28 April 2023

Eine Vertragsreform für die Europäische Verteidigungsunion

Von Nicoletta Pirozzi
Soldier saluting in front of the EU flags in Strasbourg
„Wenn es die Mitgliedstaaten mit dem Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion ernst meinen, ist eine Vertragsreform unumgänglich.“

Der russische Angriff auf die Ukraine war ein Wendepunkt für die europäische Sicherheit und veranlasste die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zu wichtigen Schritten im Verteidigungsbereich. Die EU beschloss, die ukrainische Regierung über die Europäische Friedensfazilität mit Waffen und Munition im Wert von insgesamt 3,6 Milliarden Euro zu unterstützen, Deutschland stockte seinen Verteidigungshaushalt um 100 Milliarden Euro auf, Dänemark schloss sich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) an, Finnland trat der NATO bei und Schweden ist bereit, ihm bald zu folgen. Die Zeit scheint reif für mutige Entscheidungen zur europäischen Verteidigung, bei denen auch eine Reform der bestehenden rechtlichen Bestimmungen in Betracht gezogen werden muss.

Das Ziel einer glaubwürdigen Verteidigungsunion

Um zu bestimmen, welche Vertragsänderungen notwendig sind, müssen wir erst klären, welches Ziel die Union und die Mitgliedstaaten erreichen wollen. Ausgehend von den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas muss Europa „unabhängiger werden und eine Fähigkeit verbessern, sich in entscheidenden Bereichen selbst zu versorgen“, wozu auch Sicherheit und Verteidigung gehören. In den letzten Jahren wurde das Ziel, eine Europäische Verteidigungsunion aufzubauen, sowohl vom Europäischen Parlament als auch von der Europäischen Kommission formuliert.

Aber was bedeutet das konkret? In dieser Hinsicht ist die französisch-britische Erklärung von St. Malo (1998) immer noch gültig, die auf die Unfähigkeit der EU reagierte, eine wirksame Antwort auf die Balkankriege zu finden, und als Vorstufe zur Operationalisierung der GSVP betrachtet werden kann. Darin heißt es: „Die EU muss über die Fähigkeit zu autonomem Handeln verfügen, gestützt auf glaubwürdige militärische Kräfte, die Mittel, um deren Einsatz zu beschließen, und die Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren.“

Fünfundzwanzig Jahre später ist der Krieg auf europäischen Boden zurückgekehrt. Es ist daher eine Bestandsaufnahme nötig, was uns auf dem Weg zu diesen Zielen noch fehlt, um so die notwendigen Maßnahmen für die Zukunft planen zu können.

Regeln, Einschränkungen – und mögliche Reformen

Der Vertrag über die Europäische Union (Art. 24 und 42 EUV) betrachtet die GSVP, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, zu Recht als integralen Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Eine künftige Europäische Verteidigungsunion kann in der Tat nicht von einer funktionierenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik abgekoppelt werden. Hierfür ist mindestens eine Überarbeitung der bestehenden Bestimmungen nötig, um die Befugnisse der Hohen Vertreter:in/Vizepräsident:in der Europäischen Kommission auszuweiten und Anreize für Formen differenzierter Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, damit die EU die politische Initiative der gemeinsamen Institutionen und derjenigen Länder umsetzen kann, die bereit und in der Lage sind, in wichtigen außenpolitischen Fragen voranzugehen.

Bisher werden wirksame und schnelle Maßnahmen auch durch die Bestimmungen des Vertrags (Art. 31 und 42 EUV) behindert, die im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Einstimmigkeit als Entscheidungsregel vorschreiben. Leider hat die Einstimmigkeit sehr oft dazu geführt, dass die EU erst spät oder in suboptimaler Weise auf Krisen und Konflikte reagierte, von Nordafrika bis zum Balkan und darüber hinaus.

Es gibt deshalb wachsenden Druck von Seiten des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, aber auch wichtiger Mitgliedstaaten, die Anwendung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auf Schlüsselbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik auszudehnen, zum Beispiel auf Sanktionen und zivile Missionen. Angesichts der bestehenden nationalen Interessen ist es vielleicht zu ehrgeizig, die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auch für Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen vorzuschlagen. Es könnte sich jedoch lohnen, Formen einer Abstimmung mit superqualifizierter Mehrheit oder die Möglichkeit zu prüfen, dass sich ein Mitgliedstaat der Stimme enthalten kann, ohne die Annahme eines Beschlusses zu verhindern.

Demokratische Verantwortung und ein gemeinsames Budget

Um eine Europäische Verteidigungsunion aufzubauen, müssen wir außerdem eine demokratische Verantwortung für Entscheidungen im Militär- und Verteidigungsbereich sicherstellen. Dies kann nicht allein durch die parlamentarische Kontrolle der Regierungen auf nationaler Ebene geschehen, sondern erfordert stärkere Informations- und Konsultationsbefugnisse des Europäischen Parlaments, als sie derzeit in Art. 36 EUV vorgesehen sind. Die wirksamste Kompetenz des Europäischen Parlaments, nämlich die Haushaltskompetenz, sollte auch auf Militär- und Verteidigungsfragen ausgedehnt werden.

Dies bedeutet, die operativen Ausgaben für militärische Missionen in den gemeinsamen Haushalt aufzunehmen, was derzeit durch den Vertrag (Art. 41 EUV) untersagt ist. Eine solche Reform würde auch eine gerechtere und ausgewogenere Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten begünstigen. Seit dem Beginn der GSVP Anfang der 2000er Jahre hat das Verbot, militärische und verteidigungspolitische Operationen aus dem gemeinsamen Haushalt zu finanzieren, dazu geführt, dass die aktiveren Mitgliedstaaten, die sich mit Personal und Material an EU-Missionen beteiligen, am Ende auch diejenigen sind, die mehr zahlen – gemäß dem Grundsatz, dass derjenige die Kosten trägt, bei dem sie anfallen. Außerdem stellt Art. 41 EUV de facto ein Hindernis für die zivil-militärische Zusammenarbeit dar, da zivile und militärische Missionen nach unterschiedlichen Verfahren finanziert werden.

Schritte zu einer neuen europäischen Verteidigungsarchitektur

Das eigentliche Ziel ist es, die EU in die Lage zu versetzen, dass sie rechtzeitig und wirksam auf Konflikte und Krisen reagieren kann, auch auf dem europäischen Kontinent. Bis zur Schaffung einer so genannten europäischen Armee, wie auch immer diese aussehen mag, bedeutet dies, dass die europäische Verteidigungsarchitektur rationalisiert werden muss und eine klare Befehlskette für die Mobilisierung der nationalen europäischen Streitkräfte erforderlich ist.

Was wir brauchen, ist eine politische Autorität (zum Beispiel einen europäischen Verteidigungsministerrat), ein vollwertiges Brüsseler Hauptquartier für militärische Operationen (nicht nur für nicht-exekutive Missionen) sowie nationale Militärkontingente, die auf Abruf von den EU-Institutionen eingesetzt werden können. In diesem Rahmen ist der EU-Militärausschuss eindeutig in der Lage, wie ein:e nationale Generalstabschef:in zu funktionieren. Er könnte wichtige strategische Entscheidungen treffen und dabei auf die Unterstützung des EU-Militärstabs zurückgreifen. Die Europäische Verteidigungsagentur wiederum sollte in eine europäische Rüstungsagentur weiterentwickelt werden.

Ein effizientere Beschaffung

Durch eine solche Rationalisierung der Gesamtarchitektur könnte es der EU ermöglichen ihre derzeitigen Unklarheiten und Ineffizienzen hinsichtlich der Föderung von Forschung, Entwicklung und Beschaffung im Verteidigungsbereich zu überwinden. Tatsächlich erfolgen die Verteidigungsinvestitionen der Europäischen Kommission (GD DEFIS) derzeit nach einer reinen Marktlogik, mit dem Ziel, das volle Potenzial des EU-Binnenmarktes zu erschließen. 

