Parteipolitische
Jugendorganisationen sind, wenigstens in Deutschland, in der Regel
weniger kompromissbereit als ihrer Mutterparteien; dass sie sich zu
gemeinsamen politischen Aktionen zusammenfinden, kommt eher selten
vor. Am vergangenen Europatag aber veröffentlichten die Junge Union
(JU/EVP), die Jungsozialisten (Jusos/SPE), die Jungen Liberalen
(Julis/ALDE) und die Grüne Jugend (GJ/EGP) einen
gemeinsamen, von den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF)
initiierten Appell (Wortlaut).
Die Forderung, die die konkurrierenden Jugendorganisationen
zusammenbrachte, lautete: „Rettet die Spitzenkandidaten!“
Die Spitzenkandidaten 2014
Gemeint
war damit natürlich das Spitzenkandidaten-Verfahren, das bei der
vergangenen Europawahl 2014 zum
ersten Mal angewandt wurde, um den Präsidenten der Europäischen
Kommission zu wählen. Formal schlägt nach Art.
17 Abs. 7 EUV der Europäische Rat den Kommissionspräsidenten
vor, der dann vom Europäischen Parlament gewählt wird. In der
Praxis hatte das früher stets so ausgesehen, dass die Staats- und
Regierungschefs weitgehend nach Belieben nach der Europawahl einen
Kandidaten ernannten, den die Abgeordneten dann nur noch abnickten.
2014
hingegen nominierten die europäischen Parteien bereits vor der Wahl
eigene Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft – und die
Fraktionen im Europäischen Parlament erklärten, dass sie vom
Europäischen Rat keinen anderen Vorschlag akzeptieren würden als
den Spitzenkandidaten jener Partei, deren Fraktion bei der Europawahl
die meisten Stimmen gewinnen würde. Bei den nationalen
Regierungschefs stieß dies nicht gerade auf Begeisterung; auch die
deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) zeigte sich lange
Zeit skeptisch.
Bis
zum Wahlabend (und noch
darüber hinaus) war deshalb offen, ob die
Idee des Parlaments wirklich aufgehen würde. Nach einigem
Druck aus der deutschen Öffentlichkeit akzeptierte Merkel
schließlich jedoch zähneknirschend, dass der siegreiche
EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker neuer Kommissionspräsident
wurde. Letztlich stimmten im Europäischen Rat nur
zwei Regierungschefs gegen Juncker: der Brite David Cameron
(Cons./AEKR) und der Ungar Viktor Orbán (Fidesz/EVP). Das
Europäische Parlament hatte sich durchgesetzt – fürs Erste.
Wahlrechtsreform
Dass
das Thema nun auf die politische Agenda zurückgekehrt ist, liegt an einer
geplanten Reform
des Europawahlrechts, die das Europäische Parlament im vergangenen
November angestoßen hat. Bei dieser Reform sollen verschiedene
Aspekte der Wahl, die bislang noch jeder Mitgliedstaat auf seine
eigene Weise regelt, europaweit vereinheitlicht werden. Unter anderem
betrifft dies den Stichtag, bis zu dem die nationalen Parteien vor
der Wahl ihre Kandidatenlisten aufstellen müssen. Und dann findet
sich in dem Reformentwurf des Parlaments (Wortlaut)
auch noch der Artikel 3f:
Die europäischen politischen Parteien nominieren ihre Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission spätestens zwölf Wochen vor dem Beginn des Wahlzeitraums […].
Auf den ersten Blick regelt dieser unscheinbare Satz
lediglich eine weitere Nominierungsfrist. Implizit aber würde
dadurch das Spitzenkandidaten-Verfahren erstmals in einem offiziellen
EU-Rechtsakt festgehalten. Wenn es dazu kommt, gibt es von dem neuen
Verfahren wohl keinen Weg mehr zurück.
