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„Wenn es die Mitgliedstaaten mit dem Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion ernst meinen, ist eine Vertragsreform unumgänglich.“
Der russische Angriff auf die Ukraine war ein Wendepunkt für die europäische Sicherheit und veranlasste die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zu wichtigen Schritten im Verteidigungsbereich. Die EU beschloss, die ukrainische Regierung über die Europäische Friedensfazilität mit Waffen und Munition im Wert von insgesamt 3,6 Milliarden Euro zu unterstützen, Deutschland stockte seinen Verteidigungshaushalt um 100 Milliarden Euro auf, Dänemark schloss sich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) an, Finnland trat der NATO bei und Schweden ist bereit, ihm bald zu folgen. Die Zeit scheint reif für mutige Entscheidungen zur europäischen Verteidigung, bei denen auch eine Reform der bestehenden rechtlichen Bestimmungen in Betracht gezogen werden muss.
Das Ziel einer glaubwürdigen Verteidigungsunion
Um zu bestimmen, welche Vertragsänderungen notwendig sind, müssen wir erst klären, welches Ziel die Union und die Mitgliedstaaten erreichen wollen. Ausgehend von den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas muss Europa „unabhängiger werden und eine Fähigkeit verbessern, sich in entscheidenden Bereichen selbst zu versorgen“, wozu auch Sicherheit und Verteidigung gehören. In den letzten Jahren wurde das Ziel, eine Europäische Verteidigungsunion aufzubauen, sowohl vom Europäischen Parlament als auch von der Europäischen Kommission formuliert.
Aber was bedeutet das konkret? In dieser Hinsicht ist die französisch-britische Erklärung von St. Malo (1998) immer noch gültig, die auf die Unfähigkeit der EU reagierte, eine wirksame Antwort auf die Balkankriege zu finden, und als Vorstufe zur Operationalisierung der GSVP betrachtet werden kann. Darin heißt es: „Die EU muss über die Fähigkeit zu autonomem Handeln verfügen, gestützt auf glaubwürdige militärische Kräfte, die Mittel, um deren Einsatz zu beschließen, und die Bereitschaft, dies zu tun, um auf internationale Krisen zu reagieren.“
Fünfundzwanzig Jahre später ist der Krieg auf europäischen Boden zurückgekehrt. Es ist daher eine Bestandsaufnahme nötig, was uns auf dem Weg zu diesen Zielen noch fehlt, um so die notwendigen Maßnahmen für die Zukunft planen zu können.
Regeln, Einschränkungen – und mögliche Reformen
Der Vertrag über die Europäische Union (Art. 24 und 42 EUV) betrachtet die GSVP, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, zu Recht als integralen Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Eine künftige Europäische Verteidigungsunion kann in der Tat nicht von einer funktionierenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik abgekoppelt werden. Hierfür ist mindestens eine Überarbeitung der bestehenden Bestimmungen nötig, um die Befugnisse der Hohen Vertreter:in/Vizepräsident:in der Europäischen Kommission auszuweiten und Anreize für Formen differenzierter Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, damit die EU die politische Initiative der gemeinsamen Institutionen und derjenigen Länder umsetzen kann, die bereit und in der Lage sind, in wichtigen außenpolitischen Fragen voranzugehen.
Bisher werden wirksame und schnelle Maßnahmen auch durch die Bestimmungen des Vertrags (Art. 31 und 42 EUV) behindert, die im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Einstimmigkeit als Entscheidungsregel vorschreiben. Leider hat die Einstimmigkeit sehr oft dazu geführt, dass die EU erst spät oder in suboptimaler Weise auf Krisen und Konflikte reagierte, von Nordafrika bis zum Balkan und darüber hinaus.
Es gibt deshalb wachsenden Druck von Seiten des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, aber auch wichtiger Mitgliedstaaten, die Anwendung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auf Schlüsselbereiche der Außen- und Sicherheitspolitik auszudehnen, zum Beispiel auf Sanktionen und zivile Missionen. Angesichts der bestehenden nationalen Interessen ist es vielleicht zu ehrgeizig, die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen auch für Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen vorzuschlagen. Es könnte sich jedoch lohnen, Formen einer Abstimmung mit superqualifizierter Mehrheit oder die Möglichkeit zu prüfen, dass sich ein Mitgliedstaat der Stimme enthalten kann, ohne die Annahme eines Beschlusses zu verhindern.
Demokratische Verantwortung und ein gemeinsames Budget
Um eine Europäische Verteidigungsunion aufzubauen, müssen wir außerdem eine demokratische Verantwortung für Entscheidungen im Militär- und Verteidigungsbereich sicherstellen. Dies kann nicht allein durch die parlamentarische Kontrolle der Regierungen auf nationaler Ebene geschehen, sondern erfordert stärkere Informations- und Konsultationsbefugnisse des Europäischen Parlaments, als sie derzeit in Art. 36 EUV vorgesehen sind. Die wirksamste Kompetenz des Europäischen Parlaments, nämlich die Haushaltskompetenz, sollte auch auf Militär- und Verteidigungsfragen ausgedehnt werden.
Dies bedeutet, die operativen Ausgaben für militärische Missionen in den gemeinsamen Haushalt aufzunehmen, was derzeit durch den Vertrag (Art. 41 EUV) untersagt ist. Eine solche Reform würde auch eine gerechtere und ausgewogenere Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten begünstigen. Seit dem Beginn der GSVP Anfang der 2000er Jahre hat das Verbot, militärische und verteidigungspolitische Operationen aus dem gemeinsamen Haushalt zu finanzieren, dazu geführt, dass die aktiveren Mitgliedstaaten, die sich mit Personal und Material an EU-Missionen beteiligen, am Ende auch diejenigen sind, die mehr zahlen – gemäß dem Grundsatz, dass derjenige die Kosten trägt, bei dem sie anfallen. Außerdem stellt Art. 41 EUV de facto ein Hindernis für die zivil-militärische Zusammenarbeit dar, da zivile und militärische Missionen nach unterschiedlichen Verfahren finanziert werden.
Schritte zu einer neuen europäischen Verteidigungsarchitektur
Das eigentliche Ziel ist es, die EU in die Lage zu versetzen, dass sie rechtzeitig und wirksam auf Konflikte und Krisen reagieren kann, auch auf dem europäischen Kontinent. Bis zur Schaffung einer so genannten europäischen Armee, wie auch immer diese aussehen mag, bedeutet dies, dass die europäische Verteidigungsarchitektur rationalisiert werden muss und eine klare Befehlskette für die Mobilisierung der nationalen europäischen Streitkräfte erforderlich ist.
Was wir brauchen, ist eine politische Autorität (zum Beispiel einen europäischen Verteidigungsministerrat), ein vollwertiges Brüsseler Hauptquartier für militärische Operationen (nicht nur für nicht-exekutive Missionen) sowie nationale Militärkontingente, die auf Abruf von den EU-Institutionen eingesetzt werden können. In diesem Rahmen ist der EU-Militärausschuss eindeutig in der Lage, wie ein:e nationale Generalstabschef:in zu funktionieren. Er könnte wichtige strategische Entscheidungen treffen und dabei auf die Unterstützung des EU-Militärstabs zurückgreifen. Die Europäische Verteidigungsagentur wiederum sollte in eine europäische Rüstungsagentur weiterentwickelt werden.
Ein effizientere Beschaffung
Durch eine solche Rationalisierung der Gesamtarchitektur könnte es der EU ermöglichen ihre derzeitigen Unklarheiten und Ineffizienzen hinsichtlich der Föderung von Forschung, Entwicklung und Beschaffung im Verteidigungsbereich zu überwinden. Tatsächlich erfolgen die Verteidigungsinvestitionen der Europäischen Kommission (GD DEFIS) derzeit nach einer reinen Marktlogik, mit dem Ziel, das volle Potenzial des EU-Binnenmarktes zu erschließen.
Der Verteidigungsmarkt ist jedoch kein freier Markt und wird es auch nie sein: Entscheidungen über Forschung, Entwicklung und Beschaffung von Verteidigungsgütern sollen unter Berücksichtigung politischer und strategischer Erwägungen erfolgen, was mit der derzeitigen institutionellen Architektur nur schwer möglich ist. Eine umfassende Reform, die für die EU eine vollständige verteidigungspolitische und militärische Befehlskette einführt, mit einer jeweils angemessenen Rolle für die Europäische Kommission, die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, würde die EU endlich in die Lage versetzen, strategisch in die Verteidigung zu investieren.
Blick nach vorn
Die Regeln zu ändern und dafür auch die EU-Verträge zu überarbeiten, insbesondere in einem sensiblen Bereich wie der Verteidigung, ist nicht einfach. Im vergangenen Jahr forderte das Europäische Parlament in einer Resolution den Europäischen Rat auf, einen Vertragsreformprozess einzuleiten, der auch die Übertragung von mehr verteidigungspolitischen Befugnissen an die Union beinhalten sollte. Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments hat seitdem weiter an möglichen Vertragsänderungen gearbeitet. Während einige Hauptstädte wie Paris und Berlin eine Überarbeitung der derzeitigen Bestimmungen unterstützen, hat sich eine Gruppe von dreizehn Mitgliedstaaten deutlich gegen eine Vertragsänderung ausgesprochen.
Eine Vertragsreform ist jedoch unausweichlich, wenn die europäischen Mitgliedstaaten es mit dem Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion ernst meinen und die EU mit der notwendigen militärischen Macht ausstatten wollen, um ihre Bürger:innen zu schützen, ihrer Nachbarschaft angemessene Sicherheitsgarantien zu bieten und eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber ihren potenziellen Gegnern auszuüben. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die Debatte noch dringlicher gemacht. In den vergangenen Monaten hat die EU erkannt, wie schwierig es ist, nach den geltenden Regeln zu handeln, wenn zum Beispiel ein Land wie Ungarn beschließt, Entscheidungen über Sanktionen zu blockieren, obwohl alle anderen Länder ihnen zugestimmt haben.
Im Hinblick auf die Europawahlen im nächsten Jahr sollten alle proeuropäischen politischen Kräfte die notwendige Vertragsreform in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen, um die Konferenz zur Zukunft Europas optimal zu nutzen und die nächste Legislaturperiode zu einer echten verfassungsgebenden Phase für die EU zu machen.
Nicoletta Pirozzi ist Leiterin des Programms „EU, Politik und Institutionen“ und Managerin für institutionelle Beziehungen am Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rom. |
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch als ein IAI Commentary auf der Website des Istituto Affari Internazionali.
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