- Minna Ålander, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
- Carmen Descamps, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, Brüssel
- Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs / Der (europäische) Föderalist, Helsinki
- Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
- Die EU verlässt sich in der Weltpolitik gern auf die Anziehungskraft ihrer Werte. Aber sie ist zunehmend auch bereit, diese mit Waffengewalt zu verteidigen.
Manuel
Herzlich willkommen zurück nach langer Pause zum ersten europapolitischen Quartett 2023! Heute wollen wir über die EU als normative power sprechen. Hinter diesem vor zwanzig Jahren von Ian Manners geprägten Schlagwort steht die Idee, dass die EU auf der Weltbühne ein sehr spezieller Akteur ist: Sie verfügt kaum über klassische, insbesondere militärische Machtinstrumente, ist aber gleichzeitig sehr erfolgreich darin, ihre eigenen Normen und Werte – Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte – auszubreiten.
Seit ein paar Jahren ist demgegenüber in Brüssel der Leitspruch verbreitet, die EU müsse „die Sprache der Macht erlernen“ (so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kurz nach ihrer Wahl 2019). Gemeint ist damit vor allem sicherheitspolitische hard power, umso mehr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Wie steht es heute also um die „normative Macht Europa“? Ist der Begriff noch angebracht für eine EU, die Waffen in die Ukraine liefert? Oder ist er gerade jetzt angebracht, weil es in der Ukraine eben auch um einen Kampf um unsere Werte geht?
Normative Macht
Minna
Wie sich die Rolle der EU in der Unterstützung der Ukraine gewandelt hat, war für mich eine positive Überraschung: zum Beispiel die Nutzung der Europäischen Friedensfazilität für die Waffenhilfe oder jetzt die letzten Entscheidungen zur gemeinsamen Beschaffung von Munition. Außerdem waren alle Präsident:innen der EU-Institutionen teils mehrmals in der Ukraine und haben von Tag 1 sehr deutliche Unterstützung demonstriert – oft mit klareren Worten als manche Mitgliedstaaten.
Sicher, die EU ist durch die Rückkehr der hard power in die internationale Politik herausgefordert. Aber sie ist sofort darauf angesprungen, dass die Ukraine für die europäischen Werte, die Zugehörigkeit zu Europa und eine EU-Beitrittsperspektive kämpft.
Julian
Viel hängt davon ab, wie man den Begriff verwendet: Bleibt man strikt im wissenschaftlichen Sinne bei Manners’ Definition, dann ist die Antwort ein klares Nein. Wie Minna gerade geschrieben hat, ist die EU heute mehr als nur eine „normative Macht“. Aber auch wenn die EU sich parallel militärisch engagiert, entfalten die Mechanismen, die Manners beschreibt, natürlich auch heute weiter Wirkung. Deshalb würde ich sagen, der Begriff hat für die EU weiter Gültigkeit – wenn man ihn nicht so rigoros verwendet, dass er nur für Akteure anwendbar ist, die ausschließlich normative Macht sind.
Carmen
Ich sehe normative power und hard power auch nicht als Gegensatz, sondern eher komplementär. Dass die EU heute hard power im Sinne von Waffen anwendet, ist letztendlich ja aus ihrer soft power – und dem dadurch gewachsenen Wunsch der Ukraine, sich der EU anzunähern – entstanden.
Neo-Idealismus
Manuel
Haben Werte in der europäischen Außenpolitik vielleicht sogar an Bedeutung gewonnen? In den letzten Monaten hat sich der (vor allem von Ben Tallis geprägte) Begriff des Neo-Idealismus ausgebreitet: Gemeint ist damit, dass in der europäischen Geopolitik „Werte“ und „Interessen“ zunehmend in eins fallen – also dass das zentrale Interesse der EU darin besteht, in einem zunehmend problematischen globalen Umfeld ihre Werte zu verteidigen und zu fördern.
Minna
Russlands Angriff auf die Ukraine hat jedenfalls auf eine brutale Art und Weise demonstriert, was die Zugehörigkeit zur EU wert ist und bedeuten kann: Die Ukraine kämpft ja wortwörtlich für ihre Beitrittsperspektive. Tatsächlich erfolgte der erste Angriff Russlands auf die Ukraine nach dem Euromaidan, dessen Auslöser wiederum das Zurückrudern des damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch vom Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU nach russischen Erpressungsmanövern war.