Der Ministerrat schlägt zurück
Allerdings kann das Parlament für die Wahlrechtsreform nur einen
Vorschlag machen. Damit sie tatsächlich in Kraft tritt, muss ihr
(nach Art. 223
AEUV) außer dem Parlament auch der Ministerrat zustimmen, wobei
jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht hat. Derzeit laufen deshalb die
Gespräche zwischen den nationalen Regierungen, um sich auf eine
gemeinsame Position zu einigen. Und wie sich zeigt, haben die
Spitzenkandidaten in diesem Kreis noch immer nicht allzu viele
Freunde.
Ende April wurde nämlich ein
Memorandum bekannt (Wortlaut),
in dem die derzeitige niederländische Ratspräsidentschaft die
Positionen der Regierungen zu verschiedenen Vorschlägen des
Parlaments zusammenfasst. Demzufolge lehnen „alle Delegationen bis
auf eine“ eine Institutionalisierung der Spitzenkandidaten ab, da
sie gegen die „institutionellen Vorrechte des Europäischen Rates“
verstoßen würde.
Kokettieren
mit dem Hinterzimmer
Offenbar ist es den nationalen Regierungen also wichtig, sich auch
für die nächste Europawahl 2019 die Möglichkeit offenzuhalten,
anstelle des Spitzenkandidaten einer europäischen Partei einen
Kommissionspräsidenten zu nominieren, der sich nicht zuvor den
europäischen Wählern gestellt hat. Und dieses Kokettieren mit dem
Hinterzimmer wiederum war es, was die deutschen
Parteijugendorganisationen zu ihrem gemeinsamen Appell veranlasste,
um die Abschaffung des Spitzenkandidaten-Prinzips zu verhindern.
Was ist davon zu halten? Waren die Spitzenkandidaten ein
demokratischer Fortschritt, den es zu bewahren gilt? Müssen sie
wirklich im EU-Direktwahlakt verankert werden? Und vor allem: Haben
die Regierungen eine reelle Chance, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen?
Ein Gewinn für die europäische Demokratie
Warum die Spitzenkandidaten in meinen Augen ein Gewinn für die
europäische Demokratie sind, habe ich auf diesem Blog bereits
vor zwei Jahren ausführlich erklärt. Zum einen ist es natürlich
ganz allgemein demokratischer, wenn die Wähler schon vor der
Europawahl wissen, wer sich um das wichtigste Amt in der EU bewirbt,
und mit ihrer Wahlentscheidung auch über diese Personalie
mitbestimmen können. Zum anderen geben die Spitzenkandidaten den
europäischen Parteien ein Gesicht. Im besten Fall tragen sie so dazu
bei, den Europawahlkampf zu „europäisieren“, gesamteuropäische
Themen in den Mittelpunkt zu rücken und mehr Menschen für die Wahl
zu interessieren.
Dagegen ließe sich einwenden, dass die Spitzenkandidaten wenigstens
im Europawahlkampf 2014 keineswegs auf gewaltige öffentliche
Resonanz stießen. Zwar zeigen Studien, dass Juncker und sein
sozialdemokratischer Gegenkandidat Martin Schulz mehr Aufmerksamkeit
ernteten als Kandidaten bei früheren Europawahlen. Gemessen an den
Maßstäben nationaler Wahlen war das Interesse dennoch gering: Die
Einschaltquoten bei der Spitzenkandidaten-Fernsehdebatte waren
niedrig, und auch bei der Wahlbeteiligung gab es keine Besserung.
Tatsächlich muss man die Europawahl von 2014 aber wohl eher als eine
Art Probelauf verstehen. Nicht nur, dass das neue Verfahren für die
Medien noch ungewohnt war: Aufgrund des Widerstands aus dem
Europäischen Rat zeigten sich auch viele Experten überzeugt, dass
die Spitzenkandidaten letztlich ohne Bedeutung bleiben würden. Dass
auch die Wähler nicht sofort darauf ansprangen, braucht deshalb
nicht zu verwundern. Welche Chancen die Spitzenkandidaten für die
europäische Wahlkampfkultur wirklich bieten, wird erst klar sein,
wenn sie auch allgemein ernst genommen werden.