Der Verteidigungsmarkt ist jedoch kein freier Markt und wird es auch nie sein: Entscheidungen über Forschung, Entwicklung und Beschaffung von Verteidigungsgütern sollen unter Berücksichtigung politischer und strategischer Erwägungen erfolgen, was mit der derzeitigen institutionellen Architektur nur schwer möglich ist. Eine umfassende Reform, die für die EU eine vollständige verteidigungspolitische und militärische Befehlskette einführt, mit einer jeweils angemessenen Rolle für die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, würde die EU endlich in die Lage versetzen, strategisch in die Verteidigung zu investieren.

Blick nach vorn

Die Regeln zu ändern und dafür auch die EU-Verträge zu überarbeiten, insbesondere in einem sensiblen Bereich wie der Verteidigung, ist nicht einfach. Im vergangenen Jahr forderte das Europäische Parlament in einer Resolution den Europäischen Rat auf, einen Vertragsreformprozess einzuleiten, der auch die Übertragung von mehr verteidigungspolitischen Befugnissen an die Union beinhalten sollte. Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments hat seitdem weiter an möglichen Vertragsänderungen gearbeitet. Während einige Hauptstädte wie Paris und Berlin eine Überarbeitung der derzeitigen Bestimmungen unterstützen, hat sich eine Gruppe von dreizehn Mitgliedstaaten deutlich gegen eine Vertragsänderung ausgesprochen.

Eine Vertragsreform ist jedoch unausweichlich, wenn die europäischen Mitgliedstaaten es mit dem Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion ernst meinen und die EU mit der notwendigen militärischen Macht ausstatten wollen, um ihre Bürger:innen zu schützen, ihrer Nachbarschaft angemessene Sicherheitsgarantien zu bieten und eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber ihren potenziellen Gegnern auszuüben. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die Debatte noch dringlicher gemacht. In den vergangenen Monaten hat die EU erkannt, wie schwierig es ist, nach den geltenden Regeln zu handeln, wenn zum Beispiel ein Land wie Ungarn beschließt, Entscheidungen über Sanktionen zu blockieren, obwohl alle anderen Länder ihnen zugestimmt haben.

Im Hinblick auf die Europawahlen im nächsten Jahr sollten alle proeuropäischen politischen Kräfte die notwendige Vertragsreform in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen, um die Konferenz zur Zukunft Europas optimal zu nutzen und die nächste Legislaturperiode zu einer echten verfassungsgebenden Phase für die EU zu machen.

Portrait Nicoletta Pirozzi

Nicoletta Pirozzi ist Leiterin des Programms „EU, Politik und Institutionen“ und Managerin für institutionelle Beziehungen am Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rom.


Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch als ein IAI Commentary auf der Website des Istituto Affari Internazionali.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: EU-Flaggen in Straßburg: © European Union 2014 / European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt Nicoletta Pirozzi: privat [alle Rechte vorbehalten].

A Treaty change for the European Defence Union

By Nicoletta Pirozzi
Soldier saluting in front of the EU flags in Strasbourg
“If European member states are serious about building a European Defence Union, a Treaty reform is inescapable.”

The Russian aggression against Ukraine was a turning point for European security and led the European Union and its member states to take important steps in the field of defence. The EU decided to use common funding to equip the Ukrainian government with arms and ammunition through the European Peace Facility for a total of 3.6 billion euro, Germany allocated additional 100 billion euro to its defence budget, Denmark joined the Common Security and Defence Policy (CSDP), Finland entered NATO and Sweden is willing to follow it soon. Time seems to be ripe for bold decisions on European defence, which would also need to consider a reform of existing provisions.

The aim of a credible Defence Union

To define which Treaty changes are necessary, we need to clarify what is the objective that the Union and the member states would want to achieve first. Based on the indications from the Conference on the Future of Europe, there is a need for Europe “to be more independent and better able to provide for itself in vital areas”, including security and defence. In recent years, the aim to build a European Defence Union has been spelt out by both the European Parliament and the European Commission

But what does it mean concretely? In this regard, the Franco-British St. Malo Declaration (1998), which can be considered as the preliminary step towards the operationalisation of the CSDP following the failure of the EU to respond effectively to the Balkan wars, is still valid. In fact, it reads that “the EU must have the capacity for autonomous action, backed up by credible military forces, the means to decide to use them, and a readiness to do so, in order to respond to international crises”.

Twenty-five years later, war has come back on European soil. It is thus crucial to assess where we stand and what we miss on the way to meeting this goal in order to plan the necessary actions for the future.

Provisions, constraints – and possible reforms

The Treaty on European Union (arts. 24 and 42 TEU) correctly considers the common security and defence policy, including the gradual framing of a common defence, as an integral part of the common foreign and security policy. A future European Defence Union cannot indeed be decoupled from a functioning Common Foreign and Security Policy. This requires, at a minimum, revising existing provisions by expanding the powers of the High Representative/Vice President of the European Commission and incentivising forms of differentiated coordination among member states, with a view to allowing the EU to implement the political initiative of common institutions and those countries that are willing and able to act on key foreign policy matters.

Effective and timely actions have been impeded so far also by the provisions of the Treaty (arts. 31 and 42 TEU) that prescribe unanimity as the decision-making rule in the field of foreign, security and defence policy. Unfortunately, unanimity has very often led to late or sub-optimal responses to crises and conflicts, from Northern Africa to the Balkans and beyond.

Therefore, there is growing pressure from the European Parliament and the European Commission, but also by key member states, to expand the application of the qualified majority voting (QMV) to key areas of foreign and security policy, for example sanctions and civilian missions. It is maybe overambitious to propose the adoption of QMV also for decisions having military or defence implications, given the interests at stake at the national level. However, it might be worth exploring forms of enhanced QMV or the possibility for one member state to abstain without impeding the adoption of a decision.

Democratic accountability and a common budget

Moreover, if we want to build a European Defence Union, we shall ensure the democratic accountability of decisions in the military and defence domain. This cannot be done solely through the parliamentary oversight over governments at the national level, but requires the reinforcement of the information and consultation powers of the European Parliament as they are provided for in art. 36 TEU. The most effective power of the European Parliament, namely the budgetary power, should also be expanded to military and defence matters.

This means including in the common budget the operating expenditure of military missions, which is currently forbidden by the Treaty (art. 41 TEU). Such a reform would also enhance a more fair and balanced burden sharing among member states. Since the CSDP became operational in the early 2000s, we have learnt that the impossibility of financing military and defence operations through the common budget implies that the more active member states, those that participate in EU missions with men and assets, are also those that pay more, in accordance with the principle “costs lie where they fall”. Moreover, art. 41 TEU de facto is an obstacle to civilian-military cooperation, since civilian and military missions are financed according to different procedures.

The steps toward a new European defence architecture

The final aim is that the EU should be able to respond in a timely and effective way to conflicts and crises, including in the European continent. Pending the creation of a so-called European army, whatever it may look like, this means rationalising the European defence architecture and rely on a clear chain of command to mobilise national European forces.

What we need is a political authority – for example a Council of European Defence Ministers, a fully-fledged headquarters in Brussels for military operations – not only for non-executive missions, and national military contingents that are on call to be deployed by EU authorities. In this framework, the EU Military Committee is clearly fully qualified to function as if it was a national Chief of Defence. It could take crucial strategic decisions, while availing itself of the support of the EU Military Staff. And the European Defence Agency should be turned into a European armaments agency.

A more efficient procurement

Rationalising the overall architecture would allow the EU to overcome its current ambiguities and inefficiencies regarding European support to R&D and procurement in the field of defence. In fact, defence investments by the European Commission (DG DEFIS) are currently made in a purely market logic, in accordance with its role of unlocking the full potential of the EU single market.

