- Altiero Spinelli, Nestor des europäischen Föderalismus und Namensgeber der Spinelli Group, hat 1984 ebenfalls einmal einen EU-Vertragsentwurf geschrieben.
Ungefähr einmal alle
zehn Jahre gibt es im Europäischen Parlament einen Anlauf zu einer
großen föderalistischen Vertragsreform. Im Jahr 1984 arbeitete der
italienische Abgeordnete Altiero Spinelli einen Vertragsentwurf aus,
der weit
über alles zuvor in der Europapolitik Dagewesene hinausging. Er
wurde durch das Parlament verabschiedet, versandete dann aber rasch
im Ratifikationsprozess. 1994 folgte ein neuer Anlauf mit dem
sogenannten Herman-Bericht, der jedoch ebenfalls in der Schublade
landete. Bessere Chancen hatte der Verfassungsvertrag, den der
Europäische Konvent 2002/03 unter wesentlicher Beteiligung der
Europaabgeordneten ausarbeitete. Auch er wurde von der anschließenden
Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten allerdings nicht direkt
übernommen, sondern noch überarbeitet, ehe er durch Referenden in
Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Und nun, zehn Jahre
später, ist es wieder so weit: Vor einigen Wochen hat eine Gruppe
von Europaabgeordneten ihren eigenen
Entwurf für den EU-Vertrag der Zukunft vorgelegt.
Zu den Mitgliedern dieser
Vereinigung, die sich nach dem 1984er Vorbild als Spinelli
Group bezeichnet, zählen unter anderem der Präsident der
Union Europäischer Föderalisten Andrew Duff (LibDem/ALDE), der
liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der
langjährige Vorsitzende des Parlamentsausschusses für
konstitutionelle Fragen Jo Leinen (SPD/SPE) oder das
christdemokratische Urgestein Elmar Brok (CDU/EVP). Ihr gemeinsames
Anliegen ist es, der einsetzenden Debatte
über einen neue EU-Reform einen föderalistischen Impuls zu
geben. Hierfür arbeiteten sie einen Vertragsentwurf aus, der nun in
englischer Fassung im
Verlag der Bertelsmann-Stiftung erschienen ist. Ohne Übertreibung
lässt sich sagen, dass es sich dabei nicht nur um den konkretesten, sondern auch um den ambitioniertesten Vorschlag
handelt, den die europäische Politik seit langem hervorgebracht hat.
Im Folgenden sollen einige seiner wichtigsten Inhalte kurz
vorgestellt werden.
Zurückhaltende
Symbolik
Der Titel des Entwurfs
lautet Ein Grundgesetz für die Europäische Union (GGEU), und
natürlich ist der Anklang an die deutsche Verfassung kein Zufall.
Ziel der Spinellianer ist es, das gesamte komplexe Vertragssystem der
EU (das sich derzeit aus EU-Vertrag,
AEU-Vertrag,
Euratom-Vertrag,
EU-Grundrechtecharta
sowie 37
Protokollen zusammensetzt) zu einem einheitlichen Dokument
zusammenzufassen. Mit 437 Artikeln sowie weiterhin 18 angehängten
Protokollen wäre das zwar immer noch keine leichte Abendlektüre,
aber immerhin deutlich übersichtlicher als das bisherige europäische
Primärrecht.
Und auch symbolisch setzt
sich der Entwurf von den bisherigen Verträgen ab: Wo die Präambel
des EU-Vertrags bisher mit einer Aufzählung der nationalen
Staatschefs der Mitgliedstaaten begann, soll künftig die
Formulierung „Wir die Völker Europas, repräsentiert durch die
Institutionen und Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ stehen
(alle Zitate sind meine Übersetzung des englischen Textes). Art. 1
GGEU definiert das Grundgesetz dann als „Verfassungsvertrag“,
durch den die EU „neu begründet“ wird. Ihre
Legitimationssubjekte sollen nicht mehr nur die „Mitgliedstaaten“,
sondern auch die „Bürger“ der Union sein.
Davon abgesehen hält
sich der Entwurf mit föderalistischer Symbolik allerdings zurück.