Legalistisches Gegenargument
Ein anderes Argument, das die nationalen Regierungen gern gegen das
Spitzenkandidaten-Verfahren ins Feld führen, ist ein legalistisches:
Laut EU-Vertrag hat der Europäische Rat nun einmal das
Vorschlagsrecht für den Kommissionspräsidenten. Dies würde
ausgehöhlt, wenn die Staats- und Regierungschefs faktisch niemand
anderen als den Spitzenkandidaten der siegreichen europäischen
Partei vorschlagen könnten.
Auch dieses Argument ist jedoch nicht überzeugend. Schließlich gibt
es in vielen nationalen Verfassungen analoge Regelungen, nach denen
das Staatsoberhaupt den Regierungschef vorschlagen darf: In
Deutschland zum Beispiel schlägt nach Art.
63 Abs. 1 GG der Bundespräsident den Bundeskanzler vor, der dann
vom Bundestag gewählt wird. In der Praxis sind es aber auch hier
die Parteien, die vor der Bundestagswahl ihre Kanzlerkandidaten
nominieren, und solange es keine ungewöhnliche politische Krise
gibt, käme kein Bundespräsident je auf die Idee, aus eigener
Initiative jemand anderen als den Wahlsieger vorzuschlagen. Sein
verfassungsmäßiges Vorschlagsrecht ist kaum mehr als eine Formalie
– und genau so sollte auch das Vorschlagsrecht des Europäischen
Rates im EU-Vertrag verstanden werden.
Die
Verankerung im Direktwahlakt ist ein politisches Symbol
Während das Spitzenkandidaten-Verfahren an sich also ein
demokratischer Fortschritt ist, bleibt die Frage, ob es wirklich im
Direktwahlakt verankert werden muss. Auch hier lässt sich eine
Parallele zur nationalen Politik ziehen: Auch in Deutschland stellen
die Parteien laut Bundeswahlgesetz nur landesweite Wahllisten auf.
Dass sie außerdem noch einen bundesweiten Kanzlerkandidaten
präsentieren, der dann auf den Wahlplakaten zu sehen ist, entspricht
nur der politischen Praxis. Überspannt das Europäische Parlament
also den Bogen, wenn es die Spitzenkandidaten auch im Direktwahlakt
erwähnen will?
Aus rein rechtlicher Sicht ist diese Erwähnung tatsächlich nicht
notwendig; das Beispiel von 2014 zeigt ja, dass das
Spitzenkandidaten-Verfahren auch ohne explizite Grundlage im
Direktwahlakt funktionieren kann. Zudem wäre der umkämpfte
neue Artikel 3f in der Sache kaum von Belang: Schließlich
schreibt er nicht vor, dass die europäischen Parteien
Spitzenkandidaten aufstellen müssen, sondern legt lediglich
die Frist fest, in der sie das dürfen. Und selbst
diese Fristenregelung läuft letztlich leer, da es keine Vorschrift
gibt, die das Europäische Parlament davon abhalten könnte, einen
verspätet nominierten Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten
zu wählen.
Worum es bei dem Streit um Artikel 3f eigentlich geht, ist aber etwas
anderes, nämlich das damit verbundene politische Symbol. Das Europäische Parlament
will das Spitzenkandidaten-Verfahren in möglichst geregelte Bahnen
lenken, um dessen Ernsthaftigkeit zu unterstreichen und dadurch auch
eine öffentliche Erwartungshaltung aufzubauen. Die nationalen
Regierungen versuchen genau das zu verhindern. Geht es nach ihnen,
sollen die Zweifel an der Bedeutung des neuen Verfahrens, die 2014
das öffentliche Interesse an den Spitzenkandidaten dämpften,
möglichst auch 2019 erhalten bleiben.
