- Steuerkommissar Pierre Moscovici (PS/SPE) will nationale Vetorechte in der Steuerpolitik abschaffen. Für die Demokratie wäre das ein Gewinn.
Bei
all der Brexit-Aufregung der letzten zwei Wochen blieb eine andere
europapolitische Nachricht in der breiten Öffentlichkeit weitgehend
unbeachtet: der Vorschlag
der Europäischen Kommission, in der EU-Steuerpolitik
schrittweise vom Einstimmigkeitsprinzip zu Mehrheitsentscheidungen
überzugehen. Derzeit gehört die Steuerpolitik (v.a. nach Art.
113 und Art.
115 AEUV) neben der Außen- und großen Teilen der Sozialpolitik
zu jenen Politikbereichen, in denen jede einzelne nationale Regierung
ein Vetorecht besitzt. Das macht die europäische Gesetzgebung nicht
nur langsam und behäbig, sondern auch anfällig für politische
Machtspiele – etwa wenn ein Mitgliedstaat seine Zustimmung zu einer
eigentlich unumstrittenen steuerpolitischen Maßnahme an
Zugeständnisse in ganz anderen Bereichen koppelt. Gleichzeitig
bedeutet die Einstimmigkeit auch, dass einmal verabschiedete
Beschlüsse hinterher kaum noch zu ändern sind, was die
Mitgliedstaaten oft von vornherein davon abhält, sich darauf
einzulassen.
Die
Kommission will das nun ändern, indem sie die Mitgliedstaaten dazu
auffordert, von der sogenannten „Brückenklausel“ in Art.
48 Abs. 7 EUV Gebrauch zu machen. Nach dieser Klausel könnten
die nationalen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat
(einstimmig) beschließen, in steuerpolitischen Fragen künftig das
ordentliche
Gesetzgebungsverfahren anzuwenden. Für konkrete Maßnahmen wäre
dann im Rat künftig keine Einstimmigkeit mehr erforderlich, sondern
eine qualifizierte Mehrheit (mindestens 55% der Mitgliedstaaten, die
zusammen mindestens 65% der EU-Bevölkerung ausmachen); außerdem
bekäme anders als heute auch das Europäische Parlament ein
Mitentscheidungsrecht.
Der
Kommissionsvorschlag: Mehrheitsentscheide in vier Schritten
Nach
dem Vorschlag der Kommission soll dieser Übergang in mehreren
Schritten vollzogen werden: Der erste Schritt würde gar nicht das
Steuerrecht selbst betreffen, sondern nur Verwaltungsmaßnahmen zur
Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuervermeidung. Im zweiten Schritt
ginge es um Steuern, die weniger fiskalischen Zwecken dienen, sondern
andere politische Ziele wie den Klima- oder Umweltschutz unterstützen
sollen. (Dadurch würde zum Beispiel die paradoxe Situation gelöst, dass es der EU
2009
leichter fiel, umweltschädliche Glühbirnen zu verbieten, als sie zu
besteuern.)
Der
dritte Schritt würde Bereiche wie die Mehrwertsteuer betreffen, für
die es schon jetzt gemeinsame europäische Regeln gibt, die aber zum
Teil veraltet sind und wegen des Einstimmigkeitsprinzips nicht
reformiert werden können. Mit dem vierten Schritt sollen schließlich
auch die übrigen Steuern erfasst werden, die für den Binnenmarkt
relevant sind – etwa die Körperschaftssteuer, für die die
Kommission seit mehreren Jahren eine
einheitliche Bemessungsgrundlage schaffen will, um
Steuerschlupflöcher für multinationale Unternehmen zu schließen.