So widerstanden die Spinellianer beispielsweise der Versuchung, sich
für die Europäische Kommission einen
neuen Namen auszudenken. Art. 8 GGEU erklärt zwar kurz und
bündig, die Kommission sei „die Regierung der Union“ –
ansonsten aber bleibt der Text bei der bereits etablierten
Bezeichnung. In meinen Augen ist das eine kluge Entscheidung:
Schließlich soll es bei dem Vertragsentwurf nicht um eine utopische
Neuerfindung, sondern nur um eine konkrete, wenn auch umfassende
Reform des existierenden politischen Systems der Europäischen Union
gehen.
Europäische
Demokratie
Blickt man genauer in die
Inhalte des Vertragsentwurfs, dann ist als seine hauptsächliche
Stoßrichtung die Stärkung der europäischen Demokratie zu erkennen.
Dies zeigt sich zunächst in einer Reform des Europawahlrechts: Geht
es nach den Spinellianern, so soll ein bestimmter Anteil der
Europaabgeordneten künftig auf
transnationalen Listen gewählt werden (Art. 12 GGEU).
Zudem soll die Kontrolle
des Parlaments über die Europäische Kommission erhöht werden. Das
Verfahren zur Wahl des Kommissionspräsidenten selbst bleibt zwar
weitgehend unverändert, d. h. der Europäische Rat hätte
weiterhin
ein Vorschlagsrecht. Neu allerdings ist ein konstruktives
Misstrauensvotum (Art. 15 Abs. 12 GGEU), mit dem das
Parlament künftig den Kommissionspräsidenten entlassen und einen
Nachfolger wählen kann, ohne dass der Europäische Rat sich dabei
einmischen könnte. Insgesamt wäre das Verhältnis zwischen
Europäischem Parlament, Kommission und Europäischem Rat damit sehr
ähnlich wie das zwischen Bundestag, Bundesregierung und
Bundespräsident in Deutschland. Und auch bei der Wahl der übrigen
Kommission will die Spinelli Group die nationalen Regierungen
entmachten. Künftig soll nicht mehr jedes
Land ein Mitglied nominieren, sondern der Kommissionspräsident
selbst bestimmen, wie viele und welche Kommissare er haben will
(Art. 15 Abs. 5, 8 GGEU) – ganz so, wie auch der deutsche
Bundeskanzler selbst die Minister seines Kabinetts auswählen kann.
Ein weiteres Novum ist
schließlich die Ausweitung der Unionsbürgerrechte: Nach Art. 262
GGEU soll sich künftig jeder Europäer unabhängig von seiner
Staatsbürgerschaft nicht nur an kommunalen und europäischen,
sondern auch an
nationalen Wahlen an seinem Wohnort beteiligen können.
Erstaunlicherweise werden in dem Vertragsentwurf allerdings die
regionalen Wahlen (etwa zu den deutschen Landtagen) nicht genannt –
offenbar ein Lapsus der Spinellianer, da es kaum Sinn machen würde,
ausgerechnet auf dieser Zwischenebene das Wohnortswahlrecht weiter
einzuschränken.
Abschaffung nationaler
Vetorechte
Ein
weiterer tiefgreifender Reformvorschlag der Spinelli Group
betrifft die Verfahren, mit denen die EU Beschlüsse fassen kann. So
gilt derzeit für die meisten EU-Rechtsakte das sogenannte
„ordentliche
Gesetzgebungsverfahren“, bei dem das Parlament und der Rat
gleichberechtigt mitbestimmen können. Dabei ist im Rat eine
qualifizierte Mehrheit von mindestens 55% der Mitgliedstaaten
erforderlich, die zugleich mindestens 65% der EU-Bevölkerung
repräsentieren. Für bestimmte Entscheidungen existieren daneben
jedoch noch eine Reihe von „besonderen Gesetzgebungsverfahren“,
bei denen das Parlament oft nur reduzierte Mitspracherechte hat und
der Rat nur einstimmig beschließen kann.
In dem Vertragsentwurf
bleibt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren weitgehend unverändert.
Die besonderen Verfahren jedoch sollen vereinheitlicht werden, wobei
die nationalen Vetorechte abgeschafft würden: Stattdessen wäre im
Rat lediglich eine erhöhte qualifizierte Mehrheit erforderlich
(nämlich von 67% der Staaten, die 75% der Bevölkerung
repräsentieren). Zudem soll auch in diesem neuen besonderen
Verfahren das Parlament immer ein Mitspracherecht haben. Angewandt
würde es beispielsweise für Reformen des Europawahlrechts (Art. 23
GGEU), für die Anwendung der Flexibilitätsklausel
(Art. 21 GGEU) oder für den mehrjährigen Finanzrahmen des
EU-Budgets (Art. 203 GGEU).
Nur für einige wenige
Fragen wäre auch in Zukunft eine noch größere Mehrheit im Rat
erforderlich. Beispielsweise würden Sanktionen gegen
Mitgliedstaaten, die gegen
die Grundwerte der EU verstoßen, künftig statt der
Einstimmigkeit eine Vier-Fünftel-Mehrheit erfordern (Art. 133
GGEU). Ein nationales Vetorecht
hingegen soll es hingegen fast überhaupt nicht mehr geben. Zu den
ganz wenigen Ausnahmen zählen die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
(Art. 136 GGEU) sowie die Festlegung der Amtssprachen der EU
(Art. 121 GGEU).
EU-Haushalt und
Währungsunion
Umfangreiche
Reformen sieht das Vertragsentwurf ferner für den Haushalt der EU
vor. So soll die EU ein umfassendes Besteuerungsrecht erhalten, wobei
Art und Höhe der Steuern nach dem ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren festgelegt würden (Art. 202 GGEU).
Nationale Mitgliedsbeiträge zum EU-Etat hingegen soll es spätestens
fünf Jahre nach Inkrafttreten der Reform nicht mehr geben (Art. 225
Abs. 15 GGEU). Darüber hinaus würde die EU künftig eigene
Anleihen herausgeben können, wobei sie ebenso wie die
Mitgliedstaaten ein Defizit von höchstens 3% und einen Schuldenstand
von höchstens 60% des Bruttoinlandsprodukts haben dürfte (Art. 200
GGEU).
Auch
in der Wirtschaftspolitik würde die EU umfassend gestärkt werden.
So soll sie eine Kompetenz für „alle notwendigen Aktionen und
Maßnahmen in allen Bereichen, die für das Funktionieren der
Wirtschafts- und Währungsunion bei der Verfolgung der Ziele einer
verstärkten Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit, der Förderung von
Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt, umweltpolitischer
Nachhaltigkeit, verbesserter Nachhaltigkeit der öffentlichen
Haushalte und verstärkter Finanzstabilität wesentlich sind“,
erhalten (Art. 219 GGEU). Die wesentlichen Bestimmungen des
ESM-Vertrags und des Fiskalpakts sollen in den Vertragstext
integriert werden, wobei der ESM künftig dem ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren und damit der
Mitbestimmung des Europäischen Parlaments unterläge (Art. 236
GGEU). Und natürlich sieht der Vertragsentwurf auch eine
Bankenunion vor, die explizit eine gemeinsame Aufsicht, einen
gemeinsamen Abwicklungsmechanismus und eine gemeinsame
Einlagensicherung umfassen soll (Art. 227 GGEU).
Abschaffen
wollen die Spinellianer die Nichtbeistandsklausel, die bislang einer
der Kernbestandteile der Währungsunion war. An ihre Stelle soll
ein „System für das gemeinsame Management von Staatsschulden“
treten, das allerdings an eine „strikte Konditionalität“
gebunden wäre (Art. 224 GGEU). Im Gegenzug sollen Verstöße
gegen die EU-Defizitregeln künftig mit drastischen Mitteln geahndet
werden: Nach Art. 236 Abs. 4 GGEU müssten sich
Euro-Staaten mit einem übermäßigen Defizit künftig einem
„budgetären und wirtschaftlichen Partnerschaftsprogramm“
unterwerfen – welches faktisch darin bestünde, dass die EU eine
nahezu vollständige Kontrolle über Haushalts- und
Wirtschaftspolitik des betreffenden Landes übernimmt.
Vertragsreformen ohne
Veto
Der
vielleicht spektakulärste Reformvorschlag aber betrifft das
Reformverfahren selbst: Wenn es nach der Spinelli Group
geht, sollen die einzelnen
Mitgliedstaaten bei künftigen Änderungen des EU-Grundgesetzes kein
Vetorecht mehr besitzen. Während heute jede Vertragsreform
einstimmig in einer Regierungskonferenz beschlossen werden muss, wäre
künftig nach Art. 135 GGEU nur noch eine Mehrheit von drei
Vierteln der Regierungen nötig. Zusätzlich würde allerdings das
Europäische Parlament ein Mitspracherecht erhalten, das jeder
Vertragsänderung mit Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen müsste.
Und
auch im Ratifikationsverfahren gäbe es künftig kein nationales
Vetorecht mehr: Damit die Reform in Kraft tritt, müssten künftig
nur noch vier Fünftel der Mitgliedstaaten sie nach ihren jeweiligen
nationalen Verfahren (d. h. in der Regel durch die nationalen
Parlamente) bestätigen. Alternativ soll die Ratifikation auch durch
ein europaweites Referendum erfolgen können, wobei im Entwurf der
Spinellianer allerdings leider unklar bleibt, wer über die
Einberufung eines solchen Referendums entscheiden würde. Staaten,
die eine Vertragsreform nicht mittragen wollen, hätten damit künftig
nur noch die Möglichkeit, die Europäische Union zu verlassen
(Art. 138 GGEU) – oder sich ihr als „assoziierter Staat“
anzuschließen, eine neue Form der Mitgliedschaft light, deren
Bedingungen jeweils individuell ausgehandelt würden (Art. 137
GGEU). Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass die
Spinelli Group dabei
nicht
zuletzt Großbritannien im Blick hatte.
Und wie realistisch
ist das alles?
Würde
die Europäische Union durch das „Grundgesetz“ zu einem
Bundesstaat? Die Frage ist müßig, sind doch die Grenzen zwischen
Bundesstaat und Staatenbund schon längst durchlässig geworden. Ohne
Zweifel aber wären die Reformen, die die Spinelli Group
vorschlägt, ein gewaltiger Schritt in Richtung einer
demokratischeren und handlungsfähigeren Union. Von dem
europapolitischen
Wunschzettel, den ich selbst vor einem Jahr in diesem Blog
veröffentlicht habe, sind jedenfalls fast alle Punkte darin
enthalten.
Und
wie realistisch ist das alles? Ein Pessimist mag nun spöttisch den
Mund verziehen: Natürlich werden sich die nationalen Regierungen der
EU niemals an einen solch großen Wurf wagen. Noch niemals wurde ein
Vertragsentwurf aus dem Europäischen Parlament hinterher von den
Mitgliedstaaten einfach übernommen. Ist das „Grundgesetz“ also
nichts als ein leerer föderalistischer Blütentraum?
Ich
denke, nein. Denn es stimmt zwar, dass bislang alle Vertragsentwürfe
aus dem Europäischen Parlament gescheitert sind – doch wirkungslos
blieb keiner von ihnen. Der Spinelli-Entwurf von 1984 wurde zu einem
großen Teil 1992 im Vertrag von Maastricht verwirklicht. Wichtige
Elemente des Herman-Berichts von 1994 fanden sich in den Verträgen
von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 wieder. Der gescheiterte
Verfassungsvertrag von 2003 erlebte sein Comeback 2007 als Vertrag
von Lissabon. Und auch wenn es diesmal womöglich einige Jahre länger
dauern wird: Mit dem „Grundgesetz für die Europäische Union“
liegt nun erstmals wieder ein ausformulierter Text vor, der konkrete
föderalistische Vorschläge für zukünftige Vertragsreformen macht.
Es würde mich wundern, wenn sich künftige Regierungskonferenzen
nicht an der ein oder anderen Passage daraus bedienen würden.
Bild: By Larry Yuma [Public Domain], via it.wikipedia.org.
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