖ) sowie von Vertretern des rechten Flügels der EVP (wie dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán) wurde vor der Wahl noch eine weitere mögliche Mehrheitsoption ins Spiel gebracht: nämlich ein reines Rechtsbündnis zwischen EVP, EKR und ENF. Tatsächlich kam es bereits in der Vergangenheit punktuell zu Abstimmungen, bei denen die EVP mithilfe der Rechtsparteien eine Mehrheit gegen S&D und ALDE schmiedete (etwa 2018 in der Frage der gesamteuropäischen Wahllisten). Allerdings hat das Bündnis aus EVP, EKR und ENF für sich allein weder im Europäischen Parlament noch in der Kommission oder dem Rat eine Mehrheit. Zudem lehnt der gemäßigt-liberale Flügel der EVP eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der ENF ab.

Spitzenkandidaten: Unterwegs zur parlamentarischen Normalität

Für die Besetzung der EU-Spitzenämter bringen diese Wahlergebnisse vor allem die Aussicht auf komplizierte Verhandlungen. Mit EVP, S&D und Grünen gibt es im Europäischen Parlament zwar eine Mehrheit für das Spitzenkandidaten-Verfahren; erst gestern unterstrichen die Chefs dieser Fraktionen noch einmal, dass sie niemanden zum Kommissionspräsidenten wählen werden, der nicht zuvor als Kandidat für dieses Amt Wahlkampf geführt hat. Von dieser Linie abzuweichen, dürfte für das Parlament nicht ohne eine bleibende institutionelle Schwächung möglich sein.

Auf der anderen Seite zeichnet sich aber auch noch keine Mehrheit für einen spezifischen Kandidaten ab. Die möglichen Wege, die die vier hauptsächlichen Bewerber – Manfred Weber (CSU/EVP), Frans Timmermans (PvdA/SPE), Margrethe Vestager (RV/ALDE) sowie den Nicht-Spitzenkandidaten Michel Barnier (LR/EVP) – ins Amt führen könnten, wurden auf diesem Blog an anderer Stelle bereits genauer beschrieben. In den nächsten Wochen wird es nun intensive Gespräche sowohl zwischen den europäischen Parteien und Fraktionen als auch zwischen den nationalen Regierungschefs im Europäischen Rat geben, in denen Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) für sich gestern bereits die Rolle als Vermittler in Anspruch genommen hat.

Damit erfährt auch das Spitzenkandidaten-Verfahren selbst eine Veränderung: Während es bei der Wahl 2014 noch oft so ausgelegt wurde, dass der Kandidat der stärksten Fraktion ein quasi automatisches Zugriffsrecht auf die Kommissionspräsidentschaft hätte, nehmen die Nach-Wahl-Verhandlungen zwischen den europäischen Parteien nun einen größeren Raum ein. Das lässt sich als eine Entwicklung in Richtung parlamentarischer Normalität verstehen – wobei der neue Kommissionspräsident anders als die meisten nationalen Regierungschefs nicht nur in einer, sondern in zwei Kammern (Parlament und Europäischem Rat) eine Mehrheit benötigt.

Und schließlich: Die Wahlbeteiligung

Was bei vielen Freunden der europäischen Integration am Wahlabend aber die größte Freude auslöste, waren die Daten zur europaweiten Wahlbeteiligung: Von der ersten Europawahl 1979 bis zur letzten Wahl 2014 war diese kontinuierlich zurückgegangen, von 62,0 auf 42,6 Prozent. Nun kam es erstmals zu einem Anstieg auf 51,0 Prozent – wenn auch weiterhin mit großen nationalen Unterschieden, deren Extreme wie schon vor fünf Jahren Belgien (88,5%) und die Slowakei (22,7%) markierten. Besonders stark stieg die Wahlbeteiligung in Polen (45,7% statt 23,8%), Spanien (64,3% statt 43,8%) und Rumänien (51,1% statt 32,4%) an; deutlich niedriger als 2014 lag sie nur in Bulgarien (30,8% statt 35,8%).

Der wichtigste Erklärungsfaktor für diesen Anstieg der Wahlbeteiligung dürfte die wachsende Sichtbarkeit europäischer und überstaatlicher Themen sein, die in den letzten Jahren die öffentliche Debatte in vielen Mitgliedstaaten beherrschten – von der Eurokrise über die Migration bis zum Klimawandel – und vielen Menschen vor Augen führten, dass Politik nicht mehr nur im nationalen Parlament gemacht wird. Hinzu kommt eine europaweit wachsende Zustimmung zur europäischen Integration, die insbesondere seit dem Brexit-Referendum 2016 auch von Sorge um den Verlust bisheriger Errungenschaften begleitet ist. Speziell in Deutschland, wo die Wahlbeteiligung ebenfalls überdurchschnittlich stark (nämlich von 48,1% auf 61,4%) anstieg, kamen noch massive Mobilisierungskampagnen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft hinzu.

Angesichts all dessen erscheint eine Beteiligung von nur wenig mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten dann allerdings auch nicht allzu überragend. Tatsächlich hat sich an den strukturellen Gründen für das vergleichsweise große Desinteresse der Bevölkerung nichts geändert. Immerhin: Dass die Beteiligung diesmal nicht noch weiter sank, verschafft dem Parlament erst einmal eine etwas bessere demokratische Legitimation. Es ist zu hoffen, dass es damit auch die nötigen institutionellen Reformen durchsetzen kann, damit künftige Europawahlen zu echten Richtungsentscheidungen werden.

Bilder: Eigene Grafiken.

23 Mai 2019

Am Sonntagabend wissen wir mehr: Offene Fragen zur Europawahl 2019

Die Europawahl 2019 hat begonnen.
Das Warten hat ein Ende: Am heutigen Donnerstag beginnt die Europawahl – zunächst in Großbritannien und den Niederlanden, bis zum Sonntag dann auch in allen anderen EU-Mitgliedstaaten. In den letzten Wochen sind in diesem Blog bereits einige Artikel erschienen, was bei der Wahl zu erwarten ist: Hier gibt es die letzte Sitzprojektion, eine Roadmap mit den wichtigsten Ereignissen der kommenden Wochen sowie verschiedene Szenarien, wie sich das Rennen um die Kommissionspräsidentschaft nach der Wahl entfalten könnte.

Doch sollte man sich von solchen Prognosen nicht zu dem Eindruck verleiten lassen, dass der Ausgang dieser Europawahl eigentlich schon feststünde. In Wirklichkeit sind noch viele Fragen offen, auf die es teils am Wahlabend, teils auch erst in den Tagen und Wochen danach Antworten geben wird. Hier soll es deshalb darum gehen, wo die wichtigsten Ungewissheiten dieses Wahlgangs liegen und worauf es sich in den nächsten Tagen zu achten lohnt.

Liegen die Umfragen richtig?