Ablehnung
aus Irland, Malta und Zypern
Tatsächlich
ist der Wunsch der Kommission, in der Steuerpolitik zum
Mehrheitsprinzip überzugehen, nichts Neues: Präsident Jean-Claude
Juncker (CSV/EVP) erwähnte die Idee schon 2017
und 2018
in seinen Reden zur Lage der Union; und auch das Europäische
Parlament unterstützte sie bereits 2017 im Brok/Bresso-Bericht
und im Abschlussbericht
des „Panama-Papers“-Untersuchungsausschusses. Neu am
aktuellen Vorstoß sind vor allem die ausführlichere Begründung und
der vorgeschlagene Stufenplan. Geht es nach der Kommission, sollen
die ersten beiden Schritte „rasch“ umgesetzt werden, während der
dritte und vierte wenigstens „bis 2025 in Erwägung zu ziehen“
wären.
Ob
und wann es wirklich zur Anwendung der „Brückenklausel“ kommt,
hat die Kommission allerdings nicht in der Hand. Den Anstoß dazu
können nur die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat
geben, die von der nötigen Einstimmigkeit weit entfernt sind: Die
Kommission hatte ihren Vorschlag noch nicht einmal öffentlich
vorgestellt, als die Regierungen verschiedener kleinerer
Mitgliedstaaten wie Irland, Malta und Zypern (die derzeit oft davon
profitieren, dass multinationale Unternehmen sie aus Steuergründen
zu ihrem EU-Hauptsitz machen) schon ihre
Ablehnung ankündigten. Und selbst wenn sich der Europäische Rat
einig wäre, liefe vor dem Inkrafttreten der Brückenklausel zunächst
eine sechsmonatige Einspruchsfrist, in der jedes nationale Parlament
ein Veto dagegen einlegen könnte. Selbst im besten Falle würde die
Kommission Juncker, deren Amtszeit am 1. November 2019 ausläuft, das
Ergebnis also nicht mehr selbst erleben.
Nationaler Eigennutz gegen europäisches Gemeininteresse
All
das lässt schon erahnen, dass die Kommission mit ihrem jüngsten
Vorstoß nicht
wirklich auf einen schnellen Erfolg hofft. Der Zeitpunkt wenige
Monate vor der Europawahl deutet vielmehr darauf hin, dass sie vor
allem eine öffentliche Debatte in Gang setzen will – und damit
insbesondere Druck auf die nationalen Regierungen jener
Niedrigsteuerländer ausüben, die sich einer gemeinsamen
EU-Steuerpolitik nur aus simplem nationalem Eigennutz verweigern.
Denn
diese sind natürlich nicht dazu gezwungen, ihr Veto gegen die
Brückenklausel mit überzeugenden Gründen zu untermauern. Doch der
Anschein, nur aus nationalem Egoismus zu handeln, ist in einem so
konsensorientierten System wie der EU mit einem politischen Preis
verbunden – und dieser Preis steigt, je größer das öffentliche
Interesse ist. Dass beispielsweise der irische Handelskammern-Verband
Chambers Ireland jüngst offen „die irische Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber den europäischen Partnern“ als
Hauptgrund gegen Mehrheitsentscheide in der Steuerpolitik anführte,
ist ein Argument, das in einer europaweiten öffentlichen Debatte
kaum Bestand haben dürfte.
Sind
Mehrheitsentscheide eine unzumutbare Zentralisierung?
Nationale
Partikularinteressen von Niedrigsteuerländern gegen das europäische
Gemeinwohl zu verteidigen ist allerdings nicht die einzige
Begründung, die in den letzten Tagen von Gegnern des
Kommissionsvorschlags vorgebracht wurde. Bedenkenswerter ist eine
andere Argumentationslinie, die Mehrheitsentscheidungen in der
Steuerpolitik auch aus gesamteuropäischer Perspektive als eine
unzumutbare Zentralisierung betrachtet.
Um
dafür nur zwei deutschsprachige Beispiele anzuführen: Hannelore
Crolly, die
Brüssel-Korrespondentin der Welt, argumentierte,
dass viele Bürger und
Staaten „mehr Integration und mehr Delegation nach Brüssel“
ablehnten.
