06 November 2013

Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, wird in den nächsten Monaten wohl öfters mit dem Logo der SPE zu sehen sein.
Es ist so weit: Mit Martin Schulz (SPD/SPE) steht der erste Spitzenkandidat einer europäischen Partei für die Europawahl 2014 fest. Man darf wohl davon ausgehen, dass er sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt hat – jedenfalls war diese Vermutung bereits vor fast zwei Jahren in diesem Blog zu lesen, als Schulz vom Vorsitz der sozialdemokratischen Fraktion in das Amt des Parlamentspräsidenten wechselte. Seitdem hat er die Zeit genutzt, um sich in der Öffentlichkeit zu profilieren und seine zentrale Stellung unter den europäischen Sozialdemokraten weiter auszubauen. Zuletzt war seine Favoritenrolle so deutlich, dass sich außer ihm kein einziger Kandidat um die Aufstellung als SPE-Spitzenmann bemühte. Nach dem Ende der Nominierungsphase bestätigte ihn das Parteipräsidium deshalb am heutigen Mittwoch als „designierten Kandidaten“ der SPE für das Amt des Kommissionspräsidenten. Die offizielle Ernennung wird auf einem Parteitag am 1. März 2014 erfolgen; die ursprünglich vorgesehenen parteiinternen Vorwahlen, die bis Ende Januar laufen sollten, sind abgesagt.

Doch nicht nur bei den Sozialdemokraten sind in den letzten Tagen Vorentscheidungen gefallen; auch viele andere europäische Parteien machen Fortschritte bei der Suche nach ihren Spitzenkandidaten für die Europawahl. Hier ein Überblick über die jüngsten Entwicklungen.

Green Primary: Sechs KandidatInnen und ein Verfahrensstreit

Die einzige Gruppierung, die außer der SPE bereits frühzeitig ein konkretes Verfahren für die Ernennung ihrer Spitzenkandidaten entwickelt hat, ist die Europäische Grüne Partei (EGP). Und anders als bei den Sozialdemokraten fanden sich bei den Grünen tatsächlich mehrere Interessierte: Mit Monica Frassoni, Ulrike Lunacek, José Bové, Ska Keller, Rebecca Harms und Jolanda Verburg reichten gleich sechs Parteimitglieder ihre Bewerbung ein und müssen sich nun bis zu einem Parteitag an diesem Wochenende die Unterstützung von mindestens vier EGP-Mitgliedsparteien sichern. Unter den verbleibenden Kandidaten beginnt dann am kommenden Sonntag die letzte und interessanteste Phase des grünen Vorwahlverfahrens: Bis zum 28. Januar 2014 können in einer europaweiten Online-Abstimmung alle europäischen Bürger, die mindestens 16 Jahre alt sind und mit den Zielen der EGP sympathisieren, ihr Votum abgeben, um die beiden grünen Spitzenkandidaten auszuwählen.

Doch obwohl die Grünen mit dieser „Green Primary“ eigentlich ihre Vorreiterrolle in Sachen europäischer Demokratie feiern wollten – das Online-Votum soll die erste gesamteuropäische Abstimmung überhaupt werden, bei der keinerlei nationale Quotierung stattfindet, sondern wirklich jede abgegebene Stimme gleich viel zählt –, geriet das Verfahren auch immer wieder in die Kritik. Zum Problem wurde dabei unter anderem, dass sich die Wähler für die Abstimmung lediglich mit einer E-Mail-Adresse und einer Handynummer registrieren müssen und daher Mehrfachvoten und andere Manipulationen nicht auszuschließen sind. Am gestrigen Dienstag kam es deshalb schließlich zum Eklat, als die österreichischen Grünen aus „technischen und datenschutzrechtlichen“ Gründen ihren Ausstieg aus dem gesamten Verfahren erklärten. Auch die österreichische Kandidatin Ulrike Lunacek zog ihre Bewerbung zurück.

Auf dem EGP-Kongress am kommenden Wochenende dürfte es deshalb einigen Klärungsbedarf geben. Zwar erscheint es derzeit sehr unwahrscheinlich, dass die aufwendig vorbereitete Online-Abstimmung noch abgesagt wird. Jedenfalls aber werden die fünf verbleibenden Kandidaten erst einmal damit zu kämpfen haben, dass die Partei im einsetzenden Vorwahlkampf über Abstimmungstechniken statt über Köpfe und Inhalte diskutiert.