Am Ende war es gerade die EU-Perspektive der Ukraine, die für Russland inakzeptabel war. Dass es um die NATO ginge, war schon immer ein Vorwand; das größere Problem für Russland ist die EU-Integration.
Andererseits ist Russland aber auch ein Beispiel dafür, wo die normative Macht der EU an ihre Grenzen gestoßen ist. Bei Russland selbst hat die Anziehungskraft überhaupt nicht gewirkt. Im Gegenteil hat Russland die EU immer als eine böswillige Konkurrenz wahrgenommen.
Julian
Genau diesen Punkt macht auch Daniel Göler: Die „normative Macht“ hat gegenüber Russland zwar nicht so funktioniert, wie es sich die EU immer gewünscht hat, aber sie hat sehr wohl funktioniert. Die russische Regierung hat die EU als normative Macht für so mächtig gehalten, dass sie für Russland zu einer geostrategischen Herausforderung wurde.
Deshalb würde ich argumentieren, dass die normative Macht Europas auch gegenüber Russland Wirkung entfaltet hat. Leider war die Reaktion eine andere, als wir uns alle dies erwünscht hätten. Aber ich wäre vorsichtig, zu sagen, dass die normative Macht hier an ihre Grenzen stößt – außer wir sehen die EU auf dem Weg zur Weltföderation und erwarten deshalb, dass ihr Wertemodell wirklich überall auf Zustimmung stoßen müsste.
Umgekehrt finde ich es mit Blick auf Russland aber auch spannend zu sehen, wie ein Staat mit einer militärischen Intervention seine normative Macht weitestgehend zerstören kann. Mein Eindruck ist, dass Russland seit Februar 2022 kein alternatives Entwicklungsmodell mehr darstellt, das für andere Staaten im post-sowjetischen Raum attraktiv ist. Mit Ausnahme von Belarus nehme ich eher eine Abkehr der Staaten von Russland wahr.
Reagiert Russlands Angriff auf den Erfolg europäischer Werte?
Manuel
Also ist der russische Angriff auf die Ukraine letztlich ein Indikator für die Stärke der EU als normative Macht, weil er zeigt, dass die Ausbreitung des europäischen Wertemodells (die vor allem mit Mitteln der soft power erfolgt ist) nur mit Waffengewalt gebremst werden kann?
Julian
Ja. Vielleicht können wir hier sogar beobachten, was Joseph H. H. Weiler vor Jahren für das Innere der EU beschrieben hat: dass die EU die einzige Rechtsordnung der Welt ist, die ohne Zentralgewalt auskommt und Recht ohne Macht durchsetzen kann. Nach außen ist die EU jetzt auch eine Macht, die ohne hard power Russland zum Beginn eines Krieges veranlasst hat.
Manuel
… worauf die EU jetzt aber ihrerseits mit dem Ausbau ihrer hard power reagiert.
Carmen
Julian bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Wobei: Ob die EU wirklich eine solche „Nicht-Macht“ war, wäre schon wieder Stoff für eine neue Debatte.
Minna
Auch wenn die EU sich selbst nicht so wahrgenommen hat, war sie jedenfalls aus russischer Sicht schon immer eine geopolitische Akteurin. Die östliche Partnerschaft ist ein Paradebeispiel dafür. Der EU mag es dabei nur um eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit den beteiligten Ländern gegangen sein; Russland dagegen hat sich dadurch geopolitisch herausgefordert gefühlt.
Am Ende hat Russland mit dem Angriff auf die Ukraine dann aber nicht nur seine eigene Attraktivität als (ohnehin sehr fragliches) alternatives Modell in Europa zerstört, sondern auch die EU auf unvorhersehbare Art und Weise angestoßen. Dass zum Beispiel die Beitrittsperspektive für die Ukraine alternativlos wurde, war ja auch erst eine Folge des Kriegs.