But the defence market is not, and will never be, a free market: defence R&D and procurement decisions are done taking into account political and strategic considerations, which the current institutional architecture struggles to do. An overall reform which establishes a full European defence political and military chain of command, with a correctly balanced role for the European Commission, for member states and for the European Parliament, would finally enable the EU to invest strategically in defence.

Looking ahead

Changing the rules also through an amendment of the Treaties, especially in a sensitive field such as defence, is no easy matter. Last year, the European Parliament adopted a resolution calling on the European Council to start the process of revising the EU Treaties, which would also include giving more powers to the Union in defence matters. The European Parliament’s Committee on Constitutional Affairs has since continued to work on the possible changes. While some capitals like Paris and Berlin would indeed favour a revision of the current provisions, a group of thirteen member states have clearly declared their opposition to Treaty change.

A Treaty reform, however, is inescapable if European member states are serious about building a European Defence Union and equipping the EU with the necessary military might to protect its citizens, provide its neighbourhood with adequate security guarantees and exercise a credible deterrence against its potential adversaries. Russia’s war on Ukraine has made the debate more pressing. During the past months, the EU has realised how difficult it is to act according to the current rules, for example if a country like Hungary decides to block decisions on sanctions even if all other countries have agreed on them.

In the wake of next year’s European elections, all pro-European political forces should place the necessary reform of the Treaties at the core of their electoral campaign, with a view to making the most of the Conference on the Future of Europe and turning the next legislature into a real constituent phase for the EU.

Portrait Nicoletta Pirozzi

Nicoletta Pirozzi is Head of the Programme “EU, politics and institutions” and Institutional Relations Manager at the Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rome.


This article was first published as an IAI commentary on the website of the Istituto Affari Internazionali.


Pictures: EU flags in Strasbourg: © European Union 2014 / European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; portrait Nicoletta Pirozzi: private [all rights reserved].

25 April 2023

Schengen im Patt: Zwischen nationalen Reflexen und notwendiger Reform

Von Daniel Schade
Closed border between Austria and Germany during the COVID-19 pandemic
„Die Fragmentierung des Schengen-Raums und die anhaltende Nichtanwendung geltenden EU-Rechts machen deutlich, dass eine Schengen-Reform überfällig ist.“

Die offenen Binnengrenzen innerhalb der Europäischen Union sind eine der sichtbarsten Errungenschaften der europäischen Integration. Ermöglicht werden sie durch den sogenannten Schengen-Raum und die ihm zugrunde liegende Gesetzgebung. Im Normalfall ist der Schengen-Raum nur durch die weitgehende Unsichtbarkeit der europäischen Grenzen erfahrbar. In den letzten Jahren können Reisende jedoch vermehrt in eigentlich längst abgeschafft geglaubte Grenzkontrollen geraten – und müssen so erleben, wie wichtig die Innovation Schengen für das europäische Zusammenwachen über Grenzen hinweg ist.

Die fast permanente Wiederkehr eigentlich längst abgeschaffter Grenzkontrollen in Teilen des Schengen-Raums begann 2015 im Zuge der sogenannten Migrationskrise. Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie war die Reisefreiheit dann an einem Großteil der Schengen-Grenzen eingeschränkt. Inzwischen ist zwar wieder mehr Normalität in den Raum der offenen Grenzen eingekehrt, aber einige Grenzkontrollen, die so im Wesentlichen 2015 von sechs Staaten eingeführt und seither nicht wieder aufgehoben wurden, bestehen bis heute fort. Deutschland, im Zentrum der EU gelegen und rhetorisch stets für die europäische Integration eintretend, ist dabei einer der Staaten, die mit Grenzkontrollen, insbesondere an der Grenze zu Österreich, bereits seit Längerem sowohl gegen den Geist als auch gegen das geltende Recht des Schengen-Raums verstoßen.

Es geht bei Schengen auch um die Identität der EU

Dieser Beitrag soll einen Überblick über die aktuellen und die ihnen zugrundeliegenden strukturellen Probleme des Schengen-Raums geben und aufzeigen, warum eine Reform, die diese aus der Welt schaffen würde, politisch unwahrscheinlich ist. Der Schengen-Raum steht dabei letztlich exemplarisch für aktuelle verfassungspolitische Debatten innerhalb der EU und damit verbundene Kernfragen nach der sogenannten Finalität des europäischen Integrationsprozesses. Es geht bei Schengen also auch um die Auseinandersetzung über die verfassungsrechtliche Identität der EU und die Frage, in welche Art von politischem System, sei es föderal, konföderal oder etwas ganz anderes, sich diese entwickeln soll.

Im nächsten Abschnitt wird kurz erläutert, wie der Schengen-Raum funktioniert und welche Spannungen ihm zugrunde liegen. Anschließend wird auf die zunehmend politische Frage der Schengen-Mitgliedschaft eingegangen, um dann die Kernproblematik des immer hohleren Versprechens der offenen Binnengrenzen zu erläutern. Wie sich zeigt, wäre eine grundlegende Reform Schengens mit der Übertragung weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene zwar notwendig, ist aber derzeit politisch nicht durchsetzbar.

Schengen – eine Einführung

Wie im gesamten Prozess der europäischen Integration besteht auch für den Schengen-Raum ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit supranationaler europäischer Regelungen und dem Wunsch der einzelnen Mitgliedstaaten, möglichst viele Kompetenzen auf nationaler Ebene zu behalten. Genau wie in anderen europäischen Politikfeldern können sich die Vorteile des Schengen-Raums nur dann voll entfalten, wenn die Regeln überall einheitlich sind und gleichermaßen umgesetzt werden. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Entscheidungskompetenzen abgeben müssen, um dies zu ermöglichen.

Im Hinblick auf den Schengen-Raum wird dieses Spannungsverhältnis besonders deutlich. Einerseits geht es hier um zentrale Aspekte von Staatlichkeit. Letztlich sind die Territorialität und die Möglichkeit der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Öffnung der EU-Binnengrenzen betroffen. Andererseits ist Schengen essenziell für das Gelingen des europäischen Binnenmarktes und damit für eine der Kernpolitiken der Europäischen Union. So erleichtern offene Grenzen nicht nur den grenzüberschreitenden Warenaustausch innerhalb des EU-Binnenmarktes, sondern garantieren auch das reibungslose Funktionieren der Personenfreizügigkeit, also des grenzüberschreitenden Lebens und Arbeitens in der EU.

Zwischen supranationaler Regelung und nationaler Souveränität

In der derzeitigen Ausgestaltung des Schengen-Raums finden sich somit beide hier diskutierten Perspektiven wieder, also die gleichzeitige supranationale Regelung und die weitestgehende Wahrung nationaler Souveränität in diesem Kernbereich. So schafft der Schengen-Raum einerseits ein System offener Binnengrenzen durch einen möglichst einheitlichen Schutz der Schengen-Außengrenzen. Zudem soll die Möglichkeit von stichprobenartigen Kontrollen  durch Polizei- und Grenzschutzbehörden im Bereich der Schengen-Binnengrenzen die öffentliche Sicherheit gewährleisten.

Um die beschriebene supranationale Integration und Einschränkung der nationalen Kontrollbefugnisse zu ermöglichen, haben die Mitgliedstaaten auf der anderen Seite aber auch weitreichende Kompetenzen behalten, um in besonderen Situationen die eigenen Grenzen zumindest vorübergehend und weitgehend autonom wieder zu kontrollieren. Ein zumindest formaler Ausgleich zwischen beiden Perspektiven wurde dadurch gefunden, dass solche Kontrollen nicht länger als sechs Monate durchgeführt werden sollen.