Mit ihrem Vorschlag spiele
die Kommission deshalb
nur jenen in die Hände,
„die Brüssel als gefräßiges Monster und Feind der Nationen
verteufeln“. Steffen
Stierle wiederum erklärte
auf EurActiv, für das
Einstimmigkeitsprinzip gebe es „gute Gründe“, da die nationalen
Regierungen von ihrer jeweiligen Bevölkerung mandatiert seien: „Wenn
sie Gefahr laufen, auf EU-Ebene überstimmt zu werden, würden die
demokratischen Rechte der Bürger des betroffenen Landes
beeinträchtigt.“
So ganz überzeugen kann auch diese Argumentationslinie allerdings
nicht – und das nicht nur, weil die Vorstellung, dass die
europäische Bevölkerung mehr Integration grundsätzlich ablehnen
würde, gerade in der Steuerpolitik durchaus zweifelhaft ist: In
einer Eurobarometer-Umfrage von 2016 sprachen sich nicht weniger als
drei Viertel der Befragten für
ein stärkeres EU-Engagement im Kampf gegen Steuerbetrug aus.
Gewiss, das war auf dem Höhepunkt des Panama-Papers-Skandals,
und es ist nicht sicher, ob eine ähnliche Umfrage heute dieselben
Ergebnisse brächte. Doch wichtiger als die schwankende Stimmungslage
sollte ohnehin die Frage sein, welche sachlichen Gründe denn
eigentlich für oder gegen eine stärkere Zusammenarbeit in der
europäischen Steuerpolitik sprechen.
Subsidiaritätsprinzip und Steuerwettbewerb
Hier sind es typischerweise vor allem zwei Argumente, die für die
Unterschiedlichkeit nationaler Steuermodelle vorgebracht werden. Zum
einen sind Steuerfragen eng mit Gerechtigkeitsvorstellungen
verbunden, die nicht unbedingt in allen EU-Ländern gleich ausfallen.
Um den demokratischen Wünschen möglichst vieler Bürgerinnen und
Bürger gerecht zu werden, ist es vernünftig, gemeinsame
länderübergreifende Regulierungen in einem solchen
Politikbereich nur behutsam einzusetzen. Dies ist der Kerngedanke des
Subsidiaritätsprinzips,
nach dem Entscheidungen immer auf der niedrigsten Ebene getroffen
werden sollten, auf der das sinnvollerweise möglich ist.
Zum anderen soll – so wird vor allem von liberaler Seite
argumentiert – die Vielzahl nationaler Steuermodelle auch zu einem
Wettbewerb zwischen den Staaten führen, bei dem die Länder
untereinander um Steuerzahler konkurrieren und sich deshalb um ein
möglichst gutes, effizientes Steuersystem bemühen.
Steuerwettbewerb
schränkt nationale Handlungsspielräume ein
In der Praxis stößt diese Idee eines effizienzsteigernden
Steuerwettbewerbs allerdings schnell an ihre Grenzen. Denn nicht alle
Steuerzahler sind gleichermaßen mobil: Während es im europäischen
Binnenmarkt zum Beispiel für ein multinationales Unternehmen
verhältnismäßig einfach ist, seinen Steuersitz in ein anderes Land
zu verlegen, sind Arbeitnehmer, Verbraucher oder Kleinunternehmen
sehr viel stärker an einen bestimmten Ort gebunden. In der Folge
setzen sich im Steuerwettbewerb zwischen den Staaten nicht unbedingt
die effizientesten Steuermodelle durch, sondern diejenigen, die
mobilere Produktionsfaktoren (wie Kapital) entlasten und weniger
mobile (wie Arbeit) belasten.
Wenig
überraschend zahlen (wie
grundsätzlich schon
länger bekannt und jüngst durch
eine von den europäischen Grünen präsentierte Studie bestätigt)
große multinationale
Unternehmen in der EU deshalb kaum Steuern – jedenfalls deutlich
weniger als kleinere, rein nationale Unternehmen. Ein solches
Steuermodell aber dürfte
weder aus ökonomischer Sicht besonders effizient sein noch den
tatsächlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerungsmehrheit
entsprechen. Vielmehr spricht
viel dafür, dass der zwischenstaatliche Steuerwettbewerb effektiv
die demokratischen Spielräume der Mitgliedstaaten einschränkt. Oder
anders formuliert: dass im europäischen Binnenmarkt eine
eigenständige, rein nationale Steuerpolitik nicht sinnvoll möglich
ist.