Nicht unendlich dehnbar
Carmen
Ganz plakativ kann man die normative Macht der EU vielleicht einem Kaugummi gleichsetzen, den man zwar durchaus in die Länge ziehen kann, der allerdings nicht unendlich dehnbar ist. Irgendwann wird er dünn, fast transparent wird und reißt schließlich. Was ich damit meine: Die EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine drängte sich durch Russlands Angriffskrieg förmlich auf und wurde ja auch schnell in die Wege geleitet. Jetzt gilt für beide Seiten, den Worten Taten folgen lassen. Bei einem reinen Lippenbekenntnis darf es nicht bleiben, ganz egal wie lange die Beitrittsverhandlungen letztendlich dauern. Sonst würde die normative Macht der EU an Anziehungskraft verlieren und vielleicht am Ende sogar reißen.
Minna
„Normative power als Kaugummi“: Das wäre auch ein schöner Titel für diesen Artikel. 😅
Manuel
🍬 (Gibt leider kein Kaugummi-Emoji…)
Was Werte wert sind
Carmen
Um aber noch einmal darauf zurückzukommen, ob Werte für die EU an Bedeutung gewonnen haben:
Ich denke, die Antwort auf diese Frage ist auch von der (gefühlten) geographischen Betroffenheit geprägt, also wo ich mich innerhalb oder außerhalb Europas befinde. Gerade in den nordischen Ländern (Grüße an Manuel und Minna in Helsinki!) und im Baltikum beziehen sich ja viele Akteur:innen in den Regierungen und in der Zivilgesellschaft auf genau diese Werte. Die normative power der EU wirkt damit im Inneren wie im Äußeren.
Julian
Wie meinst du das, dass die normative Macht im Inneren wirkt?
Minna
Ich denke, die normative Macht der EU hat auf die Ukraine anziehend gewirkt, was Russland dazu veranlasst hat, die Ukraine anzugreifen, um die Annäherung zu verhindern. Russlands Angriff wiederum hat zum Beispiel in den nordöstlichen EU-Mitgliedstaaten eine Art Renaissance des „Werts der Werte“ ausgelöst. Der extrem hohe Preis, den die Ukraine gerade für ihre EU-Perspektive bezahlt, ist für diese Länder eine starke Erinnerung daran, was die EU bedeutet.
„Normative Macht“ oder „europäische Identitätsbildung“?
Julian
Da widerspreche ich aber. Nicht weil ich glaube, dass die Kausalkette, die du aufmachst, nicht stimmt – da gehe ich mit. Sondern weil ich den konzeptionellen Mehrwert der „normative power Europe“ hier nicht sehe. Denn letztlich ist es in dieser Hinsicht egal, worauf der Krieg in der Ukraine eine Reaktion ist, ob auf die normative oder harte Macht der EU. Die Auswirkungen sind in jedem Fall dieselben. Der Krieg ist für die EU eine Krise, die extern wirkt.
Hier mit normative power zu argumentieren, halte ich für eine Überdehnung des Begriffs. Konzepte haben ja auch die Funktion, Komplexität zu reduzieren und zu fokussieren, und dieser Wert geht bei dieser langen Kausalkette verloren. Statt von „normativer Macht im Inneren“ würde ich deshalb eher von Gemeinschafts-, Identitäts- oder gar Nationenbildung sprechen. Denn es geht hier ja eher um Fragen des Zusammenhalts und das Verhältnis der Unionsbürger:innen zur EU, weniger um eine Transformation von Staaten. Ich würde sagen, hier sind wir eher bei Ben Anderson als bei Ian Manners.
Carmen
Na gut, begrifflich war die Bezeichnung der „normativen Macht im Inneren“ nicht ganz sauber. Was ich damit in der Sache meine, ist vor allem, wie Politiker:innen wie die estnische Premierministerin Kaja Kallas und die noch amtierende finnische Premierministerin Sanna Marin auf den russischen Angriffskrieg reagieren, indem sie die normativen Werte der EU betonen. Minna sprach ja vorhin auch genau hiervon. Identitätsstiftend im Sinne einer europäischen Gemeinschaftsbildung sehe ich das nicht unbedingt. Auch weil sie Europapolitik ja weiterhin stark als Außenpolitik behandeln.
Manuel
Interessanterweise findet diese Rückbesinnung auf die Bedeutung von Werten in der EU auch gerade in einer Zeit statt, in der die europäischen Werte intern durchaus umstritten sind. Und damit meine ich nicht nur den Konflikt um Viktor Orbáns „illiberale Demokratie“ und seine angeblich „christlichen Werte“, sondern auch die eher latenten Spannungen zwischen Supranationalismus und nationaler Souveränität. Manche Neoidealist:innen sehen ja auch nationale Souveränität als einen Wert, den die EU schützen muss – was unstrittig ist, soweit es um den Schutz gegenüber imperialen Übergriffen geht, aber zum Problem werden kann, wenn es um die Abgabe von Kompetenzen an supranationale Institutionen geht.
Aber zurück zur Außen- und Weltpolitik: Mit seinem offenen Angriff hat Russland weitgehend darauf verzichtet, noch als normative power zu wirken – die vorgeblichen Werte, mit denen die russische Regierung ihre Machtpolitik verbrämt (als Verteidigung traditioneller Familienmuster oder Ähnliches), sind allzu durchsichtig. Trotzdem mussten sich die Ukraine und die EU zuletzt ziemlich anstrengen, um in der Generalversammlung der Vereinten Nationen breite Unterstützung für eine Resolution gegen den russischen Angriffskrieg herbeizuführen. Wie seht ihr die Rolle der EU in diesem Ringen um die globale Werte-Diskurshoheit?
Ringen um die globale Diskurshoheit
Minna
Momentan schneidet Europa nicht sonderlich gut im globalen „Wertekampf“ ab: In Afrika und Lateinamerika ist Russland mit seinen Narrativen erfolgreicher. Auch Länder wie Indien sehen die Europäer:innen eher als scheinheilig und werfen der EU Doppelmoral vor, weil sie jetzt von aller Welt Solidarität mit der Ukraine verlangt, sich aber selbst nicht so sehr um Konflikte anderswo kümmert.
Und auch auf dem Balkan ist Russlands Anziehungskraft noch nicht ganz verschwunden: Zum Beispiel in Serbien sehen wir die Wirkung noch deutlich. Allerdings liegt das auch daran, dass die EU diese Länder in der Erweiterungspolitik so lange hingehalten hat.
Julian
Ich bin kein Balkan-Experte, deshalb formuliere ich es mal als Frage: Ist es wirklich eine normative Anziehungskraft Russlands, die hier wirkt? Oder ist die eigentliche Erklärung nicht eher dieses lange Hinhalten der EU, verbunden mit wirtschaftlichen Angeboten Russlands? Wenn das so ist, würde Russland hier eher als wirtschaftliche Zivilmacht wirken, nicht als normative Macht. Das ist aber eher eine Hypothese denn eine Feststellung.
Und was den Rest der Welt betrifft: Vor ein paar Wochen fand ich einen Kommentar von Ivan Krastev in der Financial Times sehr spannend, der das aktuelle Verhalten der nicht-westlichen Staaten gegenüber Russland damit begründet hat, dass sie Russland nicht mehr als globale, sondern als regionale Macht sähen. Der Krieg in der Ukraine ist ein rein europäisches Problem, das sie nichts angeht, deshalb kann man mit der Regionalmacht Russland weiter handeln oder sogar militärisch kooperieren. Vor Russland hat man keine Angst mehr; es ist (sagt Krastev) für viele Länder „nicht wichtig genug, um es zu hassen“.
Das chinesische Gegenmodell
Manuel
Über den Krieg in der Ukraine hinaus gibt es dann noch China als weiteren Konkurrenten in der globalen Werte-Debatte. Die chinesische Regierung verfolgt sehr viel ausdrücklicher als Russland den Anspruch, einen auch normativen Gegenentwurf zum europäischen bzw. westlichen Modell zu bieten.
Minna
China hat gezeigt, dass man sich nicht unbedingt demokratisieren muss, um in der globalen Marktwirtschaft erfolgreich zu sein, und sein höchster Wert in der internationalen Politik ist Nicht-Einmischung. Mit diesem Konzept versucht es seinen globalen Einfluss einzubauen, indem es anderen Staaten Infrastrukturprojekte anbietet, die – anders als EU-Projekte – nicht mit mühsamen Reformforderungen und politischen Konditionen verbunden waren.
Manuel
Und diese wirtschaftliche Zusammenarbeit bei absoluter Nichteinmischung ist gerade für autoritäre Regime anderswo auf der Welt natürlich ein attraktives Prinzip, da es ihnen hilft, ihre Macht zu sichern.
Einfluss durch Infrastrukturprojekte
Carmen
Ja, im Vergleich zu China wird die EU von Dritten oft als kompliziert und zu Werte-fokussiert wahrgenommen, gerade bei Entwicklungshilfeprogrammen. Finanzielle Unterstützung der EU ist nur im Austausch für Reformen im Bereich Demokratieförderung, Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit & Co. zu haben. Auch fühlen Drittstaaten sich oft nicht als gleichrangig wahrgenommen, im Sinne eines Dialogs auf Augenhöhe unter Einbindung staatlicher und nicht-staatlicher Akteure.
Ich möchte jetzt keine Litanei der Kritik an der EU-Entwicklungspolitik aufmachen, aber China geht hier deutlich direkter vor. Ein konkretes Beispiel in der direkten Nachbarschaft der EU ist der Bau der Autobahn in Montenegro. Dass sich solche Infrastrukturprojekte später zuweilen als „Schuldknechtschaft“ entpuppen, realisieren Betroffene (darunter auch die EU) oft zu spät.
Minna
China stellt für die EU dabei auch insofern eine besondere Herausforderung dar, als es (anders als Russland) gelernt hat, die von der EU angestrebten wirtschaftlichen Win-win-Kooperationsstrukturen zu seinen Gunsten zu nutzen – auch um europäische Werte und Interessen zu unterminieren, zum Beispiel durch den Zugriff auf kritische Infrastruktur.
Andererseits ist China mit seiner Belt and Road Initiative in den letzten Jahren aber auch an Grenzen gestoßen: In Europa gab es zunehmend Pushback gegen chinesische Investitionen und auch in anderen Weltregionen hat man gemerkt, dass die Qualität der chinesischen Infrastruktur nicht sonderlich hoch ist.
Julian
Spielt die Qualität der Infrastruktur eine so große Rolle? Wirklich sinnvolle und haltbare Projekte hat Europa in Afrika auch nie durchgeführt.
Manuel
Ich denke, es gab eine Zeitlang den Mythos, dass chinesische Entwicklungspolitik durch das Weglassen von politischen Konditionen automatisch wirtschaftlich effizienter sei als westliche. Dieser Mythos bröckelt etwas – was den Blick auf westliche Entwicklungspolitik nicht besser macht, aber am Image von China kratzt.
Nichteinmischung als Wert?
Julian
Was sicher stimmt, ist, dass gerade das Prinzip der Nichteinmischung ein wichtiger Vorteil Chinas ist: Das Ziel ist nicht, dass andere Länder das chinesische Modell unbedingt kopieren wollen würden, aber im Unterschied zur EU (und auch Russland) soll interne Souveränität absolut respektiert werden.
Manuel
Ein Unterschied zwischen der „normativen Macht“ Chinas und der EU: Die Macht der EU besteht darin, mit friedlichen Mitteln andere Gesellschaften in ihrem Inneren zu verändern – demokratischer, freier zu machen. Deshalb setzt sich die EU für eine freiheitliche Weltordnung ein, in der diese Art der Ausbreitung von Ideen und Werten möglich und legitim ist.
China hingegen präsentiert sich anderen Gesellschaften als Vorbild in Sachen Wirtschaftswachstum, hat aber hinsichtlich politischer Werte gar kein so besonders attraktives Modell anzubieten. Stattdessen setzt es sich für eine Weltordnung mit Nichteinmischung als höchstem Wert ein – um andere nicht-demokratische Regierungen an sich zu binden, und letztlich sicher auch, um die Ausbreitung freiheitlicher Ideen nach China zu verhindern.
Minna
Allerdings: China spricht zwar viel vom Prinzip der Nichteinmischung, aber in der Praxis hält es sich auch nicht unbedingt daran. Es gibt genug Fälle, wie China gar nicht so anders als Russland versucht, durch unterschiedliche Kanäle, zum Beispiel über wirtschaftliche Abhängigkeiten oder Einmischung in Wahlen, in anderen Ländern Einfluss auszuüben.
Julian
Wobei für eine normative Macht definitionsgemäß zwei Aspekte entscheidend sind:
- Werte, Normen oder gar das Modell der normativen Macht werden von anderen übernommen.
- Die Rezipienten tun dies freiwillig und ohne Druck.
Nun wurden oben Zweifel geäußert, dass die erste Bedingung auf China zutrifft; und wenn es versucht, über seine wirtschaftliche Position Einfluss auszuüben, dann ist auch die zweite Bedingung nicht erfüllt. Von daher sollte man China eher als Zivilmacht denn als normative Macht einordnen.
Manuel
(Julian sorgt heute dafür, dass wir hier terminologisch sauber bleiben. ☝️)
Minna
China ist allerdings auch schon eine bedeutende Militärmacht geworden. Zivilmacht allein trifft es also auch nicht mehr ganz.
Was soll die EU tun?
Manuel
Abschlussfrage: Was kann, was soll die EU (intern und in der Außenpolitik) tun, um ihre normative power zu stärken?
Minna
Die EU muss wehrhafter werden! Sie muss sich klarer sein, dass in ihren Außenbeziehungen viele Akteure sie
- als Konkurrenz betrachten und
- nicht ihre Werte und Interessen teilen.
Russland ist ein Beispiel dafür, wie die normative Macht (von der EU eigentlich unbeabsichtigt) als geopolitische Konkurrenz wahrgenommen wurde. Und China zeigt, wie ein Akteur, der nicht die Werte und Interessen der EU teilt, wirtschaftliche Strukturen zu seinen Gunsten (und Europas Ungunsten) ausnutzt. Kurzum: Die EU kann nicht einfach in einem Vakuum ihr Ding machen, sondern muss die Außensicht mit einkalkulieren. Und sie ist schon auf gutem Weg dahin einzusehen, dass Werte und Interessen gegebenenfalls auch mit Gewalt geschützt werden müssen, wenn sie gewalttätig angegriffen werden.
Manuel
Ich stimme da grundsätzlich zu, denke aber auch, dass sich die EU noch mehr um die Länder und Akteure kümmern sollte, mit denen grundsätzlich sie schon eine gemeinsame Wertebasis hat. Es wäre für die EU sinnvoll, diese Länder enger an sich zu binden, auch indem sie politische Macht mit ihnen teilt.
Vor einigen Monaten habe ich in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer „globalen Union der Demokratien“ beschrieben – mit supranationalen Institutionen, eigenem Budget und eigenen Kompetenzen, zum Beispiel im Bereich Klimaschutz. Aus meiner Sicht wäre das ein guter Ansatz, um demokratische Werte nicht nur dort zu stabilisieren, wo es sie schon gibt, sondern auch Ländern, die dieser Union würden beitreten wollen, einen Demokratisierungsanreiz zu bieten.
Leider sehe ich gerade allerdings wenig Entwicklung in diese Richtung. Die USA organisieren diese Woche ihren zweiten Gipfel für Demokratie, aber Supranationalismus dürfte da genauso wenig ein Thema sein wie beim ersten Gipfel Ende 2021.
Hard und Soft Power verbinden
Julian
Als ersten Schritt sollte die EU den Staaten, insbesondere im Südkaukasus und Zentralasien, die ein wachsendes Interesse an Kooperation mit der EU haben, konkrete Angebote machen, statt nur den Fokus auf Osteuropa zu legen. Dasselbe gilt auch für den Balkan.
Im zweiten Schritt brauchen wir eine Reform der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die die Container politikfeldspezifischer Entscheidungsverfahren aufbricht und einen modernen, integrierten Ansatz ermöglicht.
Carmen
Ich würde sagen, dass die EU in dieser Hinsicht gerade im letzten Jahr schon sehr vorangekommen ist. In der Debatte um normative Macht ist man inzwischen doch an der Erkenntnis, dass diese soft und hard power gleichermaßen einschließt. Vielleicht kann man das ja als positive Lehre aus der aktuellen Krise ziehen.
Minna
Zwei Seiten einer Medaille. 🥇
Minna Ålander ist Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. |
Carmen Descamps ist Fachgebietsleiterin für europäische Energie- und Digitalthemen beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Brüssel. |
Manuel Müller ist Senior Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. |
Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und at the Institute Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
|
|
|
Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.
Frühere Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.