Der Schengen-Raum ist nicht mit der EU identisch

Die besondere Ausprägung dieses Spannungsverhältnisses im Schengen-Raum dürfte auch der Grund dafür sein, dass dieser Raum auch hinsichtlich seiner Geschichte und Mitgliedschaft eine Sonderstellung innerhalb der Europäischen Union einnimmt. So wurde er seit 1985 zunächst außerhalb des Vertragswerks der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen und erst nach und nach in die reguläre EU-Politik überführt. Heute unterliegt er jedoch, wie ein Großteil der EU-Politiken, dem sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, bei dem sowohl der Rat der EU als auch das Europäische Parlament Änderungen mit Mehrheit zustimmen müssen.

Die Besonderheit von Schengen besteht aber auch darin, dass seine Mitgliedschaft nicht mit der Mitgliedschaft in der EU identisch ist. Ähnlich wie die Eurozone ist Schengen damit Ausdruck der sogenannten differenzierten Integration. Zum einen sind nicht alle EU-Staaten Mitglieder des Schengen-Raums, zum anderen nehmen  auch Nicht-EU-Staaten am Schengen-Raum teil. Innerhalb der EU lassen sich Staaten unterscheiden, die aufgrund ihrer Besonderheiten nicht Mitglied Schengens sein können oder wollen, wie z. B. die Republik Irland aufgrund ihrer gemeinsamen offenen Grenze mit Nordirland, und andererseits Staaten wie Rumänien und Bulgarien, die zwar dem Schengen-Raum beitreten wollen, dies jedoch derzeit nicht können.

„Bis hierher und nicht weiter“: Politisierte Schengen-Mitgliedschaft

Der differenzierte Charakter der Schengen-Integration bringt es mit sich, dass Fragen des Beitritts politisch determiniert sind. So gibt es zwar verbindliche rechtliche und politische Regeln, anhand derer die Bereitschaft eines Staates zur Mitgliedschaft im Schengen-Raum festgestellt werden kann. Die Aufnahme in den Schengen-Raum ist jedoch – ähnlich wie die Mitgliedschaft in der EU als solche – letztlich eine politische Frage und muss von allen bestehenden Mitgliedern befürwortet werden. Dies hat dazu geführt, dass die Erweiterung des Schengen-Raums um weitere EU-Staaten nur schleppend vorankommt, da die Frage der Erweiterung des Schengen-Raums ebenso wie die Erweiterung der EU in nationalen Debatten zunehmend politisch aufgeladen wird.

Zwar ist es gelungen, mit dem Beitritt Kroatiens zum 1. Januar 2023 den Schengen-Raum um einen Staat zu erweitern, doch Rumänien und Bulgarien, die bereits seit 2007 und damit länger als Kroatien EU-Mitglieder sind, bleiben außen vor. Zwar hat die Europäische Kommission beiden Ländern die Beitrittsreife bescheinigt, doch konnte dieses Argument nicht alle Mitgliedstaaten dafür überzeugen, sie gemeinsam mit Kroatien in den Schengen-Raum aufzunehmen.

Erhebliches Konfliktpotenzial

Die tatsächliche Entscheidung Ende 2022, bei der die Niederlande und Österreich als einzige Staaten gegen die Aufnahme stimmten, hatte wohl mehr mit der innenpolitischen Debatte zu tun als mit inhaltlichen Gründen, die gegen einen Beitritt sprächen. Zwar wurde die Ablehnung Österreichs mit der unzureichenden Bekämpfung irregulärer Migration in beiden Ländern begründet, doch entspricht dieses Argument nicht der Realität der europäischen Migrationsströme.

Angesichts der nationalen Reaktionen z. B. in Österreich sowie in Rumänien zeigt sich, dass die Frage des Schengen-Beitritts in der heutigen EU bereits ein erhebliches politisches Konfliktpotenzial birgt. Wie der folgende Abschnitt zeigt, ist die Beitrittsfrage jedoch zweitrangig gegenüber der fortgesetzten Aushöhlung der Schengener Errungenschaften durch eine Gruppe von Ländern, zu der wiederum Österreich, aber auch Deutschland gehört.

Offene Grenzen nur auf dem Papier? Anspannung im Schengenraum

Die Blockade der Erweiterung des Schengen-Raums ist für die betroffenen Staaten und die Einheitlichkeit der europäischen Personenfreizügigkeit zwar ärgerlich, aber derzeit nur das zweitgrößte Problem für den Schengen-Raum. Als zentrales Risiko für diesen Kernaspekt der europäischen Integration hat sich die systematische Aushöhlung der Schengen-Regeln durch einzelne Mitglieder seit der sogenannten Migrationskrise im Jahr 2015 herausgestellt. So führen sechs Staaten – Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Frankreich – seit nunmehr über sieben Jahren mehr oder weniger permanent Grenzkontrollen zu einigen oder allen Nachbarstaaten durch.

Begründet wird dies zumeist mit irregulärer Migration und dem unzureichenden Schutz der Schengen-Außengrenzen. Dabei halten sich diese Staaten zumindest formal an die sechsmonatige Befristung für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, unterlaufen diese aber, indem sie die Grenzkontrollen nach sechs Monaten einfach erneut einführen. Darüber hinaus wird berichtet, dass auch unabhängig von der formellen Wiedereinführung von Grenzkontrollen an einigen Binnengrenzen de facto Grenzkontrollen durchgeführt werden.

Die Kommission blieb als Hüterin der Verträge untätig

Obwohl die Europäische Kommission in ihrer stilisierten Rolle als „Hüterin der EU-Verträge“ diese Vorgänge hätte rügen und letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof überprüfen lassen können, ist dies nicht geschehen. Dies dürfte politische Gründe haben, da ein solches Vorgehen zentrale Mitgliedstaaten in einem politisch sensiblen und im Rahmen der sogenannten Migrationskrise öffentlichkeitswirksamen Politikfeld vor den Kopf gestoßen hätte. Zudem wäre das Risiko zu groß, dass eine gerichtliche Entscheidung die betroffenen Staaten aufgrund der Sensibilität der Grenz- und Migrationsfrage nur zu einem begrenzten Einlenken führen würde und damit die Fragilität des Schengen-Raums weiter erhöhen könnte.

Die von Grenzkontrollen negativ betroffenen Mitgliedstaaten beklagen diese Aushöhlung des Schengenraums zwar öffentlichkeitswirksam, schrecken aber ebenfalls davor zurück, die Aufrechterhaltung von Grenzkontrollen gerichtlich überprüfen zu lassen. Dies mag in einigen Fällen, etwa Österreich, daran liegen, dass die von Grenzkontrollen negativ betroffenen Staaten selbst von Grenzkontrollen Gebrauch machen. Und auch Staaten, die derzeit keine Grenzkontrollen durchführen, wollen sich diese Option gegebenenfalls für die Zukunft erhalten und vermeiden, dass andere Staaten diese dann ihrerseits quasi als „Vergeltungsmaßnahme“ vor Gericht überprüfen lassen und vermutlich zu Fall bringen könnten.

Ein EuGH-Urteil wird ignoriert

Somit hing eine Überprüfung der langjährigen Praxis der oben genannten Mitgliedstaaten an einzelnen Bürger:innen, die persönlich von den Grenzkontrollen betroffen waren. In der Folge erklärte der Europäische Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren im April 2022 die bestehende Praxis zumindest für Österreich für rechtswidrig. Das Gericht entschied, dass die Sechsmonatsfrist als Höchstfrist eng auszulegen sei und daher nicht immer wieder mit derselben Begründung neu angeordnet werden könne. Nur bei einer andersartigen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit könnten die Mitgliedstaaten nach sechs Monaten wieder Grenzkontrollen einführen.

Das Urteil hat jedoch bis heute nicht dazu geführt, dass die betroffenen Staaten die Grenzkontrollen wieder abgeschafft hätten. Wie bisher ordnen sie diese nach jeweils sechs Monaten wieder an. Zunächst wurde das Urteil, das formal nur Österreich betraf, ignoriert, später wurde die Strategie geändert und versucht, die Verlängerungen mit leicht veränderten Begründungen zumindest oberflächlich urteilskonform zu gestalten.

So wird etwa die letzte Verlängerung der deutschen Grenzkontrollen nach Österreich bis November 2023 formal durch Gründe wie die Aktivität feindlicher Geheimdienste begründet, im öffentlichen Diskurs jedoch wie seit 2015 der Fall weiterhin durch das Risiko irregulärer Migration gerechtfertigt. Es bleibt somit dabei, dass diese Verstetigung der Grenzkontrollen durch Deutschland und andere Staaten in eklatantem Widerspruch zum Geist des Schengen-Raums steht und dessen Errungenschaften akut gefährdet.

Die zahlreichen Fallstricke einer Schengen-Reform

Die derzeitige Fragmentierung des Schengen-Raums und die anhaltende Nichtanwendung geltenden EU-Rechts machen deutlich, dass eine Schengen-Reform überfällig ist. Besonders sichtbar wurde dies auch während der Covid-19-Pandemie, bei der sich zeigte, dass der Schengen-Raum auf solche Ausnahmesituationen nicht vorbereitet ist.

Zwar waren die im Rahmen der Pandemie weit verbreiteten zusätzlichen Grenzkontrollen nur von kurzer Dauer, doch hatten sie auch erhebliche negative Auswirkungen auch zentrale Aspekte des Binnenmarktes, die während der Pandemie weiterhin erforderlich waren, wie z. B. den Warenverkehr. Die Tatsache, dass zur Lösung der durch die zusätzlichen Grenzkontrollen entstandenen Probleme häufig improvisiert und ad hoc koordiniert  werden musste, zeigt auch, dass weitere Integrationsschritte in diesem Bereich notwendig sind.

Tatsächlich wurden bereits mehrere Versuche unternommen, den Schengener Grenzkodex, der die rechtliche Grundlage des Schengen-Raums bildet, zu reformieren. Dies hat sich jedoch insbesondere aufgrund des – durch die politische Realität und Wahrnehmung der Mitgliedstaaten hergestellten – Zusammenhangs zur EU-Migrationspolitik als besonders schwierig erwiesen.

Der Reformvorschlag der Kommission löst die Spannung nicht auf

Auch der Gesetzgebungsprozess zum Ende 2021 vorgelegten Vorschlag der Europäischen Kommission zur Reform des Grenzkodex verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit weiterer Integrationsschritte und dem nationalen Wunsch, letztinstanzlich die Kontrolle über die eigenen Grenzen zu behalten. So würden mit der Umsetzung des ursprünglichen Vorschlags verschiedene Krisenbewältigungsmechanismen, insbesondere zur Koordination zwischen Schengen-Mitgliedstaaten, die sich während der Covid-19-Pandemie bewährt haben, formalisiert und verstetigt, was einen weiteren Integrationsschritt bedeuten würde.

Gleichzeitig würde der Vorschlag einzelnen Staaten aber auch die Möglichkeit einräumen, unter bestimmten Umständen de facto Grenzkontrollen auf unbestimmte Zeit wieder einzuführen. Dies würde also die bestehende noch regelwidrige Praxis legitimieren und aufgrund des Risikos einer dauerhaften Fragmentierung des Schengen-Raums einen Rückschritt für die Schengen-Integration darstellen.

Keine Lösung in Sicht

Die Reaktion der Mitgliedstaaten auf diesen Vorschlag unterstreicht diesen Widerspruch noch einmal. So wollen sie einerseits die Koordinationsmechanismen stärken, andererseits aber ihre Entscheidungsautonomie über den Vorschlag der Kommission hinaus erhalten. Hingegen hat das Europäische Parlament bereits bei früheren Reformvorschlägen gefordert, möglichst rasch zu einem System tatsächlich weitgehend offener Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raums zurückzukehren.

Angesichts dieser konträren Positionen ist es wahrscheinlich, dass der der Schengen-Integration zugrunde liegende Widerspruch auch in der nahen bis mittleren Zukunft nicht durch Verhandlungen aufgelöst werden kann. Damit wird Schengen wohl auf absehbare Zeit ein Beispiel für ein europäisches Politikfeld bleiben, in dem der Anspruch in der Realität nicht einlösbar ist.


Daniel Schade ist Assistant Professor für European Union Studies an der Universität Leiden.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Bilder: Geschlossener deutsch-österreichischer Grenzübergang während der Covid-19-Pandemie: Wald-Burger8 [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Porträt Daniel Schade: Das Progressive Zentrum [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

Schengen in stalemate: Between national reflexes and necessary reform

By Daniel Schade
Closed border between Austria and Germany during the COVID-19 pandemic
“The current fragmentation of the Schengen area and the persistent failure to apply existing EU law make it clear that Schengen reform is overdue.”

The open internal borders of the European Union are one of the most visible achievements of European integration. This is made possible by the so-called Schengen area and the legislation on which it is based. In normal times, Schengen is experienced through the very fact that national borders are virtually invisible within it. In recent years, however, travellers have increasingly encountered border controls that were technically abolished long ago – and are thus experiencing the importance of Schengen for European cross-border unity through its absence.

The almost permanent return of long-abolished border controls in parts of the Schengen area began in 2015 over the course of the so-called migration crisis. At the height of the COVID-19 pandemic, such border controls peaked as freedom of travel was restricted at most internal Schengen borders. Since then, a semblance of normality has returned. However, some border controls, and particularly those introduced by six states in 2015, remain in place today. One of these states is Germany, which is located in the centre of the EU and whose leaders are always keen to advocate for European integration in their rhetoric. However, by maintaining border controls towards Austria, this proponent of European integration is simultaneously one of the states which has violated both the spirit and the law of the Schengen area.

Schengen and European identity

This article provides an overview of Schengen’s current woes and its underlying structural problems. In so doing, it highlights why a reform that would eliminate either is politically unlikely. Here, the politics of the Schengen area are exemplary for current constitutional policy debates within the EU. Schengen thus serves as one of the sites in which conflicts over the constitutional identity of the EU and the question of what kind of political system it should develop into – be it federal, confederal or something entirely different – are fought over.

The next section briefly explores the internal workings of the Schengen area, as well as the tensions which underlie it. It then addresses the increasingly political issue of Schengen membership, before turning to the core problem of an increasingly hollow promise of open internal borders. Finally, it considers why a fundamental reform of Schengen, which would move further competencies to EU-level, is desirable, yet not realistic given Schengen’s underlying political dynamics.

Schengen – an introduction

As for European integration itself, there is a fundamental tension in the Schengen area between the need for supranational European regulations and the desire of individual member states to retain as many competences as possible at the national level. This is since, just like for other EU policy areas, the advantages of the Schengen area can only fully unfold if the rules are uniform everywhere and implemented equally. At the same time, however, this requires the member states to relinquish some of their decision-making competences.

The Schengen area makes this tension particularly visible. On the one hand, core aspects of statehood are at stake. After all, the opening of the EU’s internal borders affects notions of territoriality and the ability to exercise the state’s monopoly on the use of force. On the other hand, Schengen is essential for the success of the European single market which remains one of, if not the core policy of the European Union. Here, open borders not only facilitate the cross-border exchange of goods within the EU’s internal market, but also enable the full and smooth exercise of the free movement of persons, i.e. cross-border living and working in the EU.

Tension between supranational regulation and national sovereignty

The current design of the Schengen area reflects both perspectives discussed here: It is based on a supranational arrangement that preserves national sovereignty as much as possible. Thus, on the one hand, the Schengen area creates a system of open internal borders through the protection of Schengen external borders in the most unified way possible. In addition, the possibility of random spot checks by police and border control authorities in the area of Schengen’s internal borders is intended to allow states to maintain public safety internally.