Die erste, offensichtliche Unsicherheit ist natürlich die Fehleranfälligkeit von Wahlumfragen. Für das Gesamtergebnis ist diese umso relevanter, je größer der betreffende Mitgliedstaat ist: In kleinen Ländern, in denen insgesamt nur wenige Sitze vergeben werden, müssen Abweichungen größer sein, um sich auf die Sitzverteilung auszuwirken. Überraschungen am Wahlabend könnte es deshalb vor allem in einigen größeren Mitgliedstaaten geben, in denen die Umfragen zuletzt sehr volatil oder unzuverlässig waren:

  • Besonders groß ist die Unsicherheit dabei im Vereinigten Königreich, wo sich die Umfragewerte der Parteien während des Wahlkampfs schnell entwickelten und stark schwankten. Wie hoch der erwartete Sieg der neu gegründeten Brexit Party wirklich ausfällt, wie tief die regierenden Conservatives (AKRE), aber auch die Labour Party (SPE) abstürzen und welche der proeuropäischen Parteien (LibDem/ALDE, Greens/EGP, SNP/EFA sowie die neu gegründete ChUK) wie stark dazugewinnen, wird sich erst am Wahlabend zeigen.
  • Ebenfalls unklar ist der Ausgang in Polen, wo sich die Werte der Parteien je nach Umfrageinstitut stark unterscheiden. In der letzten Woche sagte eine Umfrage der regierenden PiS (EKR) einen Vorsprung von 15 Prozentpunkten voraus, während eine andere das Oppositionsbündnis KE (PO/EVP, SLD/SPE, PSL/EVP u.a.) um 10 Prozentpunkte vorn sah
  • In Italien schwanken die Werte weniger stark, doch bei den letzten Wahlen (den nationalen Wahlen 2013 und 2018 und der Europawahl 2014) wichen die Ergebnisse regelmäßig weit von den Prognosen ab. Ob die Umfrageinstitute diesmal besser treffen, wird erst der Wahlabend zeigen.
  • In Deutschland schließlich können aufgrund der fehlenden Sperrklausel Kleinstparteien schon mit wenig mehr als einem halben Prozent der Stimmen einen Sitz gewinnen; die meisten Umfrageinstitute weisen Werte in dieser Größenordnung jedoch nicht einzeln aus. Welche und wie viele Kleinstparteien ins Parlament einziehen könnten, ist deshalb ungewiss.

Welche Parteien überwinden die Sperrklausel?

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor sind nationale Sperrklauseln: Die Europawahl findet bis heute nach Mitgliedstaaten getrennt statt; jedes Land hat sein eigenes Sitzkontingent und gegebenenfalls auch seine eigene Sperrklausel, die mal bei 3, mal bei 4 oder 5 Prozent liegt. Ob eine Partei knapp über oder knapp unter der Hürde liegt, kann deshalb mit einem Schlag über mehrere Sitze entscheiden – vor allem in großen Mitgliedstaaten wie Frankreich, Polen und Italien. Das wiederum hat Einfluss auf die Stärke der betreffenden Fraktionen im Europäischen Parlament.

Davon betroffen ist etwa der französische PS (SPE): In den Umfragen liegt er mal über, mal unter der Fünfprozenthürde, was für die europäischen Sozialdemokraten einen Unterschied von vier bis fünf Sitzen im Parlament ausmachen wird. In der nationalkonservativen EKR-Fraktion wird es für die Mitgliedsparteien aus Frankreich (DLF) und Italien (FdI) knapp; Erstere liegt in den meisten Umfragen knapp unter, Letztere knapp über der Hürde. Für die liberale ALDE haben die Mitgliedsparteien aus Italien (+E) und Ungarn (MM) nur Außenseiterchancen. Und in Polen gibt es mit Kʼ15 und Konfederacja gleich zwei rechtspopulistische Listen, deren Einzug ins Parlament ungewiss ist.

Wie sind die Fraktionen zugeschnitten?

Die Wahlumfragen sind jedoch nicht der einzige Unsicherheitsfaktor für die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Womöglich noch wichtiger werden die Entscheidungen einer Reihe von Parteien, die bis jetzt noch nicht öffentlich erklärt haben, welcher Fraktion sie sich nach der Wahl anschließen wollen. Diese Entscheidungen werden voraussichtlich auch am Wahlabend noch nicht fallen, ziemlich sicher aber in den Tagen und Wochen danach: Bis das Parlament sich am 2. Juli zu seiner konstituierenden Sitzung trifft, dürften alle Parteien ihre Fraktion gefunden haben.

Für den Zuschnitt der Fraktionen insgesamt sind dabei natürlich vor allem jene Parteien wichtig, die auf nationaler Ebene besonders viele Sitze gewinnen können. Unter diesen gibt es derzeit zwei, deren Zukunft besonders unklar ist: die ungarische Fidesz und das italienische M5S.

Verlässt die Fidesz die EVP?

Die Fidesz, die der Sitzprojektion zufolge mit 13 Sitzen rechnen kann, gehört bislang der christdemokratisch-konservativen EVP-Fraktion an. Diese nahm die Partei um Regierungschef Viktor Orbán über viele Jahre hinweg auch gegen den Vorwurf in Schutz, auf nationaler Ebene Demokratie und Rechtsstaat zu zerstören. In den letzten Monaten änderte sich dies jedoch: Die EVP ging zunehmend auf Distanz und beschloss im März 2019 die Suspendierung der Fidesz; umgekehrt sendet auch Orbán deutliche Signale für einen EVP-Austritt.

Sollte es dazu kommen, wären die Rechtsfraktionen EKR und ENF wohl beide sehr gern bereit, die Fidesz aufzunehmen, wobei Viktor Orbán zuletzt vor allem die Nähe zur ENF inszenierte. Allerdings achtete er dabei genau darauf, das Tischtuch mit der EVP nicht endgültig zu zerschneiden. Nach der Wahl könnte die Fidesz deshalb letztlich doch auch in der EVP verbleiben, falls sich beide Seiten davon einen Vorteil versprechen – was insbesondere dann der Fall sein könnte, wenn die EVP auf die Sitze der Fidesz angewiesen ist, um weiterhin stärkste Fraktion zu bleiben.

Schafft das M5S eine eigene Fraktion …

Das italienische Movimento Cinque Stelle (M5S), das 18 Abgeordnete erreichen könnte, gehörte bisher der heterogenen, nationalpopulistischen EFDD-Fraktion an. Diese jedoch wird es künftig nicht mehr in ihrer heutigen Form geben: Mehrere der aktuellen Mitglieder werden bei der Wahl nicht mehr ins Parlament einziehen; andere haben bereits den Wechsel in andere Fraktionen angekündigt. Das M5S strebt deshalb die Gründung einer neuen Fraktion an, wofür nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus sieben verschiedenen Mitgliedstaaten nötig sind. Von den Verbündeten, die das M5S bislang präsentiert hat, haben jedoch nur zwei (die polnische Kʼ15 und die kroatische ŽZ) Aussicht auf Sitze im Parlament.

Damit die neue Fraktion doch noch zustande kommt, müsste das M5S deshalb nach der Wahl weitere Partner dazugewinnen. In Frage kämen dafür etwa die britische Brexit Party (als De-facto-Nachfolgepartei der UKIP, die bislang der EFDD angehörte), die litauische TT (bisher ebenfalls EFDD), die lettische KPV (die, sofern sie einen Sitz gewinnt, erstmals ins Parlament einziehen würde), die rumänische ALDE (die bisher der liberalen ALDE-Fraktion angehörte, dort jedoch im April ausgeschlossen wurde) und die ungarische Jobbik (bisher fraktionslos). Hinzu könnten noch Überläufer anderer Parteien kommen – so wie 2014 die Französin Joëlle Bergeron, die auf der Liste des Front National (ENF) gewählt worden war, diesen aber schon kurz nach der Europawahl verließ und die Gründung der EFDD-Fraktion ermöglichte.

… oder schließt es sich einer bestehenden an?

Doch auch wenn die Bildung einer neuen Fraktion nicht ganz unmöglich ist, bleibt sie unwahrscheinlich und prekär. Sollte das M5S damit scheitern, könnte es sich einer der bestehenden anderen Fraktionen anschließen – wobei allerdings recht unklar ist, welcher. Ausgeschlossen dürfte ein Beitritt zu EVP, S&D und ENF sein, in denen bereits jeweils andere große italienische Parteien vertreten sind. Ein Beitritt zur liberalen ALDE-Fraktion scheiterte schon Anfang 2017. Eine gewisse programmatische Übereinstimmung gibt es zur Linksfraktion GUE/NGL, in der das M5S jedoch (ebenso wie in der grünen G/EFA-Fraktion) durch seine schiere Größe das interne Kräftegleichgewicht durcheinanderbringen würde. Es ist zweifelhaft, dass die Fraktion sich darauf einlassen würde.

Damit bliebe noch die nationalkonservative EKR-Fraktion um die polnische Regierungspartei PiS: Auch wenn das M5S mit dieser inhaltlich eher nicht auf einer gemeinsamen Linie liegt, könnte ein Beitritt im beiderseitigen Interesse sein, um jeweils an Sichtbarkeit und Einfluss zu gewinnen. Ob es dazu kommt oder ob das M5S doch fraktionslos bleibt, wird sich jedoch erst in den Wochen nach der Wahl zeigen.

Wer wechselt noch?

Neben Fidesz und M5S gibt es noch eine Reihe weiterer mittelgroßer Parteien, deren künftige Fraktionszugehörigkeit ebenfalls unklar ist.

  • Die größte von ihnen ist die britische Brexit Party um Nigel Farage (19 Sitze in der Projektion), die faktisch die Nachfolge der UKIP antritt. Wie bisher wird Farage das Europäische Parlament vor allem als Bühne nutzen wollen, wofür die Mitgliedschaft in einer Fraktion und das damit verbundene längere Rederecht im Plenum hilfreich sind. An einer konstruktiven Beteiligung an der Parlamentsarbeit dürfte er hingegen kaum interessiert sein. Entsprechend könnte eine Fortsetzung des heterogenen EFDD-Bündnisses mit dem M5S für die Brexit Party interessant sein – weniger hingegen der Beitritt zur Rechtsaußenfraktion ENF, deren Mitglieder großteils nicht mehr auf den EU-Austritt, sondern auf eine aktive Umgestaltung der EU von innen heraus abzielen.
  • Die spanische Rechtsaußenpartei Vox (6 Sitze in der Projektion) hat bislang noch keine klare Aussage getroffen, ob sie sich der EKR- oder der ENF-Fraktion anschließen will. Vox spielt damit eine wichtige Rolle für das Kräfteverhältnis zwischen den Rechtsfraktionen – zusammen mit Fidesz, den polnischen Kʼ15 und Konfederacja sowie einigen rechten Kleinparteien, die sich ebenfalls noch nicht erklärt haben.
  • Die rumänische ALDE (4 Sitze) wurde im April aus der ALDE-Fraktion ausgeschlossen und ist im Parlament seitdem heimatlos.
  • Die tschechische Regierungspartei ANO (6 Sitze) gehört bislang der ALDE-Fraktion an, ist dort jedoch wegen Korruptions- und Autoritarismus-Vorwürfen umstritten. Die erwartete Neugründung und Umbenennung der ALDE nach dem Beitritt der französischen Regierungspartei LREM könnte deshalb ein Anlass sein, um die ANO auszuschließen. Bei einem Treffen von ALDE- und LREM-Vertretern Mitte Mai war die ANO jedenfalls auffällig abwesend.
  • Die polnische Wiosna (4 Sitze) wurde erst vor wenigen Monaten neu gegründet und wird erstmals ins Parlament einziehen. Die Partei hat bereits ihre Nähe zur sozialdemokratischen S&D-Fraktion bekundet, schließt aber auch andere Optionen wie die ALDE und die G/EFA noch nicht aus.
  • Die tschechischen Piráti (4 Sitze) werden erstmals ins Parlament einziehen. Bislang gehörten Abgeordnete der europäischen Piratenpartei stets der G/EFA-Fraktion an; ob das auch in Zukunft so bleibt oder ob sie zur ALDE wechseln, wollen sie jedoch erst nach der Wahl entscheiden.
  • Die griechische Regierungspartei Syriza (6 Sitze) gehört zur Linksfraktion GUE/NGL, betonte zuletzt jedoch wiederholt die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit den übrigen Mitte-links-Fraktionen. Manche Beobachter spekulieren deshalb, dass Syriza zur sozialdemokratischen S&D-Fraktion wechseln könnte – insbesondere falls innerhalb der GUE/NGL die kompromisslose, linksnationalistische französische Mitgliedspartei France Insoumise deutlich an Gewicht gewinnt.

Welche Mehrheiten im Parlament sind möglich?

Die größte offene Frage an dieser Europawahl dürften ihre Auswirkungen auf die Ernennung der EU-Spitzenämter sein, allen voran des nächsten Kommissionspräsidenten. Die Debatte darüber wird sich in den Tagen nach der Wahl schnell zuspitzen: Bereits für kommenden Dienstag ist ein Sondergipfel des Europäischen Rates angesetzt, auf dem über das neue Personaltableau beraten werden soll.

Indessen hat das Europäische Parlament wiederholt angekündigt, für das Amt des Kommissionspräsidenten niemanden in Betracht zu ziehen, der nicht zuvor Spitzenkandidat einer europäischen Partei gewesen ist. Der entscheidende Hebel ist dabei Art. 17 Abs. 7 EUV, nach dem der Kommissionspräsident für seine Wahl die Unterstützung einer absoluten Mehrheit der Abgeordneten benötigt. Und so wird – selbst wenn wegen der beschriebenen Ungewissheiten das genaue Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen am Wahlabend noch nicht ganz feststehen wird – vom ersten Tag an darüber diskutiert werden, welche Mehrheiten im Parlament künftig möglich sind.

Hat Weber oder Timmermans die Nase vorn?

Ein Fokus wird dabei auf dem Verhältnis zwischen den beiden größten Fraktionen EVP und S&D liegen: Wird die EVP mit deutlichem Abstand stärkste Kraft, so hat deren Spitzenkandidat Manfred Weber gute Chancen, als „Wahlsieger“ und damit als legitimer nächster Kommissionspräsident anerkannt zu werden. Fällt das Ergebnis hingegen knapp aus oder hat gar die S&D die Nase vorn, so dürfte der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans ebenfalls einen Anspruch auf den Posten erheben.

Projektion vom 2. Mai 2019, Details hier.
Im Wahlkampf hat Timmermans zudem immer wieder die Möglichkeit ins Spiel gebracht, sich von einer Mitte-links-Allianz aus S&D, ALDE, G/EFA und GUE/NGL wählen zu lassen. Damit ein solch heterogenes Bündnis funktionieren kann, müsste es jedoch deutlich über der absoluten Mehrheit liegen, um gegebenenfalls einige Abweichler auszuhalten. Bleibt es (wie nach der letzten Projektion zu erwarten ist) knapp unter der absoluten Mehrheit, dürfte dieser Weg für Timmermans definitiv versperrt sein.

In diesem Fall wären auch Timmermansʼ nächste Schritte von Interesse: Stellt er sich öffentlich hinter Weber, um das Spitzenkandidaten-Verfahren zu stärken – so wie Martin Schulz das 2014 mit Jean-Claude Juncker tat? Oder wahrt er die Distanz und öffnet damit die Tür zu komplizierteren Verhandlungen, bei denen auch Kompromisskandidaten zum Zug kommen könnten?

Können die Grünen Königsmacher sein?

Doch auch wenn sich Timmermansʼ S&D hinter Weber stellt, würde das noch nicht genügen, um diesen zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Damit EVP und S&D auf eine absolute Mehrheit kommen, sind jedenfalls noch die Stimmen einer dritten Fraktion nötig. In Frage kämen hierfür vor allem die liberale ALDE oder die grüne G/EFA. Die ALDE lehnt das Spitzenkandidaten-Verfahren jedoch ab und dürfte für eine Wahl Webers deshalb aus Prinzip nicht zur Verfügung stehen. Die G/EFA hingegen würde mit sich reden lassen – doch auch hier hegen viele Mitglieder große Vorbehalte gegenüber Manfred Weber, sodass bei der Wahl jedenfalls mit einigen Abweichlern zu rechnen wäre.