Die
Regierungen können das Verfahren nicht rückgängig machen
Wirklich rückgängig machen können die nationalen Regierungen das
neue Verfahren allein allerdings nicht mehr. Die Unsicherheit, die sie schüren,
könnte zwar zur Folge haben, dass die Medien sich auch 2019 nicht
voll auf diese Form der Personalisierung des Europawahlkampfs
einlassen. Aber wenn die europäischen Parteien tatsächlich wieder
Spitzenkandidaten aufstellen und die großen Fraktionen im
Europäischen Parlament gemeinsam dazu stehen, nur den Wahlsieger als
Kommissionspräsidenten zu akzeptieren, dann dürften sie sich damit
zuletzt genauso durchsetzen wie schon 2014.
Nur eines könnte eine Wiederholung des
Spitzenkandidaten-Verfahrens doch noch scheitern lassen – wenn nämlich
eine der beiden großen europäischen Parteien gar keinen Kandidaten
nominiert. Für die SPE ist das sehr unwahrscheinlich. Von allen
Parteien waren die Sozialdemokraten vor der letzten Europawahl die
Ersten, die einen Spitzenkandidaten präsentierten.
Und auch für 2019 gibt es bereits einige plausible Bewerber: etwa
Martin Schulz (SPD/SPE), der es nach seiner vergeblichen Kandidatur
2014 noch einmal versuchen könnte, oder der derzeitige
Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE).
Entscheidend
wird die EVP
In der Europäische Volkspartei ist die Lage hingegen offener. Schon
2014 waren die Zweifel an dem neuen Verfahren hier größer als in
den meisten anderen europäischen Parteien; ihren Spitzenmann Juncker
ernannten die Christdemokraten erst, als alle
anderen Kandidaten bereits feststanden. Es ist nicht
auszuschließen, dass konservative nationale Regierungschefs wie
Angela Merkel oder Viktor Orbán 2019 versuchen werden, parteiintern
den Nominierungsprozess zu verhindern. Die EVP zöge dann ohne
Spitzenkandidaten in den Wahlkampf, und falls sie dann auch noch
stärkste Fraktion würde, hätte der Europäische Rat wieder freie
Hand.
Der entscheidende Kampf um die Spitzenkandidaten dürfte also
innerhalb der EVP ausgetragen werden. Doch auch hier gibt es
natürlich zahlreiche Befürworter des neuen Prinzips: In der
deutschen CDU dürfte jedenfalls nicht unbemerkt geblieben sein, dass
die eigene Parteijugend sich dem Europatags-Appell der JEF
angeschlossen hat; und auch der Europaabgeordnete Rainer
Wieland (CDU/EVP) bekannte sich jüngst noch
einmal öffentlich zu dem neuen Verfahren. Sollten die
konservativen Regierungschefs tatsächlich die Nominierung eines
Spitzenkandidaten verhindern wollen, müssten sie also mit einigem
parteiinternem Widerstand rechnen – von der Kritik durch die anderen Parteien ganz zu schweigen. Keinen Kandidaten aufzustellen könnte deshalb für den EVP-Wahlkampf 2019 zu einer ernsten Belastung werden.
Wenn der öffentliche Druck erhalten bleibt, spricht deshalb viel dafür, dass die europäischen
Parteien auch bei der nächsten Europawahl wieder mit europaweiten Spitzenkandidaten antreten werden. Für uns Bürger, die wir gerne über
das Amt des Kommissionspräsidenten mitentscheiden wollen, ist das
eine gute Aussicht. Den nationalen Regierungen aber ist zu wünschen,
dass sie ihre Gegenwehr gegen das neue Verfahren endlich aufgeben.
Sie behindern damit nur die demokratische Weiterentwicklung der
Europäischen Union, ohne selbst etwas gewinnen zu können.
Neben dem Appell mit den Jugendorganisationen der Parteien haben die Jungen Europäischen Föderalisten auch eine Online-Petition initiiert, um für den Erhalt des Spitzenkandidaten-Verfahrens zu werben. Wer die Petition unterstützen möchte, kann das hier tun.
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Bild: Jon Worth [CC BY-SA-2.0], via Flickr.
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