On the other hand, so as to enable the above supranational integration and limitation of national powers, the member states were allowed to retain far-reaching competences to re-establish controls at their own national borders largely autonomously, if only temporarily and in special circumstances. At least formally, a balance between the two perspectives was thus found on the basis that such controls may not exceed six months.

The Schengen area is not identical to the EU

The high profile nature of Schengen’s internal tensions is probably also the reason why this policy has not been developed in sync with other aspects of European integration and why it still retains a special status related to its membership. The original version of the Schengen area which developed since 1985 was an initiative created outside the treaties of the then European Economic Community. It was then only gradually transformed into a regular EU policy in which the so-called ordinary legislative procedure applies, thus requiring a majority vote in both the Council of the EU and the European Parliament to approve amendments to its underlying legislation.

However, even today, Schengen remains a special EU policy given that its membership is not identical with that of the EU. Like the Eurozone, Schengen is an expression of what is called differentiated integration. On the one hand, not all EU member states are members of the Schengen area; on the other hand, there are some non-EU member states that participate in in it. For the 27 EU countries a distinction can be made between those that cannot and others which do not want to be Schengen members due to their particular characteristics. In the latter case, countries such as the Republic of Ireland do not want to join the Schengen area due to the existing special regime of its common open border with Northern Ireland. Romania and Bulgaria fall into the former category. While both want to join the Schengen area, they are currently unable to do so.

“This far and no further”: The politicisation of Schengen membership

The differentiated character of Schengen integration means that the question of its membership is determined politically. On the one hand, there are binding legal and political rules that can be used to determine a state’s readiness for membership in the Schengen area. More relevantly, however, like membership in the EU itself, admission to the Schengen area is ultimately a political decision and must be approved by all existing members. This has meant that Schengen enlargement has proceeded at a glacial pace as just like for EU enlargement the issue of enlarging Schengen has increasingly become the subject of politically charged debates at the national level.

Although the Schengen area was successfully expanded by one state with Croatia’s accession on 1 January 2023. However, Romania and Bulgaria, which joined the EU in 2007 and thus much earlier than Croatia, remain outside. Although the European Commission has certified that both countries are ready for Schengen accession, this was not to convince all member states to approve them to join Schengen at the same time as Croatia.

Considerable conflict potential

In the relevant vote at the end of 2022, the Netherlands and Austria were the only states to vote against admission. This probably had more to do with domestic political debate in these countries than any substantive concerns against both countries’ accession. Although Austria’s rejection was justified by the insufficient fight against irregular migration in Romania and Bulgaria in public, this argument does not correspond to the reality of European migration flows.

The domestic reaction to this vote both in Austria and in Romania demonstrate the enormous conflict potential related to Schengen membership in today’s EU. However, as the following section will show, accession is only a secondary concern when compared to the even more problematic continued erosion of Schengen achievements by a group of countries, which once more includes Austria, but also Germany.

Open borders only on paper? The tense state of Schengen

Although the blockade of the Schengen enlargement is unfortunate both for the states concerned as well as for the uniform application of the free movement of persons of the EU, it is currently only the second biggest issue facing the Schengen area. Instead, the systematic undermining of the Schengen rules by individual members since the so-called migration crisis in 2015 has emerged as the central risk to this core aspect of European integration. Here six states – Austria, Germany, Denmark, Sweden, Norway, and France – have more or less permanently maintained border controls with some or all of their neighbours for now more than seven years.

The concerned states mainly justify this by citing the risk of irregular migration and the insufficient protection of the Schengen external borders. While the states formally adhere to the six-month time limit for the reintroduction of border controls, they undermine it by simply reintroducing border controls again every six months. Furthermore, it has been reported that de facto border controls are being carried out at some internal borders even without a formal reintroduction of border controls.

The Commission remained inactive as guardian of the treaties

Although the European Commission, in its stylised role as “guardian of the EU Treaties”, could have reprimanded these events and ultimately have them reviewed by the European Court of Justice, it has not done so. There are probably political reasons for this, as such an action would offend central member states in a politically sensitive policy area that has gained high public salience in the context of the so-called migration crisis. In addition, given the sensitivity of the border and migration issue, there is a great risk that the states concerned would not fully comply with a possible court ruling, which would further increase the fragility of the Schengen area.

Although the member states negatively affected by border controls complain about this undermining of the Schengen area in public, they are also reluctant to have the maintenance of border controls reviewed by the courts. In some cases, like Austria, this may be due to the fact that the states negatively affected by border controls make use of border controls themselves. And even countries that do not make use of border controls at present may want to do so in the future. This is since they might worry that other states could then have those border controls reviewed and presumably brought down in court as a kind of “retaliatory measure”.

An ECJ ruling is ignored

Thus, it was left to individual citizens who were personally affected by the border controls to start a review of the long-standing practice of the above-mentioned member states. In a preliminary ruling in April 2022, the European Court of Justice subsequently declared the existing practice unlawful, at least for Austria. The court ruled that the maximum time limit of six months must be interpreted narrowly and therefore border controls could not be ordered on the same grounds time and again. After six months, member states would only be able to reintroduce border controls unilaterally if there was a different threat to public security.

However, despite this ruling, the affected states have not yet abolished their border controls. Instead they but they keep re-introducing them every six months as before. At first, they simply ignored the ruling, which formally only affected Austria in any case. Later, they changed their strategy and tried to make the extensions at least superficially compliant with the ruling by using slightly different justifications.

For example, the latest extension of German border controls to Austria until November 2023 was formally justified with arguments such as the activities of hostile intelligence services. In public discourse, however, the stated reason remains the risk of irregular migration, as it has been since 2015. The continuation of border controls by Germany and other states thus remains in blatant contradiction to the spirit of the Schengen area and acutely endangers its achievements.

The many pitfalls of Schengen reform

The current fragmentation of the Schengen area and the persistent failure to apply existing EU law make it clear that Schengen reform is overdue. This was particularly evident during the Covid-19 pandemic, which showed that the Schengen area is not prepared for such exceptional situations.

Although the additional border controls that became widespread during the pandemic were short-lived, they also had a significant negative impact on key aspects of the Single Market that continued to be necessary during the pandemic, such as the free movement of goods. The fact that many problems created by the additional border controls could only be solved by improvisation and ad hoc coordination also shows that further integration steps are needed in this area.

In fact, several attempts have already been made to reform the Schengen Borders Code, which forms the legal basis of the Schengen area. However, this has proven particularly difficult due to the link to EU migration policy, as established by both political reality and member states’ perception.

The Commission’s reform proposal does not resolve the tension

The most recent proposal by the European Commission to reform the Schengen Borders Code from the end of 2021 once more highlights the tension between the need for further integration and the desire of member states to retain ultimate control over their own borders. In its proposal, the Commission has proposed to formalise and perpetuate various crisis management mechanisms, in particular for coordination between Schengen member states, which proved useful during the Covid-19 pandemic. This would represent a further integration step for the Schengen area.

At the same time, however, the proposal would allow individual states to now reintroduce de facto border controls for an indefinite period under certain circumstances. This would thus legitimise their existing practice and represent a step backwards for Schengen integration, with the risk of permanently fragmenting the Schengen area.

No solution in sight

The reaction of the member states to this proposal underlines this contradiction once again. While they want to strengthen the coordination mechanisms, they also intend to maintain their national decision-making autonomy even beyond the Commission’s proposal. On the other hand, the European Parliament has already demanded in earlier reform proposals to return as soon as possible to a system in which the internal borders within the Schengen area are in fact largely open.

Given these conflicting positions, it is likely that the contradiction underlying Schengen integration will not be resolved through legislative negotiations in the near to medium term. For the foreseeable future, Schengen is thus likely to remain an example of a European policy area in which declared ambitions are not matched by reality.


Daniel Schade is Assistant Professor for European Union Studies at the University of Leiden.

This contribution is part of the thematic forum “Supranational governance between diplomacy and democracy – current debates on EU reform”, published in cooperation with the online magazine Regierungsforschung.de.


Pictures: Closed border between Austria and Germany during the COVID-19 pandemic: Wald-Burger8 [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; portrait Daniel Schade: Das Progressive Zentrum [all rights reserved]; EU flag: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

20 April 2023

Eine Konstitutionalisierung der EU im Zeitalter der Krisen

Von Jonathan White
Meeting room of the European Council
„Statt ein Notfallskript zu entwickeln, ist die Aufgabe, ein ‚normales‘ Regime zu entwerfen, das in der Lage ist, mit extremen Umständen umzugehen.“

Noch niemals waren die Erwartungen an die EU so hoch wie in der volatilen Welt der Gegenwart. Der französische Präsident Emmanuel Macron fordert den Aufbau einer „europäischen Souveränität“, um die europäische Identität zu bewahren, das Schicksal des Kontinents zu gestalten und der Rolle des „bloßen Zeugen bei der dramatischen Entwicklung dieser Welt“ zu entkommen. Visionen von einer selbstbewussteren und autonomeren EU gibt es auch in der Europäischen Kommission. Doch je ehrgeiziger die Ziele sind, desto wichtiger sind die Grundlagen. Verfügt die EU über legitime Institutionen und Herrschaftsgewohnheiten, um diese aktivere Rolle zu unterstützen?

Kritische Bewertungen der EU konzentrieren sich häufig auf ihre Effizienz – verständlicherweise bei einer Organisation, die zum Lösen von Problemen geschaffen wurde. Ob es um wirtschaftspolitische Maßnahmen, das Grenzmanagement, die Impfstoffbeschaffung oder die Außenpolitik geht: Diejenigen, die im Namen der EU handeln, werden nach ihrer Handlungsfähigkeit beurteilt.

Das Modell der Notstandspolitik

Doch das Risiko, etwas nur nach seinen Ergebnissen zu beurteilen, besteht darin, dass man die dazu genutzten Mittel außer Acht lässt. Ein Markenzeichen der EU-Politik des letzten Jahrzehnts war die Bereitschaft der führenden Politiker:innen, sich über rechtliche und politische Beschränkungen hinwegzusetzen, um Dinge zu erreichen. Man sieht, wie Maßnahmen, die über Normen und Regeln hinausgehen, als notwendige Reaktionen auf außergewöhnliche und dringende Bedrohungen rationalisiert werden – das Modell der Notstandspolitik. Manchmal werden dadurch Führungskräfte auf supranationaler Ebene, in den EU-Institutionen oder in Gremien wie der Troika, ermächtigt; manchmal werden staatliche Vertreter:innen in Foren wie der Eurogruppe oder dem Europäischen Rat ermächtigt.

Notmaßnahmen haben ihre Logik und können Ordnung in eine instabile Situation bringen. Aber sie werfen auch verfassungsrechtliche Fragen auf. In solchen Momenten konzentriert sich die Macht immer mehr auf die politischen und technokratischen Exekutivorgane, auf Kosten der Parlamente, Gerichte und der breiten Öffentlichkeit. Sie geht auf Schlüsselfiguren an der Spitze über, die oft informell, undurchsichtig und schnell handeln. Wer genau die Kontrolle hat und welche Kriterien sie bei der Entscheidungsfindung anwenden, ist schwer zu erkennen und anzufechten, während Entscheidungen später nur schwer revidiert werden können.

Zwei strukturelle Merkmale der EU machen sie besonders anfällig für eine solche Ausnahmepolitik. Das erste ist ihre schwache konstitutionelle Struktur. Die Koordinierungsprozesse beruhen eher auf Konventionen als auf kodifizierten Verfahren. Es gibt deshalb nur wenig, was die Exekutivorgane – einzeln oder gemeinsam – davon abhalten könnte, von der üblichen Vorgehensweise abzuweichen. Eine zweite Schwachstelle liegt in der technokratischen Tradition der EU. Für diejenigen, die von einem Problemlösungsethos beseelt sind, ist das Hauptanliegen meist das Erreichen bestimmter Ergebnisse, „whatever it takes“. Der Zweck übertrumpft in der Regel die Mittel.

Braucht die EU ein „Notfallskript“?

Da die EU derzeit auf improvisierte und irreguläre Methoden angewiesen ist, wollen einige ihre Fähigkeit zur Brandbekämpfung stärken. Was die EU nach dieser Auffassung braucht, ist ein vorab vereinbartes Paket von Verfahren für den Umgang mit Ausnahmesituationen – eine vorübergehende Erweiterung der Befugnisse ihrer Institutionen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen, die Wirtschaft in Ordnung zu bringen oder auf eine internationale Krise zu reagieren. Die EU brauche ein Notfallskript, das es ihren Vertreter:innen ermöglicht, schnell und effizient zu handeln und gleichzeitig ihre Rechenschaftspflicht zu wahren.

Doch ein solcher Ausnahmemechanismus könnte die Lage möglicherweise noch verschlimmern. Historisch gesehen beruhen solche Regelungen auf der Vorstellung, dass Notfälle nur von kurzer Dauer sind. Die antike römische Institution der „Diktatur“, die vor allem im Zusammenhang mit Kriegen eingesetzt wurde, ging von der begrenzten Dauer der Feldzugssaison aus. Außergewöhnliche Maßnahmen waren akzeptabel, weil die Umstände, auf die sie abzielten, außergewöhnlich waren.

Notstandsbefugnisse heilen keine langfristigen Pathologien

Heutige Notstände, in der EU und ganz allgemein, entstehen hingegen in der Regel aus langfristigen Pathologien der Politik, des Kapitalismus oder des Klimas und haben deshalb ihnen einen viel längeren Zeithorizont. Wenn es keine natürliche Grenze zwischen normalen und unnormalen Zeiten gibt, besteht die Gefahr, dass man entweder zu kurz und zu oberflächlich auf tiefgreifende Probleme reagiert oder in eine permanente Politik des Notstands gerät.

Allein schon die Existenz von Notstandsbefugnissen ermutigt politische Entscheidungsträger:innen dazu, Probleme einfach laufen zu lassen. Da sie wissen, dass sie sich im Härtefall auf zusätzliche Befugnisse berufen können, haben sie weniger Anreize, unbeliebte Entscheidungen zu treffen und Reformen durchzuführen, die an den Kern der Dinge gehen. Sie haben eine Ausweichmöglichkeit, auf die sie sich verlassen können. Notstandspolitik ist in gewisser Weise immer eine Folge von politischem Versagen, und wenn dieses Versagen durch Ausnahmemaßnahmen übertüncht werden kann, ist es umso leichter, sich darauf einzulassen.

Es geht darum, ein effizientes „normales“ Regime zu entwerfen

Statt ein Notfallskript zu entwickeln, ist die Aufgabe deshalb, ein „normales“ Regime zu entwerfen, das in der Lage ist, mit extremen Umständen umzugehen – auf effiziente, aber auch akzeptable Weise. Ein Ziel sollte dabei sein, die Machtstrukturen zu vereinfachen: den Europäischen Rat, die Eurogruppe und ähnliche Gremien abzuschaffen und der Kommission die Regierungsaufgaben zu übertragen. Eine stärker integrierte transnationale Exekutive wäre weniger anfällig für Informalität und eine Ad-hoc-Konzentration von Macht. Sofern sie immer noch auf willkürliche oder nicht von der Bevölkerung gestützte Mittel zurückgreifen würde, wäre sie eine sichtbarere Zielscheibe für Kritik.

Verbunden sein müsste dies mit einer Stärkung des Europäischen Parlaments. Die Einbettung der Exekutivgewalt in ein parlamentarisches System gibt ihr eine stärkere Basis in der Öffentlichkeit. Eine der Lehren aus Covid-19 ist, dass Länder mit einem starken parlamentarischen System dazu tendierten, mindestens genauso gut zu reagieren wie die Alternativen. Der wichtigste Grundsatz für das Regieren unter extremen Umständen sollte nicht Schnelligkeit, sondern Zustimmung der Regierten sein. Das ist nicht nur demokratischer, sondern erhöht auch die Aussichten auf kurzfristige Einhaltung der Vorschriften und kann die öffentliche Unterstützung für den Strukturwandel stärken, der zur Abwehr künftiger Krisen nötig ist.

Überarbeitung der Verfassungsgrundlagen

Eine solche Umgestaltung der EU wird wahrscheinlich auf viel Widerstand stoßen. Doch anders als bei einem vermeintlich befristeten Notfallskript wäre beim Zeitpunkt ihrer Verabschiedung klar, worum es dabei geht. Sie würde nur gebilligt werden, sofern ihre Bestimmungen als dauerhafte Regelungen und nicht nur als vorübergehende Abweichungen von der Normalität akzeptiert werden.

Eine Konstitutionalisierung in diesem tieferen Sinne würde die Realität widerspiegeln, dass es sich bei den politischen Herausforderungen der Gegenwart nicht um eine Reihe vorübergehender Notfälle handelt, die kurzlebig und außergewöhnlich sind, sondern um dauerhafte Probleme in Politik, Gesellschaft, Klima und Wirtschaft, die es grundsätzlich und nachhaltig anzugehen gilt. Die jüngsten Ereignisse deuten auf eine EU hin, die danach strebt, militärisch und wirtschaftlich durchsetzungsfähiger zu werden – ein souveräner Akteur im Weltgeschehen. Dafür benötigt sie eine Überarbeitung ihrer Verfassungsgrundlagen, die diesem Anspruch gerecht wird.

Portrait Jonathan White

Jonathan White ist Professor für Politikwissenschaft und stellvertretender Leiter des European Institute an der London School of Economics and Political Science (LSE).


Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch auf dem LSE-Blog EUROPP – European Politics and Policy erschienen. Weitere Informationen finden sich in dem dazugehörigen Aufsatz des Autors im Journal of Common Market Studies.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Von der Leyen, Macron, Scholz: Europäische Union, EC Audiovisual Service/Dati Bendo [Lizenz], via Wikimedia Commons; Porträt Jonathan White: privat [alle Rechte vorbehalten].

Constitutionalising the EU in an age of emergencies

By Jonathan White
Meeting room of the European Council
“Instead of devising an emergency script, the task is to design a ‘normal’ regime that is able to handle extreme circumstances.”

In today’s volatile world, the ambitions attached to the EU have never been higher. French President Emmanuel Macron calls for the construction of ‘European sovereignty’ as a way to preserve European identity, shape the continent’s destiny, and escape the role of ‘mere witness of the dramatic evolution of this world’. Visions of a more assertive and autonomous EU abound in the European Commission too. But the grander the ambitions, the more important the foundations. Does the EU have the legitimate institutions and habits of rule to support this more activist role?

Critical assessment of the EU often centres on its effectiveness – understandably for an organisation created to solve problems. For their economic measures, border management, vaccine procurement or foreign policy, those acting in the EU’s name are judged on their capacity to act.

The template of emergency politics

The risk of assessing something by its outcomes is that one downplays how these are attained. A hallmark of EU politics over the last decade has been leaders’ willingness to overstep legal and political constraints in the name of getting things done. One sees actions exceeding norms and rules, rationalised as necessary responses to exceptional and urgent threats – the template of emergency politics. Sometimes this empowers executives at the supranational level, in the EU institutions or things like the Troika; sometimes it empowers state representatives, in forums such as the Eurogroup or European Council.

Emergency measures have their logic and can bring order to an unstable situation. But they also raise constitutional issues. Power in such moments comes to be concentrated ever further on executive institutions, political and technocratic, at the expense of parliaments, courts and wider publics. It passes to key figures at the apex, often acting informally, opaquely and fast. Who precisely is in control, and what criteria they apply to decision-making, becomes difficult to discern and contest, while decisions may be hard to revise later.

Two structural features of the EU make it especially vulnerable to exceptionalism. The first is its soft constitutional structure. Processes of coordination are based on conventions of consultation rather than codification. This means there is little to deter executive agents, singly or collectively, should they seek to depart from procedure. A second vulnerability lies in the EU’s historically technocratic orientation. For those imbued with a problem-solving ethos, achieving certain outcomes ‘whatever it takes’ is likely to be the prime concern. Ends will typically trump means.

Does the EU need an ‘emergency script’?

In view of the EU’s reliance on improvised and irregular methods, some argue the need to bolster its fire-fighting capacity. What the EU requires in this view is an agreed set of procedures for handling exceptional situations – a temporary boost in the powers of its institutions to protect public health, settle the economy, or respond to an international crisis. The EU needs an emergency script, allowing its representatives to act quickly and efficiently while also maintaining their accountability.

Yet an exceptional mechanism of this kind could potentially make matters worse. Historically, such arrangements have been predicated on the idea that emergencies are short-lived. The ancient Roman institution of ‘dictatorship’, employed mainly in the context of war, assumed the limited duration of the military campaigning season. Exceptional measures were acceptable because the circumstances they addressed were exceptional.

Emergency powers don’t cure long-term pathologies

Today’s emergencies, in the EU and more generally, typically emerge from long-term pathologies of politics, capitalism and climate, giving them a much more extended horizon. If there is no natural boundary between normal and abnormal times, the risk is either of short, superficial responses to deep problems, or of a permanent politics of emergency.

The very existence of emergency powers encourages authorities to leave problems to fester. Knowing they can invoke extra powers when the going gets tough, they have less reason to pursue the hard choices and reforms that get to the heart of things. They have a fallback option to rely on. Emergency politics is always in some sense the legacy of policy failure, and when that failure can be mopped up using exceptional measures it is that bit easier to indulge.

The task is to design an efficient ‘normal’ regime

Instead of devising an emergency script, the task is to design a ‘normal’ regime that is able to handle extreme circumstances – efficiently but also acceptably. One goal should be a simplified structure of power. Abolish the European Council, Eurogroup and the like, and give the Commission the responsibilities of government. A more integrated transnational executive would be less prone to informality and the ad hoc concentration of power. To the extent that it would still lapse into arbitrary or unresponsive methods, it would be a more visible target of critique.

Couple this with strengthening the European Parliament. Embedding executive power in a parliamentary system gives it a stronger basis in public opinion and debate. One of the lessons of Covid-19 is that countries with strong parliamentary systems tended to respond at least as well as the alternatives. The key principle of governing in extreme circumstances should not be speed but consent. Not only is this more democratic, but it increases the prospects of compliance in the short term and can build public support for the structural change needed to ward off crises to come.

A constitutional overhaul is needed

Any such transformation of the EU is likely to meet plenty of resistance. But unlike with a supposedly temporary emergency script, the stakes would be clear at the moment of enactment. It would be approved only to the extent its arrangements are acceptable as permanent features rather than as temporary deviations from normality.

Constitutionalisation in this deeper sense would reflect the reality that the policy challenges of the present amount not to a series of passing emergencies, short-lived and exceptional, but to enduring problems of politics, society, climate and economy that should be engaged on a fundamental and open-ended basis. Recent events suggest an EU that aspires to become more militarised and economically assertive – a sovereign actor in world affairs. It needs a constitutional overhaul to match.

Portrait Jonathan White

Jonathan White is a Professor of Politics and Deputy Head of the European Institute at the London School of Economics and Political Science (LSE).


This article was first published at the LSE blog EUROPP – European Politics and Policy. For more information, see the author’s accompanying paper at the Journal of Common Market Studies.


Pictures: Von der Leyen, Macron, Scholz: European Union, EC Audiovisual Service/Dati Bendo [license], via Wikimedia Commons; portrait Jonathan White: private [all rights reserved].