Aus dieser Perspektive spielt es deshalb auch eine Rolle, wie viele Sitze ein mögliches Bündnis aus EVP, S&D und G/EFA bei der Europawahl gewinnt. Liegt es deutlich über einer absoluten Mehrheit, so dürfte das Webers Chancen verbessern. Erreicht es die absolute Mehrheit hingegen nur knapp (wie die Projektion erwarten lässt), wird bei der Wahl des Kommissionspräsidenten wohl kein Weg an der ALDE vorbeiführen.

Was passiert in den Mitgliedstaaten?

Die gesamteuropäischen Ergebnisse sind das wichtigste, aber nicht das einzig Interessante an der Europawahl. Auch die nationalen Teilergebnisse können politische Auswirkungen haben – auf die betreffenden Mitgliedstaaten, aber indirekt auch auf die EU insgesamt:

  • In Polen ist die Europawahl vor allem ein Kräftemessen zwischen der Regierungspartei PiS (AKRE) und dem Oppositionsbündnis KE, das von der liberalkonservativen PO (EVP) über die sozialdemokratische SLD (S&D) bis zu den grünen Zieloni (EGP) reicht. Welches Lager dabei vorne liegt, sendet ein wichtiges Zeichen für die nationale Parlamentswahl im Herbst – deren Ausgang für die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaat in Polen von entscheidender Bedeutung sein dürfte.
  • In Italien wachsen die Spannungen zwischen den beiden Regierungsparteien Lega (BENF) und M5S, seit Wochen wird über das bevorstehende Ende der Koalition spekuliert. Die Europawahl ist dafür ein Testlauf: Erreicht die Lega deutlich über 30 Prozent, könnte sie sich stark genug fühlen, um Neuwahlen herbeizuführen und eine reine Rechtsregierung ohne das M5S anzustreben.
  • In Österreich fällt die Europawahl in die aufgeheizte Stimmung nach dem Platzen der Koalition zwischen ÖVP (EVP) und FPÖ (BENF): Gleich am Montag steht im nationalen Parlament ein Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP/EVP) an. Die Wahl dürfte hier deshalb als wichtiger politischer Stimmungstest gesehen werden und wohl einen Dauerwahlkampf bis zu den nationalen Neuwahlen im September einleiten.
  • Auch in Dänemark ist die Europawahl ein Probelauf, nämlich für die nationale Parlamentswahl, die nur zehn Tage später stattfindet. Den Umfragen zufolge könnte dabei der „blaue“ Mitte-rechts-Block seine Mehrheit an die „rote“ Mitte-links-Allianz verlieren – was für die EU auch insofern von Bedeutung ist, als damit die Partei der möglichen Kommissionspräsidentschaftskandidatin Margrethe Vestager (RV/ALDE) wieder in die nationale Regierung zurückkehren würde.
  • Im Vereinigten Königreich schließlich dürfte die Europawahl das nationale Parteiensystem völlig durchpflügen und eine neue Polarisierung entlang der Position zum EU-Austritt zeigen: Während die neu gegründete Brexit Party klar gewinnen dürfte, legen auch die proeuropäischen LibDems (ALDE) und Greens (EGP) deutlich zu. Die europapolitisch ambivalente Labour Party hingegen könnte auf den dritten Platz zurückfallen, und die regierenden Conservatives (AKRE) müssen gar ein einstelliges Ergebnis befürchten. Dieses Debakel wird auch die britische Regierungskrise befeuern: Womöglich gibt Premierministerin Theresa May noch an diesem Freitag ihren Rücktritt bekannt.

Ein spannender Wahlabend

Im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen hat die Europawahl weniger Drama zu bieten: Sie ist keine Richtungsentscheidung, bei der Regierung und Opposition einander konfrontieren und eine Seite den Gewinn davonträgt. Stattdessen führt sie nur zu einer Neukalibrierung der komplexen Machtverhältnisse auf europäischer Ebene: zu politischen Verschiebungen, die oft zu fein sind, um die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit zu fesseln, und die zum Teil auch erst in den Tagen und Wochen nach der Wahl erkennbar sein werden.

Am Ende aber wird das Ergebnis dieser Europawahl den Kurs der Europäischen Union in den nächsten fünf Jahren prägen. Und es sind genügend Fragen offen, um uns am Sonntag auf einen spannenden Abend zu freuen.

Bilder: Wahlurne: Element5 Digital [Public Domain], via Unsplash; Sitzprojektion: eigene Grafik.

17 Mai 2019

Wege nach Brüssel: Wie Weber, Timmermans, Barnier und Vestager die Kommissionspräsidentschaft erreichen könnten

An Bewerbern mangelt es nicht.
Das Spitzenkandidaten-Verfahren wurde häufig totgesagt, doch es ist weiter quicklebendig: Die demokratische Idee, dass die europäischen Parteien bereits vor der Europawahl erklären, wen sie nach der Wahl gerne als Kommissionspräsidenten sähen, führte schon 2014 zu vehementer Gegenwehr bei einigen Staats- und Regierungschefs – doch am Ende saß das Europäische Parlament am längeren Hebel und konnte Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), dessen Europäische Volkspartei bei der Wahl die meisten Sitze gewonnen hatte, als Kommissionspräsidenten durchsetzen.

Es wird komplizierter als 2014

Seither ging der Streit um das Verfahren weiter: Einen Versuch des Parlaments, die Spitzenkandidaten auch im europäischen Wahlrecht zu verankern, wehrten die nationalen Regierungen 2016 erfolgreich ab. 2018 setzte das Parlament dem wiederum mehrere Resolutionen entgegen, in denen es seine Entschlossenheit bekräftigte, auch nach der Europawahl 2019 niemanden zum Kommissionspräsidenten zu wählen, der nicht zuvor als Spitzenkandidat einer europäischen Partei angetreten ist. Entsprechend ernannten die großen europäischen Parteien – die konservative EVP, die sozialdemokratische SPE, die grüne EGP, die linke EL – auch vor der aktuellen Europawahl wieder Spitzenkandidaten. Sogar die nationalkonservative AKRE, die das Verfahren 2014 noch boykottiert hatte, entschied sich, mit einem eigenen Kandidaten im Wahlkampf präsent zu sein.

Und dennoch liegen die Dinge diesmal etwas komplizierter als bei der Wahl 2014. Während die wichtigsten Gegner des Spitzenkandidaten-Verfahrens damals Europaskeptiker wie David Cameron (Cons./AKRE) und Viktor Orbán (Fidesz/EVP) waren, üben inzwischen auch einige Proeuropäer Kritik an dem Verfahren. Dies betrifft insbesondere den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron (LREM/–), aber auch die liberale Europapartei ALDE, die nach der Wahl mit Macrons LREM eine gemeinsame Fraktion bilden will. Ganz der Logik des neuen Verfahrens entziehen konnte sich allerdings auch die ALDE nicht: Sie nominierte zwar keinen Spitzenkandidaten – wohl aber ein siebenköpfiges „Team Europa“, dessen Mitglieder etwa in den Fernsehdebatten vor der Europawahl die Funktion von Spitzenkandidaten übernahmen.

Nichts geht ohne das Parlament

Was aber wird nach der Europawahl geschehen? Nach dem formalen Verfahren, wie es in Art. 17 Abs. 7 EUV festgeschrieben ist, schlägt der Europäische Rat dem Parlament „nach entsprechenden Konsultationen“ einen Kandidaten vor, den das Parlament dann wählt. Der Europäische Rat entscheidet dabei mit qualifizierter Mehrheit, das Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält ein vorgeschlagener Kandidat im Parlament keine Mehrheit, muss der Europäische Rat einen neuen Kandidaten vorschlagen und das Verfahren wird wiederholt – so lange, bis beide Institutionen sich einig sind.

Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) hat dabei bereits angekündigt, dass er schnell Pflöcke einschlagen will: Schon zwei Tage nach der Europawahl wird der Europäische Rat über die Besetzung der EU-Spitzenposten beraten, um möglichst noch im Juni zu einem Ergebnis zu kommen. Das lässt sich auch als Versuch verstehen, das Parlament zu überrumpeln, das sich erst am 2. Juli neu konstituiert. An der machtpolitischen Grundkonstellation ändert sich dadurch freilich nichts: Ohne die Zustimmung einer Mehrheit im Parlament kann der Europäische Rat keinen Kandidaten durchbringen.

Indessen dürfte sich die parlamentarische Mehrheitsfindung dieses Jahr schwieriger erweisen als 2014. Nach der Wahl erwartet uns deshalb ein kompliziertes politisches Spiel, bei dem sich zuletzt ganz unterschiedliche Kandidaten durchsetzen könnten. Vor allem vier Namen werden dabei besonders oft genannt: Manfred Weber (CSU/EVP), Frans Timmermans (PvdA/SPE), Michel Barnier (LR/EVP) und Margrethe Vestager (RV/ALDE). Hier sind vier Szenarien, wie sie einen Weg ins Amt finden – und woran sie scheitern könnten.

Manfred Weber: Der Favorit

Manfred Weber.
Der Favorit für die Kommissionspräsidentschaft ist nach wie vor der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber. Sein Weg ins Amt würde derselben Logik folgen wie derjenige von Jean-Claude Juncker vor fünf Jahren: Die Gesetzgebung im Europäischen Parlament basiert in aller Regel auf einer Zusammenarbeit der größten Fraktionen EVP, S&D und ALDE, deren Mitgliedsparteien auch die meisten Regierungsvertreter im Rat stellen. Es liegt also nahe, dass diese informelle Große Koalition auch die Mehrheit für die Wahl des Kommissionspräsidenten stellt. Wie es in Koalitionen üblich ist, sollte der Kandidat der stärksten beteiligten Fraktion dann auch den Regierungschef (also den Kommissionspräsidenten) stellen. Und das dürfte den Umfragen zufolge Webers EVP sein.

Doch während diese Argumentation vor fünf Jahren auch von den beiden anderen großen Fraktionen recht bereitwillig akzeptiert wurde, liegen die Dinge für Weber etwas schwieriger. EVP und S&D werden bei der Wahl erstmals ihre gemeinsame Mehrheit im Parlament verlieren; Weber ist deshalb zwingend darauf angewiesen, nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch noch eine weitere Fraktion hinter sich zu bringen. Und die ALDE lehnt das Spitzenkandidaten-Verfahren offiziell ab – und zwar insbesondere weil sie den impliziten Automatismus zugunsten der stärksten Fraktion vermeiden will, der die EVP strukturell bevorteilt.

Schwierige Mehrheitssuche

Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die ALDE sich der Wahl Webers schon aus Prinzip verweigern wird. In diesem Fall müsste Weber nach anderen möglichen Verbündeten suchen, wofür insbesondere die nationalkonservative EKR-Fraktion oder die grüne G/EFA in Frage kämen. Doch die EKR lehnt das Spitzenkandidaten-Verfahren ebenfalls ab und wird sich zudem aufgrund der Neusortierung des rechten Spektrums in den Wochen nach der Wahl in einiger innerer Unruhe befinden, sodass sie kaum ein verlässlicher Partner wäre.

Die Grünen wiederum unterstützen zwar das Spitzenkandidaten-Prinzip, hegen aber große Vorbehalte gegenüber der Person Manfred Webers, dem sie unter anderem vorwerfen, dem autoritären ungarischen Regierungschef Viktor Orbán zu lange die Stange gehalten zu haben. Und selbst wenn die Grünen mit sich reden ließen, hätten EVP, S&D und G/EFA den Umfragen zufolge nur eine hauchdünne Mehrheit, sodass schon wenige Abweichler genügen könnten, um Weber scheitern zu lassen.

Diese Schwierigkeiten im Parlament sind für Weber umso gravierender, als er über keinerlei Exekutiverfahrung verfügt und deshalb auch im Europäischen Rat keine starke Machtbasis hat. Doch bis jetzt steht die Europäische Volkspartei (weitgehend) geschlossen hinter ihm. Jeder andere Kandidat, der Kommissionspräsident werden will, muss deshalb erst einmal an der EVP vorbei.

Frans Timmermans: Der Außenseiter

Frans Timmermans.
Genau das ist das Ziel des SPE-Spitzenkandidaten Frans Timmermans, für den die Kommissionspräsidentschaft jedoch deutlich schwerer zu erreichen sein dürfte. Zwei verschiedene Wege könnten ihn ins Amt führen – aber keiner von ihnen ist so naheliegend wie derjenige Webers.

Der erste dieser Wege führt über eine Überraschung am Wahlabend: Wenn die britische Labour Party, deren Umfragewerte vor der Europawahl stark schwanken, besonders gut abschneidet, und wenn die ungarische Fidesz ihren möglichen Austritt aus der EVP in die Tat umsetzt, und wenn auch in einigen anderen Ländern die Würfel für die Sozialdemokraten glücklich fallen – dann könnte die S&D-Fraktion am Ende doch noch auf dem ersten Platz liegen. Die Sozialdemokraten könnten die Kommissionspräsidentschaft dann mit derselben Logik einfordern, zu der sich die EVP im Wahlkampf immer wieder lautstark bekannt hat. Und zugleich dürften die Grünen und viele Liberale mit Timmermans weniger Probleme haben als mit Weber.

Allerdings würde ein so knapper Wahlsieg der Sozialdemokraten mit Sicherheit zu Kontroversen führen. Zum einen dürfte die EVP thematisieren, dass der Vorsprung der S&D nur durch die britische Labour Party zustande gekommen wäre, die durch den geplanten Brexit voraussichtlich im Verlauf der Wahlperiode aus dem Parlament ausscheidet. Zum anderen würde die EVP in diesem Fall auch alles daran setzen, die ungarische Fidesz doch noch in der Fraktion zu halten – oder umgekehrt von der S&D fordern, dass auch diese ihre (bislang nur suspendierte) rumänische Mitgliedspartei PSD ausschließt. Eine schnelle Einwilligung der EVP, Timmermans mit zu unterstützen, wäre in diesem Szenario wohl nicht zu erwarten.

Eine „progressive“ Koalition gegen die EVP?

Doch Timmermans hat noch einen zweiten Weg, auf den er zuletzt auch selbst immer wieder hingewiesen hat: die Bildung einer alternativen „progressiven“ Koalition ohne die EVP, an der sich neben der S&D die liberale ALDE, die grüne G/EFA und die linke GUE/NGL beteiligen würden. Ein solches Mitte-Links-Bündnis kam im Europäischen Parlament auch in der Vergangenheit immer wieder zum Tragen, etwa bei Abstimmungen zu Umwelt- und Bürgerrechtsfragen.

Aber wäre es wirklich stark genug, um auch die Wahl des Kommissionspräsidenten durchzusetzen? Den Umfragen zufolge hätte es nach der Europawahl allenfalls eine minimale Mehrheit. Um nicht auf Abweichler aus anderen Fraktionen angewiesen zu sein, müsste Timmermans von der französischen France Insoumise bis zur deutschen FDP wohl jeden einzelnen Abgeordneten an Bord haben. Dass die S&D auf Grundlage einer so brüchigen Allianz wirklich den Konflikt mit der EVP sucht, scheint eher unwahrscheinlich – umso mehr, als das Mitte-Links-Bündnis auch im Europäischen Rat nicht die notwendige qualifizierte Mehrheit erreicht.

Michel Barnier: Der Nicht-Kandidat

Michel Barnier.
Kommt es aufgrund dieser unklaren Mehrheitsverhältnisse zu einer Blockade im Europäischen Parlament, so könnte der Europäische Rat die Gelegenheit wittern, dem Spitzenkandidaten-Verfahren den Garaus zu machen, und einen ganz anderen Namen für die Kommissionspräsidentschaft vorschlagen. Tatsächlich gibt es bereits eine Art inoffiziellen Kandidaten, der sich an der Seitenlinie für diese Rolle vorbereitet: Michel Barnier (LR/EVP), der zuletzt für die EU die Brexit-Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich führte und nun von sich sagt, er wolle auch nach der Wahl gerne weiterhin „für Europa nützlich“ sein.

Als erfahrener Europapolitiker mit umfangreicher Exekutiv-Erfahrung genießt Barnier einigen Respekt im Europäischen Rat. Auch als möglicher EVP-Spitzenkandidat war er lange im Gespräch, verzichtete dann aber im Herbst 2018 auf eine Kandidatur, da die Brexit-Verhandlungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen waren. Dass er grundsätzlich für hohe Ämter geeignet ist, dürfte in Brüssel kaum jemand abstreiten. Und auch wenn er kein Spitzenkandidat war, wäre er als EVP-Mitglied immerhin noch ein Repräsentant der stärksten Partei, sodass der Europäische Rat darauf hinweisen könnte, dass er (wie in Art. 17 Abs. 7 EUV vorgeschrieben) das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigt“ habe.

Wenig Anreiz für das Parlament

Doch dass das Europäische Parlament sich wirklich darauf einlassen würde, das Spitzenkandidaten-Verfahren zu opfern und ihn als Kommissionspräsidenten zu akzeptieren, erscheint nicht allzu wahrscheinlich. Die EVP hätte dafür wenigstens einen politischen Anreiz: Wenn Weber keine Chance auf eine Mehrheit im Parlament hat, könnte Barnier für die Christdemokraten die beste Möglichkeit sein, doch noch ein Mitglied der eigenen Partei zum Kommissionspräsidenten zu machen. Allerdings brächte ein solcher Positionswechsel die EVP in ein ernsthaftes Glaubwürdigkeitsproblem; schließlich hat keine andere Partei sich in den letzten Monaten so explizit wieder und wieder dazu bekannt, dass das Spitzenkandidaten-Verfahren für die EU ein entscheidender demokratischer Fortschritt sei.

Für die übrigen Fraktionen schließlich wäre der Anreiz, Barnier zu wählen, noch geringer. Als älterer, politisch gemäßigt-konservativer Mann mit diplomatisch-technokratischem Habitus dürfte Barnier Sozialdemokraten und Grüne wohl kaum so sehr mitreißen, dass sie dafür das Spitzenkandidaten-Verfahren aufgeben würden. Und auch bei der ALDE dürfte sich die Begeisterung in Grenzen halten. Dass aus Prinzip ein Mitglied der stärksten Partei Kommissionspräsident werden müsste, lehnen die Liberalen ab. Und dann ist Barnier auch noch Franzose: Würde er Kommissionspräsident, hätte der neue starke Mann der europäischen Liberalen, der französische Präsident Emmanuel Macron, nicht mehr die Möglichkeit, ein Mitglied seiner eigenen Partei LREM in der Europäischen Kommission zu platzieren.

Natürlich könnte der Europäische Rat statt Barnier auch einen anderen Nicht-Spitzenkandidaten vorschlagen, der (oder die) ein für Sozialdemokraten und Grüne ansprechenderes Profil besäße. Allerdings gibt es dafür keine besonders naheliegenden Interessenten, und die Position des Europäischen Rates gegenüber dem Europäischen Parlament würde nicht stärker, wenn er sich nun erst noch selbst auf die Suche nach geeigneten Persönlichkeiten begeben müsste. Wenn die Staats- und Regierungschefs ein langwieriges Tauziehen und eine institutionelle Krise mit dem Parlament vermeiden wollen, so führt der Weg des geringsten Widerstands für sie deshalb immer wieder zu den Spitzenkandidaten zurück.

Margrethe Vestager: Die Kompromisslösung

Margrethe Vestager.
Sollten Weber und Timmermans aus dem Spiel sein, hätte deshalb auch die derzeitige Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager gute Chancen: Als Mitglied des „Team Europa“ der ALDE vertrat sie ihre Partei unter anderem bei der Eurovision-Debatte am 15. Mai und ist damit wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Spitzenkandidatin. Zudem dürften die Liberalen bei der Wahl als einzige proeuropäische Fraktion deutliche Zugewinne erfahren. Und dass sie dennoch hinter den Sozialdemokraten nur auf dem dritten Platz landen werden, weist eine ALDE-Kommissionspräsidentin erkennbar als Kompromisslösung aus – was für die EVP wohl attraktiver wäre, als den Zweitplatzierten Timmermans zu unterstützen.

Darüber hinaus genießt Vestager auch persönlich dank ihrer harten Haltung gegenüber digitalen Quasi-Monopolisten nicht nur in Brüssel, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit einen guten Ruf. Und dass sie die erste weibliche Kommissionspräsidentin wäre, würde bei Grünen und Sozialdemokraten, aber auch bei vielen EVP-Mitgliedern und in den europäischen Medien ohne Zweifel ebenfalls auf positive Reaktionen stoßen.

Ärger mit Deutschland und Frankreich

Allerdings hat auch Vestager nicht nur Freunde. Schon ob ihre eigene nationale Regierung sie als Kommissionspräsidentin unterstützen würde, ist nicht ganz sicher: Vestagers Partei, die Radikale Venstre, ist an der aktuellen dänischen Mitte-Rechts-Regierung nicht beteiligt. Nach der Parlamentswahl am kommenden 5. Juni könnte sich das allerdings ändern; in Umfragen liegt der Mitte-Links-Block vorn.

Als gravierender könnte sich erweisen, dass Vestager im Februar auch die deutsche und französische Regierung verärgerte, als sie in ihrer Funktion als Wettbewerbskommissarin die Siemens-Alstom-Fusion untersagte. Und dass sie im März die Verabschiedung der umstrittenen EU-Urheberrechtsreform als „großartige Nachricht“ bezeichnete, dürfte sie schließlich auch im linksliberalen Lager einige Sympathien gekostet haben.

Ein kompliziertes Puzzle

Weber, Timmermans, Barnier, Vestager, oder doch noch jemand ganz anderes? Es führen viele Wege ins Amt, und wer sich zuletzt tatsächlich durchsetzt, wird sich erst in den Wochen nach der Europawahl zeigen.

Und das ist erst der Anfang: Auch die Ämter des Parlamentspräsidenten, Ratspräsidenten, Hohen Vertreters für die Außenpolitik sowie des Präsidenten der Europäischen Zentralbank stehen in den nächsten Monaten zur Disposition. Entsprechend der europäischen Konsenskultur muss bei der Besetzung dieser „Top Jobs“ eine Balance zwischen den verschiedenen Parteien (EVP, SPE, ALDE, womöglich auch Grüne), Regionen (Nord-, Süd-, West-, Osteuropa) und Geschlechtern gewahrt werden – ein kompliziertes Puzzle, in dem die Kommissionspräsidentschaft nur das erste, zentrale Stück ist.

Es wird, so viel steht jetzt schon fest, ein interessanter Sommer in Europa.

Bilder: Alle Kandidaten: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Weber: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Timmermans: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Barnier: European People's Party [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; Vestager: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.

13 Mai 2019

„Die Infrastruktur für einen europäischen Kommunikationsraum schaffen“: Ein Interview mit Johannes Hillje

Johannes Hillje.
D(e)F: Im Februar ist Dein jüngstes Buch erschienen. Darin schlägst Du vor, eine öffentlich-rechtliche „Plattform Europa“ zu gründen – ein, wie es im Untertitel heißt, „neues digitales Netzwerk“, mit dem wir „den Nationalismus überwinden“ könnten. Was hat es damit auf sich?

Johannes Hillje: Die Ausgangsthese meines Buches lautet: Es muss eine europäische Öffentlichkeit geben oder es wird eine lebendige europäische Demokratie niemals geben. Deshalb begebe ich mich in dem Buch auf die Suche danach, wie wir einen zeitgemäßen europäischen Kommunikationsraum schaffen können.

Denn Europa hat in den heutigen Strukturen von Öffentlichkeit ein Problem. Die Öffentlichkeiten sind in erster Linie national und zunehmend digital organisiert. Das spielt populistischen Nationalisten zweifach in die Hände: Zum einen brauchen sie ihre nationalistischen Positionen nicht gegenüber einem europäischen Gemeinwohl rechtfertigen, weil es dieses als Bewertungsmaßstab im Diskurs nationaler Medien praktisch nicht gibt. Zum anderen profitieren sie von den Algorithmen sozialer Medien, die keinem Demokratieauftrag, sondern allein einem Aufmerksamkeitsauftrag der Digitalkonzerne folgen.

Dennoch bin ich der Meinung, dass das Internet wie für die europäische Demokratie gemacht ist. Es kann geographische, sprachliche und kulturelle Grenzen besser überwinden als jedes andere Medium. Ich meine deshalb, dass wir mit einer öffentlich-rechtlichen Plattform zwei Problemen gleichzeitig begegnen könnten: Erstens könnten wir die komplette Privatisierung der digitalen Öffentlichkeit durch Google, Facebook und Co. verhindern, indem wir das duale System der klassischen Medien ins Digitale übertragen und den privaten Plattformen als Ausgleich eine öffentlich-rechtliche Plattform gegenüberstellen. Zweitens könnten wir mit der „Plattform Europa“ die Infrastruktur für einen europäischen Kommunikationsraum schaffen, der die zentralen Bedürfnisse einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit erfüllen kann.

Eine digitale Plattform in öffentlicher Hand

Du beschreibst verschiedene inhaltliche Eckpfeiler für die „Plattform Europa“: einen Newsroom mit einer eigenen Redaktion, eine Mediathek mit kulturellen Inhalten wie europäischen Serien, Formate für Dialog, Vernetzung und politisches Engagement, und schließlich externe Apps von Unternehmen. Das klingt nach einer Mischung aus Tagesschau, Netflix, Campact und Facebook – aber alles öffentlich-rechtlich und gesamteuropäisch. Ist es realistisch, das alles unter einem Dach zu vereinen?

Das sind normativ hergeleitete Vorschläge für eine Basisausstattung, die es meines Erachtens für eine europäische demokratische Öffentlichkeit bräuchte. Zwei Grundgedanken sind aber noch wichtiger als diese vier Bausteine: Erstens ist das flexible Konzept der Plattform zentral. Plattformen sind eine digitale Infrastruktur, auf der verschiedene Typen von Nutzern (wie zum Beispiel Buchverkäufer und Buchkäufer oder Restaurants und Hungrige) vernetzt werden, um miteinander interagieren zu können. Bei Facebook oder Twitter werden Nutzer auch miteinander vernetzt, um einen politischen Diskurs zwischen ihnen zu ermöglichen.

Die Art der Interaktion regelt sich aber eben auch nach den Interessen der Nutzer. Die Plattform ist nur der Ort dafür, wie ein Markplatz in der analogen Welt. Und so ein Marktplatz ist in öffentlicher Hand, dort gelten demokratisch definierte Regeln des Zusammenlebens – deswegen sollten wir auch das Regelwerk für die Plattformen nicht allein den privaten Unternehmen überlassen.

Zweitens schlage ich vor, dass man die Bürgerinnen und Bürger Europas in die Entwicklung der Plattform Europa direkt mit einbindet. Die vielleicht wichtigste Lehre aus dem Scheitern von Euronews und anderen europäischen Medienprojekten ist, dass ein Angebot nicht ohne die entsprechende Nachfrage erfolgreich sein kann. Ein großer Fehler ist, dass solche Projekte aus einer Angebots- und weniger aus einer Nachfrageperspektive entwickelt wurden. Das möchte ich umdrehen: Im Gegensatz zur Top-down-Bauweise der EU, sollte die Plattform Europa bottom-up entwickelt werden. Als Erstes müssten die Bürgerinnen und Bürger in der EU befragt werden, welche Angebote, welchen Mehrwert eine solche Plattform bieten müsste, damit sie diese in ihre Gewohnheiten aufnehmen. Übrigens geht fast jedes Tech-Unternehmen so vor: Keine App, keine Software wird bürokratisch am Schreibtisch konzipiert, sondern im Dialog mit der Zielgruppe.

Facebook Konkurrenz machen?

Ist nicht gerade die Nachfrage-Dimension auch hier ein wunder Punkt? Auch deine Ausgangsfrage ist ja aus Perspektive des politischen Systems gedacht: Mit welcher Kommunikationsinfrastruktur könnten wir eine demokratische Öffentlichkeit für die EU schaffen? Aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer lautet die Frage aber einfach: Warum sollte ich zu einer solchen neuen europäisch-öffentlichen Plattform wechseln? Die meisten Menschen wirken ja persönlich ganz zufrieden mit den nationalen Nachrichtensendungen und privaten Social Media, die sie heute haben.

Gerade bei Vernetzungsplattformen gibt es zudem drastische Skaleneffekte: Wenn StudiVZ und Google+ gescheitert sind, warum sollte dann ausgerechnet die Plattform Europa Facebook Konkurrenz machen können?

Ich sehe das etwas anders: Die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer fühlen sich als EU-Bürgerinnen und Bürger. Das Interesse an EU-Politik steigt. Schon heute sind skandinavische Serien im deutschen Fernsehen erfolgreich. Der Eurovision Song Contest ist äußerst beliebt. Das sind alles gute Voraussetzungen für europäische Politik- und Unterhaltungsformate.

Gerade was die Serien angeht, kritisiere ich, dass es zwar schon eine Menge länderübergreifende Co-Produktionen gibt, aber die Drehbücher dadurch eben nicht europäischer geworden sind. Es geht dann doch wieder um die Mafia irgendwo in Italien oder Kriminalfälle in Schweden. Das soll gerne bleiben, aber in der Realität findet eben auch europäisches Zusammenleben statt. In Grenzregionen, in Brüssel oder bei Erasmus-Programmen für Studierende oder Auszubildende. Auch dieses europäische Zusammenleben sollte in Kultur- und Unterhaltungsformaten abgebildet werden.

Was die sozialen Netzwerke betrifft: Erstens haben wir schon heute eine Debatte über Plattforminteroperabilität. Skaleneffekte könnten in Zukunft irrelevanter werden und die Chance alternativer Anbieter steigen. Ich halte das für eine wichtige Aufgabe für die Plattformregulierung.

Zweitens hätte eine Plattform in öffentlicher Hand den entscheidenden Vorteil, dass das Geschäftsmodell nicht auf der Monetarisierung der persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer beruhen würde. Das heißt, der Datenschutz könnte viel höher sein und im Interesse der Menschen geregelt werden. Facebook und Co. werden diesbezüglich immer nur niedrigste Standards einhalten, sonst verdienen sie kein Geld mehr. Mein Eindruck ist, dass der Unmut über den Umgang von Facebook und anderen Plattformen mit persönlichen Daten zunimmt und Alternativen deshalb eine Chance haben.

Europapolitische Meinungsbildung muss früher einsetzen

Kommen wir noch einmal zu dem Aspekt der politischen Nachrichten, der für eine demokratische Öffentlichkeit ja essenziell ist. Du sprichst in Deinem Buch selbst das Problem des fehlenden Nachrichtenwerts an: Die konsensorientierte europäische Alltagspolitik ist für die Medien eher uninteressant – die Nachrichten, die es in die Schlagzeilen schaffen, handeln deshalb meist entweder von Konflikten zwischen Regierungen (wie das „Deutschland gegen Griechenland“ in der Eurokrise) oder vom Protest der Populisten und Europagegner. Eine normale parteipolitische Auseinandersetzung, etwa zwischen konservativen und sozialdemokratischen Positionen, findet in der Öffentlichkeit hingegen kaum statt.

Aber liegt die zentrale Ursache dafür nicht weniger bei den Medien als im politischen System der EU, das durch die fehlende Regierungs-Oppositions-Dynamik und die „ewige Große Koalition“ schlicht zu wenig Nachrichtenwert generiert? Europapolitik ist wichtig, aber oft zu komplex, um sich zu einfachen, spannenden Geschichten verarbeiten zu lassen. Medien, die sie zum Mittelpunkt ihrer Berichterstattung machen, leiden deshalb oft an schlechten Quoten. Wie sollte der Newsroom einer Plattform Europa dieses Problem überwinden?

Der fehlende Konflikt zwischen Regierung und Opposition ist in der Tat ein Problem für die EU-Berichterstattung. Das Europäische Parlament neigt stets dazu, einen möglichst breiten Konsens zu finden, um in den Verhandlungen über ein Gesetz mit Rat und Kommission besonders wirksam auftreten zu können. Dennoch gibt es regelmäßig handfeste Konflikte und Kontroversen im Europäischen Parlament und auch im Rat: Man denke an die Urheberrechtsreform, die Handelsverträge TTIP und CETA, Abgasnormen, Glyphosat oder Datenschutz.

Ich stelle fest, dass die Berichterstattung über die Abstimmungen im Europäischen Parlament immer erst spät einsetzt, meistens erst dann, wenn einem Gesetz bereits zugestimmt oder es abgelehnt wurde. Die Schlagzeilen lauten dann „EU-Parlament stimmt für XY“. Alles, was davor passiert – Vorschlag der Kommission, Abstimmung in den Ausschüssen, Änderungsanträge etc. –, findet in der Berichterstattung kaum statt. Das sind aber die Prozesse, die für die Meinungsbildung der Öffentlichkeit relevant wären. Und übrigens auch jene Prozesse, in denen der Lobbyismus in Brüssel besonders aktiv ist.

Mehr öffentliche Aufmerksamkeit in früheren Stadien der Gesetzgebung könnte auch zu einem Gegenwicht zu wirkmächtigen privaten Interessen führen. Aber um das leisten zu können, bräuchten die Medien deutlich mehr Ressourcen in Brüssel. Von den Öffentlich-Rechtlichen einmal abgesehen, haben die meisten Medien ja nur ein, zwei, in Ausnahmefällen drei Journalisten vor Ort.

Ein europäischerer Europawahlkampf

Machen wir es einmal an einem konkreten Beispiel fest: Der aktuelle Europawahlkampf verläuft ja (wieder einmal) nicht allzu aufregend. Nach einer YouGov-Umfrage von Ende April kennen 45 Prozent der Deutschen keinen einzigen der nationalen Spitzenkandidaten – nach den Spitzenkandidaten der europäischen Parteien wurde gar nicht erst gefragt. Wie anders würde der Wahlkampf aussehen, wenn es die Plattform Europa schon gäbe?

Die gleiche Umfrage hat auch gezeigt: Die Bekanntheit der Spitzenkandidaten zur Europawahl korreliert nicht mit den Umfragewerten ihrer Parteien oder ihren jeweiligen Ämtern auf EU-Ebene, sondern mit ihrer bundespolitischen Rolle. AfD-Chef Jörg Meuthen ist zum Beispiel um einiges bekannter als EVP-Fraktionschef Manfred Weber. Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Udo Bullmann, hat den geringsten Bekanntheitswert von allen. Das trifft den Kern meiner Kritik: Politische Relevanz in der EU bedeutet eben noch keine Prominenz in nationalen Medien.

Also wie würde der Wahlkampf auf der Plattform Europa aussehen? Europäischer! Es wäre die Bühne für europapolitisches Personal und Themen. Was wir dieses Jahr wieder sehen – abgesehen von ein paar Debatten zwischen den EU-Spitzenkandidaten – sind 28 nationale Wahlkämpfe für ein Europäisches Parlament.

Interessant war in diesem Zusammenhang auch der Versuch von Emmanuel Macron, den Wahlkampf mit einem programmatischen Meinungsbeitrag in allen EU-Sprachen zu transnationalisieren. Aber er musste sein Europa-Plädoyer in 28 unterschiedlichen Zeitungen veröffentlichen, er hatte kein europäisches Medium zur Hand. Was war die Folge? Es gab danach wiederum nationale Debatten über Macrons Vorschläge, keine europäische. Wir in Deutschland wissen jetzt, was SPD, Union, Grüne, FDP und Linke über Macrons Vorschläge denken, aber nicht, was die Sozialisten in Spanien oder Syriza in Griechenland dazu meinen.

Es bewegt sich etwas

Und wann ist es so weit? In Deinem Buch machst du recht konkrete Vorschläge, wie die Plattform Europa unter dem Dach der Europäischen Rundfunkunion EBU angesiedelt werden könnte. Welche Fortschritte sind in den nächsten Jahren zu erwarten?

Es bewegt sich tatsächlich sehr viel bei dem Thema: Die SPD hat die „Plattform Europa“ in ihr Europawahlprogramm aufgenommen, auch die Grünen zeigen Sympathie für die Idee. Aber noch wichtiger: Bei den Öffentlich-Rechtlichen selbst gibt es erste Gedankenspiele. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm fordert zum Beispiel ein deutsch-französisches Plattformprojekt.

Ich finde, wir sollte das Projekt von Anfang an vollständig europäisch denken, deswegen wäre die Europäische Rundfunkunion ein geeigneter Rahmen. Es könnte eine Fortsetzung der Kooperation rund um die Eurovision-Debatte zur Europawahl werden. Die ersten Schritte wären eine öffentliche Konsultation zu den Funktionen der Plattformen sowie die Entwicklung erster Angebote im Sinne von Pilotprojekten. Für die Finanzierung sollte die EU-Kommission Fördergelder bereitstellen, ohne natürlich inhaltlich und konzeptionell einzugreifen. Aber die Millionen, die derzeit jedes Jahr von der EU-Kommission in den Sender Euronews fließen, der aber nur von rund 1 Prozent der Europäerinnen und Europäer geschaut wird, könnten der Plattform zugutekommen.

Johannes Hillje: Plattform Europa: Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalismus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können, Bonn (Dietz) 2019, 176 Seiten, Broschur: 18,00 Euro.

Johannes Hillje (@JHillje) arbeitet als Politik- und Kommunikationsberater in Berlin und Brüssel. Außerdem ist er Policy Fellow bei der Denkfabrik Das Progressive Zentrum und war Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei zur Europawahl 2014.

Dieses Interview wurde im April/Mai 2019 per E-Mail geführt.

Bild: Erik Marquardt.