Alexis Tsipras für die Europäische Linke

Alexis Tsipras soll nach dem Plan der Europäischen Linken zur „Stimme des Widerstands und der Hoffnung gegen die ultraliberalen Politiken“ der EU werden.
Weitaus weniger Mühe bei der Personalauswahl macht sich hingegen die Europäische Linke (EL): Ohne große öffentliche Diskussion beschloss deren Präsidium bei einem Treffen vor drei Wochen, dass Alexis Tsipras die Partei in den Europawahlkampf führen soll. Als Chef des Linksbündnisses Syriza hatte Tsipras bei den Wahlen zum griechischen Parlament 2012 deutliche Zugewinne erzielt und sich – nicht zuletzt aufgrund der Befürchtungen, die die Möglichkeit eines Syriza-Wahlsiegs damals bei den übrigen Regierungen der Eurozone auslöste – europaweite Bekanntheit verschafft. Allein dies dürfte ihn bereits als Zugpferd für die Europäische Linke qualifizieren. Mitte Dezember soll seine Kandidatur jedenfalls auf einem EL-Kongress in Madrid bestätigt werden, und es ist nicht zu erwarten, dass sie ihm von irgendeinem anderen Bewerber streitig gemacht wird.

Insgesamt allerdings stößt die Idee, zur Europawahl einen Spitzenkandidaten aufzustellen, in der Europäischen Linken auf deutlich weniger Begeisterung als unter Sozialdemokraten und Grünen. Die Presseerklärung, die das Parteipräsidium zu Tsipras’ Nominierung veröffentlichte, klang jedenfalls eher verdrießlich: Die EL, so ist dort zu lesen, „glaubt nicht, dass diese neue Maßnahme die EU demokratisieren wird“. Dass die Partei trotzdem einen Spitzenkandidaten nominieren werde, liege nur daran, dass sie den übrigen politischen Kräften nicht das „Redemonopol“ überlassen wolle. Immerhin lässt sich jedoch festhalten, dass die Linke sich dem neuen Verfahren nicht verweigert – und dass sie offenbar erkannt hat, wie nützlich die Personalisierung für die öffentliche Wahrnehmung im Europawahlkampf ist.

Nichts Neues von ALDE und EVP

Kaum neue Entwicklungen gibt es hingegen bei der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Bei den Liberalen sind nach wie vor Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) und Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) im Rennen um die Spitzenkandidatur. Die wichtigsten Weichen dafür werden vermutlich auf dem Parteikongress vom in drei Wochen gestellt; allerdings könnten sich noch bis Mitte Dezember weitere Interessierte erklären, ehe dann voraussichtlich im Februar die endgültige Entscheidung fallen soll.

Bei den Christdemokraten wiederum haben bislang Justizkommissarin Viviane Reding (CSV/EVP) und Binnenmarktkommissar Michel Barnier (UMP/EVP) am klarsten ihr Interesse an einer Kandidatur zu erkennen gegeben. Allerdings hat die EVP nach wie vor weder ein Verfahren noch einen Zeitplan für die Nominierung beschlossen. Zudem haben in den letzten Wochen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) und dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) gleich zwei Spitzenpolitiker der Partei deutlich gemacht, dass ihnen eigentlich die ganze Idee, Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufzustellen, nicht gefällt. Der Europaabgeordnete Alain Lamassoure (UMP/EVP) hingegen verteidigte diesen Ansatz vor einigen Tagen in einem Artikel. Insgesamt scheint die innerparteiliche Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern einer stärkeren Personalisierung bei der Europawahl also gerade erst Fahrt aufzunehmen – und solange sie nicht entschieden ist, wird es wohl auch auf die Frage, wer als Spitzenkandidat der Christdemokraten in den Wahlkampf zieht, keine neuen Antworten geben.

Die meisten Kandidaten entstammen supranationalen Organen

Während die Sozialdemokraten ihre wichtigste Personalentscheidung für die Europawahl bereits getroffen haben, wird die Diskussion in anderen europäischen Parteien voraussichtlich noch längere Zeit andauern. Eine Grundtendenz allerdings ist schon jetzt zu beobachten. Betrachtet man die Herkunft der Politiker, die sich um die Spitzenkandidaturen bewerben, so stellt man fest, dass die meisten von ihnen den supranationalen Institutionen entstammen: Martin Schulz, Guy Verhofstadt, Ska Keller, Rebecca Harms und José Bové sind derzeit Mitglieder des Europäischen Parlaments; Michel Barnier, Viviane Reding und Olli Rehn gehören der Europäischen Kommission an. Nur Alexis Tsipras und Jolanda Verburg waren bislang ausschließlich auf nationaler Ebene aktiv.

Diese deutliche Überzahl von Repräsentanten der supranationalen Institutionen unter den voraussichtlichen Spitzenkandidaten steht in einem klaren Kontrast zu den letzten Jahrzehnten, in denen die wichtigsten europäischen Ämter meist mit nationalen Politikern besetzt wurden. So hatten etwa die bisherigen Präsidenten der Europäischen Kommission seit den 1970er Jahren vor ihrem Amtsantritt stets ein nationales Regierungsamt ausgeübt – sei es als Finanzminister wie François-Xavier Ortoli (UDR, 1973-77), Roy Jenkins (Lab./SPE, 1977-81) und Jacques Delors (PS/SPE, 1985-95) oder als Regierungschef wie Gaston Thorn (DP/ALDE, 1981-85), Jacques Santer (CSV/EVP, 1995-99), Romano Prodi (Dem./ALDE, 1999-2004) und José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP, seit 2004).

Diesmal hingegen haben prominente nationale Regierungspolitiker wie der polnische Ministerpräsident Donald Tusk (PO/EVP) oder der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) bereits erklärt, für die europäischen Spitzenämter nicht zur Verfügung zu stehen. Oder sie haben sich wie die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning Schmidt (S/SPE), die immer wieder als mögliche SPE-Kandidatin genannt worden war, nie öffentlich zu dem Thema geäußert und die Gelegenheit zur Nominierung verstreichen lassen.

Warum Tusk und Thorning Schmidt nicht kandidieren

Woran liegt diese Veränderung? Mein Eindruck ist, dass es sich dabei im Wesentlichen um eine Folge des neuen Verfahrens handelt, bei dem die Parteien ihre Vorschläge für das Amt des Kommissionspräsidenten bereits vor der Europawahl benennen, statt erst hinterher hinter verschlossenen Türen nach möglichen Kandidaten zu suchen. Für amtierende nationale Politiker ist es stets mit einem großen Risiko verbunden, sich im Voraus zu ihrem Interesse an einem EU-Posten zu bekennen. Zum einen laufen sie Gefahr, dass ihnen der Wunsch, nach Brüssel zu wechseln, in der nationalen Öffentlichkeit als Amtsmüdigkeit ausgelegt wird. Zum anderen droht ihnen ein erheblicher Imageschaden, wenn ihre europäische Kandidatur zuletzt erfolglos bleibt. Selbst wenn Tusk, Juncker oder Thorning Schmidt gern Kommissionspräsident geworden wären, hätten sie dies deshalb nur schwer gegenüber ihrer Wählerschaft zugeben können, ohne zugleich als nationaler Regierungschef zurückzutreten.

Für einen Europaabgeordneten wie Martin Schulz oder ein Kommissionsmitglied wie Michel Barnier ist es hingegen deutlich einfacher, zu ihren Ambitionen zu stehen: Denn aus ihrer Perspektive erscheint der Wechsel an die Spitze der Kommission lediglich als der nächste logische Schritt in ihrem Politikerleben. Von einem parteiinternen Vorwahlkampf haben die Angehörigen supranationaler Institutionen deshalb weitaus weniger zu befürchten. Selbst wenn sie ihn verlieren sollten, müsste das nicht zwingend das Ende ihrer politischen Karriere sein.

Signal für den überstaatlichen Parlamentarismus

Sollte sich diese Überlegung bestätigen, dann könnte die Nominierung von Spitzenkandidaten langfristig noch weitere Folgen für das institutionelle Gleichgewicht haben. Denn wenn die europäischen Spitzenämter künftig öfter mit ehemaligen Europaabgeordneten als mit nationalen Regierungsvertretern besetzt werden, dann ist zu erwarten, dass auch ihre Entscheidungen noch stärker als bisher von einem gesamteuropäischen Politikverständnis geprägt sind. Und zugleich wird es natürlich für aufstrebende Europapolitiker attraktiver, ihr Karriereglück in Brüssel oder Straßburg zu versuchen statt in den nationalen Hauptstädten – was wiederum für die Professionalität und Medienpräsenz der supranationalen Organe von Vorteil sein dürfte.

Wie ich hier vor einer Woche geschrieben habe, nähert sich die EU mit dem neuen Verfahren einem Modell der parlamentarischen Demokratie an, wie man es auch auf nationaler Ebene kennt. Mit Martin Schulz könnte nun zum ersten Mal ein Politiker Kommissionspräsident werden, der (nach einigen Jahren als Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt) nahezu seine gesamte politische Laufbahn im Europäischen Parlament verbracht hat. Wenn man in Europa politisch etwas werden will, dann muss man dafür nicht mehr zwingend ein nationales Regierungsamt bekleidet haben: Das ist vielleicht das deutlichste Signal zugunsten einer überstaatlichen Parlamentarismus, welches der Europawahlkampf 2014 bislang zu bieten hatte.

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Bild: By Party of European Socialists [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; GUE/NGL [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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