Nationale
Vetorechte schwächen die europäische Demokratie
Dieser Verlust an nationalen Handlungsspielräumen spricht dann
allerdings auch aus einer Subsidiaritätsperspektive sehr für eine
stärkere europäische Harmonisierung. Denn wenn die Mitgliedstaaten
bei der Gestaltung ihrer Steuerpolitik so stark durch die
„Sachzwänge“ des zwischenstaatlichen Steuerwettbewerbs
eingeschränkt sind, kann man nicht davon ausgehen, dass die
nationalen Steuersysteme wirklich die jeweiligen demokratischen
Präferenzen der Bürger widerspiegeln. Die Verlagerung
steuerpolitischer Entscheidungen auf die europäische Ebene wird
vielmehr zur Voraussetzung, um sie überhaupt wieder demokratisch
verfügbar zu machen.
Das allerdings bedeutet dann auch, dass die nationale Demokratie kein
Argument sein kann, um in der EU-Steuerpolitik ein nationales
Vetorecht aufrechtzuerhalten. Denn es stimmt zwar natürlich, dass
die nationalen Regierungen von der Bevölkerung ihres Landes
demokratisch legitimiert sind. Doch diese Legitimation gilt nur für
Angelegenheiten, die die jeweils eigene Bevölkerung betreffen.
Wenn, wie in der Steuerpolitik, die nationalen Entscheidungen eines
Landes die Handlungsspielräume aller anderen Länder einschränken
können, so muss eine gemeinsame, staatenübergreifende
Regelung gefunden werden.
Die demokratische Legitimation der einen Regierung trifft dann auf
die ebenso gute demokratische Legitimation der anderen, und ein
nationales Vetorecht führt lediglich dazu, dass ein Konflikt
zwischen ihnen gegebenenfalls als
Machtkampf im diplomatischen Raum ausgetragen wird. Auf die
diplomatischen Machtverhältnisse zwischen den Staaten aber haben die
Bürgerinnen und Bürger keinerlei Einfluss. Das
Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat führt deshalb nicht zu einer
Stärkung, sondern zu einer Schwächung der demokratischen
Legitimität einer Entscheidung.
Demokratische Steuerpolitik führt über das Europäische Parlament
Will man überstaatliche Entscheidungen demokratisch legitimieren, so
führt der Weg dazu nur über die supranationalen Institutionen, also
das gemeinsam gewählte Europäische Parlament. Das besitzt derzeit
in der EU-Steuerpolitik nach Art.
113 AEUV nur ein unverbindliches Anhörungsrecht. Würde, wie von
der Kommission vorgeschlagen, für diesen Bereich künftig das
ordentliche Gesetzgebungsverfahren angewandt, so erhielte das
Parlament hingegen ein gleichberechtigtes Mitentscheidungsrecht neben
dem Rat. Auch das ist zwar noch
keine optimale Lösung, aber doch ein Schritt in die richtige
Richtung: dass die Europäerinnen und Europäer künftig die
Europawahl nutzen können, um demokratisch über die von ihnen
gewünschte Steuerpolitik zu entscheiden.
Und auch wenn der Weg bis zur Anwendung der Brückenklausel noch lang ist
und Blockaden der kleinen Niedrigsteuerstaaten zu
erwarten sind, ist es überfällig, diese Debatte jetzt in
die europäische Öffentlichkeit zu tragen.
So wichtig und folgenreich der Brexit auch ist: Es
ist zu hoffen, dass der Europawahlkampf in
den nächsten Monaten nicht nur vom politischen Chaos in London
bestimmt wird, sondern auch ausreichend Gelegenheiten bietet, um
Auseinandersetzungen wie diese zu führen.
Bild: European Commission [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons.