19 September 2018

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (September 2018): Hat die S&D noch eine Chance?


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 51 52 189 68 219 73 43 35 21
Juli 18 57 38 145 102 177 50 22* 56 10 48
Sept. 18 60 42 140 95 178 50 21* 59 10 50

Basisszenario,
Stand: 18.09.2018.
Ist die Europawahl schon entschieden? Acht Monate vor der Wahl sieht es ganz danach aus; jedenfalls hat sich der Hoffnungsschimmer, den die europäischen Umfragen Ende Juli für die Sozialdemokraten bereit hielten, in den letzten Wochen wieder verdüstert. In der aktuellen Projektion fällt die sozialdemokratische S&D-Fraktion auf 140 Sitze zurück (–5), während sich die Europäische Volkspartei leicht verbessern kann (178 Sitze / +1). Dieser Abstand von 38 Sitzen ist etwas größer als die Differenz zwischen den beiden Fraktionen im derzeitigen Parlament – und kann erklären, weshalb die EVP so nachdrücklich darauf beharrt, dass der nächste Präsident der Europäischen Kommission niemand anderes als der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion werden soll.

Damit das Rennen um die stärkste Fraktion tatsächlich noch einmal spannend wird, müssten schon sehr besondere Umstände eintreten. Hier sind drei Szenarien, durch die die Sozialdemokraten noch aufschließen könnten. Wirklich wahrscheinlich ist allerdings keines von ihnen.

Erstens: Aufholjagd

Dass Wahlen nicht in den Umfragen, sondern erst an den Urnen entschieden werden, ist ein politischer Gemeinplatz. Mit guten Kandidaten und schlagenden Themen haben Parteien bei nationalen Wahlen schon weitaus größere Rückstände wettgemacht: In den acht Wochen vor der britischen Unterhauswahl 2017 beispielsweise verkürzte die Labour Party die Differenz zu den Conservatives um fast 25 Prozentpunkte.

Die Voraussetzung für eine solche Aufholjagd ist jedoch ein intensiver Wahlkampf, der große Schichten der Bevölkerung erreicht und zu einem politischen Umdenken motiviert. Dass den europäischen Sozialdemokraten vor der Europawahl etwas Derartiges gelingt, ist allerdings kaum zu erwarten. Traditionell investieren Parteien in den Europawahlkampf deutlich weniger Geld als in nationale Wahlen, und auch die mediale Berichterstattung ist sehr viel geringer. Hinzu kommt die starke Fragmentierung der Debatten: Um zur EVP aufzuschließen, müssen die Sozialdemokraten nicht in einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit die richtigen Argumente finden, sondern in vielen verschiedenen Mitgliedstaaten. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, durch einzelne erfolgreiche Wahlkampfveranstaltungen das Ruder kurz vor der Wahl noch herumzureißen.

Vielleicht deshalb wirken die europäischen Sozialdemokraten derzeit auch eher ratlos als wahlkampfhungrig. Mit dem Kommissionsvizepräsidenten für die Energieunion Maroš Šefčovič (Smer/SPE) und (möglicherweise) dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ/SPE) haben bislang jedenfalls nur zwei eher blasse Bewerber ihr Interesse bekundet, am 1. Dezember zum Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten gewählt zu werden.

Zweitens: Brexit verschieben

Ein zweites mögliches Szenario könnte die Verschiebung des britischen EU-Austritts sein. Eigentlich ist dieser für den 29. März 2019, knapp zwei Monate vor der Europawahl, geplant. Da es bis jetzt noch keine Einigung zwischen Großbritannien und der EU über mögliche Zollkontrollen an der nordirischen Grenze gibt, wächst nun die Sorge vor einem chaotischen „No-Deal-Brexit“. Um Zeit für weitere Verhandlungen (und womöglich auch ein zweites britisches Referendum) zu gewinnen, haben in den letzten Wochen zahlreiche Beobachter – von dem Blogger Jon Worth über die deutsche Europapolitikerin Franziska Brantner (Grüne/EGP) bis zum ehemaligen britischen Vizepremier Nick Clegg (LibDem/ALDE) – eine Verschiebung des Austrittsdatums empfohlen.

Sollte Großbritannien in Folge einer solchen Verschiebung noch an der Europawahl 2019 teilnehmen, könnte das der S&D-Fraktion helfen. Tatsächlich ist der Brexit-bedingte Verlust ihres britischen Mitglieds ein zentraler Grund dafür, dass die europäischen Sozialdemokraten in der Projektion so weit zurückgefallen sind. Mit der Labour Party könnte die S&D nach den derzeitigen Umfragen mit rund 25-30 zusätzlichen Sitzen rechnen und käme damit wieder in Schlagdistanz zur EVP.

Wirklich hoffen sollten die Sozialdemokraten darauf jedoch nicht, denn dass der Brexit wirklich verschoben wird, ist ausgesprochen unwahrscheinlich. Für die britische Regierung, die ein solches Szenario immer ausgeschlossen hat, wäre es ein herber Gesichtsverlust. Und auch die EU hat schon aus praktischen Gründen kein Interesse daran, dass Großbritannien an der Europawahl noch teilnimmt: So wurde ein Teil des bislang britischen Sitzkontingents im Europäischen Parlament auf andere Länder verteilt – und Irland ist in der Folge bereits dabei, seine Wahlkreise für die Europawahl neu zuzuschneiden. Nähme Großbritannien kurzfristig doch noch an der Wahl teil, würde das zu einigem organisatorischem Chaos führen. Wahrscheinlicher ist deshalb das Szenario eines „Blind Brexit“, bei dem Großbritannien wie geplant vor der Europawahl austritt und die Frage nach der Zukunft der nordirischen Grenze erst während einer Übergangszeit bis 2020 geregelt wird.

Drittens: Spaltung der EVP

Ein drittes Szenario, das der S&D noch eine Chance auf den ersten Platz im Parlament geben könnte, wäre die Spaltung der Europäischen Volkspartei. Schon seit mehreren Monaten ist die EVP über den Umgang mit ihrem ungarischen Mitglied, Viktor Orbáns Partei Fidesz, zerstritten: Während der rechte Flügel Orbán als politisches Vorbild behandelt, sieht der gemäßigt-liberale Flügel ihn als Bedrohung für die Demokratie. Vergangenen Mittwoch unterstützte die EVP-Fraktion nun mehrheitlich den Beschluss des Europäische Parlaments, ein Artikel-7-Verfahren gegen die ungarische Regierung einzuleiten.

Dies legt nahe, dass die Fidesz nun auch aus der EVP ausgeschlossen wird: Wenn die Christdemokraten der Meinung sind, dass die ungarische Regierung gegen die europäischen Werte verstößt, wie könnten sie dann die ungarische Regierungspartei weiter in ihren Reihen dulden? Sollte die Fidesz gehen, würde das die EVP jedoch mindestens deren 13 Sitze kosten. Hinzu könnten noch weitere Abgeordnete aus anderen Ländern kommen. So stimmte etwa Forza Italia nicht nur gegen den Artikel-7-Beschluss im Europäischen Parlament; die italienischen Medien spekulieren auch seit einigen Wochen über eine mögliche Fusion mit der Rechtsaußenpartei Lega (ENF) – obwohl die Parteispitze diese Gerüchte bislang dementiert.

Bei einer Abspaltung ihres rechten Flügels würde der Vorsprung der EVP vor den Sozialdemokraten wohl nicht komplett verloren gehen, aber deutlich schrumpfen. Allzu wahrscheinlich ist jedoch auch dieses Szenario nicht. Aus machttaktischen Gründen hat die Fraktionsspitze um Manfred Weber (CSU/EVP) jedenfalls kein Interesse daran, die Fidesz auszuschließen. Dass die Fraktion für den Artikel-7-Beschluss stimmte, lässt sich als Versuch verstehen, die Wogen zu glätten und das Thema aus dem Weg zu räumen, um die Bewerbung Webers als Spitzenkandidat seiner Partei nicht zu gefährden. Unmittelbare konkrete Auswirkungen hat die Entscheidung nicht. Und auch Viktor Orbán hat keinen Anreiz, aus der EVP auszutreten, solange er hoffen kann, dass diese ihn weiterhin protegiert, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit nach der Europawahl wieder nachlässt.

ALDE wieder unter 100 Sitzen

Insgesamt ist also nicht zu erwarten, dass die EVP ihren Vorsprung vor der Europawahl noch hergibt. Es überrascht deshalb nicht, dass in den übrigen Parteien zunehmend Kritik an einer Lesart des Spitzenkandidaten-Verfahrens laut wird, das dem Kandidaten der stärksten Fraktion die Kommissionspräsidentschaft garantiert. Besonders lautstark übten diese Kritik zuletzt der Vorsitzende der französischen Regierungspartei LREM, Christophe Castaner, und der Chef der liberalen ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE).

Das Wort dieser beiden Akteure hat durchaus Gewicht, da die Große Koalition aus EVP und S&D bei der Europawahl mit hoher Sicherheit ihre Mehrheit verlieren und dann auf die Zusammenarbeit mit der ALDE (und/oder einer möglichen neuen Fraktion unter Führung von LREM) angewiesen sein wird. Tatsächlich haben die europäischen Liberalen, die sich gern als Gegenpol zu den europaskeptischen und rechtspopulistischen Bewegungen inszenieren, seit der letzten Europawahl stark dazugewonnen. In den aktuellen Umfragen muss die ALDE allerdings einen Rückschlag hinnehmen: Mit 95 Sitzen (–7) fällt sie erstmals seit Juni 2017 wieder unter die symbolische 100er-Marke. Verluste erleiden insbesondere LREM und ihre wichtigsten Verbündeten, etwa die spanischen Ciudadanos und die niederländischen D66.

Linke und Grüne gewinnen hinzu

Über Zugewinne freuen können sich hingegen die kleineren Fraktionen auf der linken Seite des politischen Spektrums: Die Linksfraktion GUE/NGL legt in Frankreich, Spanien und den Niederlanden leicht zu und käme nun auf 60 Sitze (+3). Und auch die Fraktion der Grünen/EFA setzt ihren nun schon über ein Jahr andauernden Aufstieg fort: Dank Zugewinnen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Dänemark erreicht sie in der Projektion 42 Mandate (+4) – ihr bester Wert seit November 2014.

Dabei sind die Grünen allerdings noch mehr als andere Fraktionen von kleinen Schwankungen in der Wählergunst abhängig: Viele ihrer Mitgliedsparteien befinden sich in den Umfragen meist in etwa auf Höhe der nationalen Sperrklausel. Aktuell befinden sich die französische EELV, die schwedische MP, die dänischen SF und Alternativet, die ungarische LMP und die luxemburgischen Gréng knapp über der Hürde, die österreichischen Grünen knapp darunter. Wie viele verschiedene Mitgliedsparteien die grüne Fraktion letztlich wirklich umfasst, wird deshalb wohl bis zuletzt spannend bleiben. Auch im schlechtesten Fall dürfte die G/EFA jedoch auf mindestens 25 Mitglieder aus mindestens sieben verschiedenen Ländern kommen und damit weiterhin die Bedingungen erfüllen, um eine eigene Fraktion zu bilden.

Das rechte Lager ist stabil

Weitgehend stabil zeigt sich in den aktuellen Umfragen das rechte und europaskeptische Lager. Die rechtskonservative EKR-Fraktion kommt unverändert auf 50 Sitze (±0): Ihre schwedische Mitgliedspartei SD schnitt bei der nationalen Parlamentswahl vor zwei Wochen zwar schlechter ab als erwartet. Dafür legte aber die polnische PiS zuletzt noch einmal etwas zu und erreicht in der Projektion nun 28 Mandate. Sie wäre damit – gleichauf mit der deutschen CDU/CSU (EVP) und knapp vor der italienischen Lega (ENF) – die stärkste nationale Einzelpartei im Europäischen Parlament.

Die nationalpopulistische EFDD-Fraktion, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin nach der Europawahl auflösen wird, kommt in der Projektion noch auf 21 Sitze (–1). Hinzugewinnen kann die Rechtsaußen-Fraktion ENF, die dank besserer Umfragewerte für die Lega und das französische RN inzwischen 59 Sitze erreichen würde (+3).

Fraktionslose und weitere Parteien

Keine Veränderungen gibt es bei den größtenteils rechtsextremen fraktionslosen Parteien, die wie vor acht Wochen auf 10 Sitze kommen (±0).

Etwas größer wird schließlich die Gruppe der „weiteren Parteien“, die sich nach der Wahl voraussichtlich einer Fraktion im Parlament anschließen werden, ohne dass man jedoch bereits sagen könnte, welche das sein wird. Hier konnte in den letzten Wochen insbesondere die technokratisch-zentristische RO+ aus Rumänien in den Umfragen deutlich zulegen. Neu im Tableau ist die griechische Rechtsaußen-Partei Elliniki Lysi, die eine Orientierung Griechenlands an Russland statt an der EU fordert. Gemeinsam erreichen die „weiteren Parteien“ nun 50 Sitze (+2).

Dynamisches Szenario

Dynamisches Szenario,
Stand: 18.09.2018.
Insgesamt ist damit zu rechnen, dass sich nach der Europawahl zahlreiche nationale Parteien im Europäischen Parlament eine neue Fraktion suchen werden. Das „dynamische Szenario“ der Projektion soll diesen Ungewissheiten Rechnung tragen, indem es gezielt von starken Annahmen über künftige Veränderungen beim Zuschnitt der Fraktionen ausgeht. Insbesondere sind dies:

● die Gründung einer neuen „En Marche“-Fraktion, der sich ein Großteil der proeuropäischen ALDE-Mitglieder sowie einige weitere Parteien anschließen,
● die Auflösung der EFDD-Fraktion, deren Mitglieder sich auf EKR und ENF verteilen,
● die Zuordnung aller „weiteren Parteien“ zu jener Fraktion, die ihnen politisch am nächsten zu stehen scheint.

Gegenüber dem Basisszenario ergäben sich dabei für GUE/NGL (61 Sitze), G/EFA (42), S&D (140) und EVP (178) keine oder nur geringe Veränderungen. Die „En Marche“-Fraktion könnte im dynamischen Szenario mit 55 Sitzen rechnen und wäre damit etwas stärker als die Rest-ALDE (49). Die EKR wäre mit 90 Sitzen drittstärkste Fraktion, doch auch die ENF würde massiv zulegen (80). Auch im dynamischen Szenario nicht berücksichtigt sind die Folgen einer möglichen Abspaltung des rechten Flügels der EVP, von der insbesondere die ENF noch weiter profitieren könnte.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dabei dem Basis-Szenario. Die Veränderungen im dynamischen Szenario sind durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet. Im Vergleich zur Basis-Projektion ist das dynamische Szenario spekulativer, angesichts der absehbaren Veränderungen im Fraktionszuschnitt könnte es aber näher an der wirklichen Gestalt des Europäischen Parlaments nach der Europawahl liegen.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Da das Vereinigte Königreich noch vor der nächsten Europawahl aus der Europäischen Union austreten wird, werden die britischen Parteien in der Projektion seit Mai 2017 nicht mehr berücksichtigt. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 51 52 189 68 219 73 43 35 21
Juli 18 57 38 145 102 177 50 22* 56 10 48
Sept. 18 60 42 140 95 178 50 21* 59 10 50
DE 9 Linke
1 Tier
13 Grüne
1 Piraten
1 ödp
17 SPD 8 FDP
1 FW
28 Union 1 Familie 14 AfD
1 Partei
1 NPD
FR 12 FI 5 EELV 5 PS 20 LREM 13 LR
6 DLF 18 RN

IT

15 PD
8 FI
1 SVP


27 LN
25 M5S
ES 9 UP 1 ERC
1 Comp
1 ICV
17 PSOE 13 Cʼs
1 PDeCAT
15 PP

1 Vox

PL

4 SLD
16 PO 28 PiS


4 Kʼ15
RO

14 PSD 4 ALDE
3 USR
7 PNL



5 RO+
NL 3 SP
1 PvdD
4 GL 2 PvdA 6 VVD
2 D66
3 CDA 1 CU
3 PVV
3 FvD
1 DENK
EL 6 Syriza
2 KINAL 1 EK 8 ND


2 XA
1 KKE
1 EL
BE 1 PTB 2 Groen
1 Ecolo
1 sp.a
3 PS
2 OpenVLD
2 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 1 CDU
2 BE

10 PS
8 PSD-CDS




CZ 2 KSČM 3 Piráti 2 ČSSD 7 ANO 2 KDU-ČSL 3 ODS
2 SPD

HU
1 LMP 3 MSZP
1 DK

13 Fidesz


3 Jobbik
SE 2 V 1 MP 6 S 2 C
1 L
4 M
1 KD
4 SD



AT
6 SPÖ 1 Neos 7 ÖVP

5 FPÖ

BG

6 BSP 2 DPS 7 GERB



2 OP
DK 1 FmEU 1 Å
1 SF
4 S 3 V
1 RV

3 DF



FI 1 Vas 2 Vihr 4 SDP 3 Kesk 3 Kok 1 PS



SK

3 SMER
1 M-H 2 OĽ-NOVA
2 SaS

2 SNS 2 ĽSNS 2 SR
IE 4 SF

4 FF 5 FG




HR 2 ŽZ
3 SDP
6 HDZ



1 Most
LT
2 LVŽS 1 LSDP
1 LSDDP
1 LRLS
1 DP
3 TS-LKD
1 TT

1 LCP
LV

2 SDPS 1 ZZS 1 V
1 PAR
1 NA


1 KPV
1 JKP
SI 1 Levica
1 SD
4 SDS
1 NSi-SLS




1 LMŠ
EE

1 SDE 2 KE
2 RE





2 EKRE
CY 2 AKEL
1 DIKO
3 DISY




LU
1 Déi Gréng 1 LSAP 1 DP 3 CSV




MT

4 PL
2 PN





Verlauf


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
18.09.2018 60 42 140 95 178 50 21 59 10 50
23.07.2018 57 38 145 102 177 50 22 56 10 48
678 Sitze 55 38 137 96 173 50 21 53 10 45
29.05.2018 55 37 137 103 178 43 23 46 12 44
03.04.2018 58 33 137 104 180 41 23 44 12 46
05.02.2018 65 33 142 102 179 47 42 41 11 16
13.12.2017 56 30 142 109 196 45 37 36 9 18
16.10.2017 55 28 150 106 192 45 38 37 12 15
22.08.2017 57 24 149 108 196 42 29 44 12 17
27.06.2017 55 23 155 109 201 38 28 42 11 16
02.05.2017 46 28 170 82 198 35 27 59 12 21
mit GB 47 35 186 88 198 68 36 59 13 21
06.03.2017 50 35 182 80 191 69 48 60 14 22
16.01.2017 48 40 180 82 191 63 48 68 14 17
14.11.2016 48 38 182 91 194 65 47 61 13 12
13.09.2016 47 38 181 91 189 62 53 63 14 13
26.07.2016 48 39 185 90 192 59 54 61 13 10
25.05.2016 55 40 174 85 187 63 51 70 14 12
05.04.2016 52 37 179 85 192 72 50 53 15 16
07.02.2016 51 34 183 82 196 70 51 55 12 17
14.12.2015 52 33 185 87 192 68 52 53 12 17
17.10.2015 51 33 193 75 204 66 51 54 12 12
21.08.2015 56 35 190 74 204 70 47 49 11 15
30.06.2015 61 34 188 73 205 69 43 47 11 20
03.05.2015 60 32 193 80 205 62 44 51 15 9
10.03.2015 60 31 196 77 216 60 43 49 12 7
12.01.2015 65 40 190 70 212 59 47 43 17 8
18.11.2014 60 42 195 69 212 59 47 43 16 8
23.09.2014 53 39 196 67 223 61 47 40 15 10
28.07.2014 56 47 191 75 215 66 44 40 13 4
EP 01.07.14 52 50 191 67 221 70 48 37 15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014.
Bis März 2017 sind die Werte der Sitzprojektion einschließlich dem Vereinigten Königreich angegeben, ab Mai 2017 ohne das Vereinigte Königreich. Die Zeile „mit GB“ kennzeichnet die Werte für Mai 2017 mit dem Vereinigten Königreich.
Im Juni 2018 beschloss der Europäische Rat eine Umverteilung eines Teils der britischen Sitze auf andere Mitgliedstaaten, wodurch das Parlament nach der Europawahl 2019 von 678 auf 705 Sitze erweitert wird. Dies ist ab Juli 2018 in der Projektion berücksichtigt. Die Zeile „678 Sitze“ kennzeichnet die Werte für Juli 2018 ohne die zusätzlichen Sitze.
Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (BENF) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den „weiteren“ Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung

Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt oder ein Fraktionswechsel erscheint aus anderen Gründen sehr wahrscheinlich. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser bleibt es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Nach der Europawahl 2019 könnte es zu größeren Veränderungen beim Zuschnitt der Fraktionen kommen. Zum einen hat die derzeit nicht im Parlament vertretene französische Partei LREM zwar programmatische und strategische Überschneidungen mit der ALDE-Fraktion, strebt aber die Gründung einer eigenen Fraktion an. Welche anderen Parteien sich an einer solchen zentristischen „En Marche“-Fraktion beteiligen könnten, ist derzeit weitgehend offen; einige Überlegungen dazu sind hier nachzulesen. Zum anderen könnte sich die EFDD-Fraktion auflösen, sodass sich deren bisherige Mitglieder auf die anderen Rechtsfraktionen verteilen werden. Außerdem werden sich voraussichtlich alle oder die meisten der „weiteren Parteien“ einer schon bestehenden Fraktion anschließen. Um das mögliche Ausmaß dieser Veränderungen deutlich zu machen, sind Parteien, die sich nach der Europawahl einer neuen Fraktion anschließen könnten, in der Tabelle mit der Farbe ihrer möglichen künftigen Fraktion gekennzeichnet; außerdem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Diese Zuordnungen sind allerdings stark von einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien geprägt und daher recht spekulativ.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet (Stichtag ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Feldforschung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung). Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Belgien und Irland, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt, werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion wurden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
Das irische Sitzkontingent erhöht sich durch den Beschluss zur Erweiterung des Parlaments auf 705 Abgeordnete um zwei Sitze. Dies wird voraussichtlich zu einem Neuzuschnitt der regionalen Wahlkreise in Irland führen. Die Projektion basiert auf der Annahme, dass es künftig vier Wahlkreise geben wird, von denen einer vier, die anderen drei Abgeordnete wählen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Projektion jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt. Insbesondere werden für Spanien folgende Listenverbindungen angenommen: Unidos Podemos, Compromís und ICV (mit Compromís auf dem 3., ICV auf dem 6. Listenplatz); PDeCAT, PNV und CC (mit PNV auf dem 2., CC auf dem 4. Listenplatz).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD).
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Feldforschung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 6.-17.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Europawahl-Umfragen, 31.8.-13.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Italien: nationale Umfragen, 6.-17.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 7.-14.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 8.-17.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 20.8.2018, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 9.-16.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 8.-15.9.2018, Quelle: Poll of polls.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 6.6.2018, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 6.6.2018, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: nationale Umfragen, 2.-12.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 15.-28.8.2018, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 10.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Schweden: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 9.9.2018.
Österreich: nationale Umfragen, 5.-13.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 25.6.-6.7.2018, Quelle: Poll of polls.
Dänemark: nationale Umfragen, 8.-16.9.2018, Quelle: Poll of polls.
Finnland: nationale Umfragen, 25.8.-4.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 9.-17.8.2018, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 13.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 8.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 31.8.2018, Quelle: Poll of polls.
Lettland: nationale Umfragen, 2.-14.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: nationale Umfragen, 26.8.-6.9.2018, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 22.-26.8.2018, Quelle: Wikipedia.
Zypern: nationale Umfragen, 16.1.2018, Quelle: Poll of polls.
Luxemburg: nationale Umfragen, Mai 2018, Quelle: Luxemburger Wort.
Malta: nationale Umfragen, 30.8.2018, Quelle: Wikipedia.

Bilder: Eigene Grafiken.

05 September 2018

Das Spitzenkandidaten-Dilemma

Manfred Weber hat gute Chancen, Spitzenkandidat der EVP zu werden. Aber hätte er auch eine Mehrheit im Parlament?
Das Rennen ist eröffnet: Ab dem morgigen Donnerstag können sich Mitglieder der Europäischen Volkspartei offiziell bewerben, um am 8. November auf dem Parteikongress in Helsinki zum EVP-Spitzenkandidaten für die kommende Europawahl nominiert zu werden. Auch der erste Interessent für diese Rolle steht bereits fest: Manfred Weber (CSU/EVP), derzeit Fraktionschef im Europäischen Parlament, sicherte sich in der vergangenen Woche die Unterstützung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP). Er gilt damit derzeit vielen als der Favorit, um nach der Europawahl 2019 die Nachfolge von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) als Präsident der Europäischen Kommission anzutreten.

Webers Machtbasis ist der Orbán-Flügel der EVP

Doch Webers starke Startposition gründet sich nicht allein auf die Unterstützung Angela Merkels, die ohnehin nicht allzu enthusiastisch ausfiel. Seine eigentliche Machtbasis ist die Fraktion im Europäischen Parlament – und dort speziell der rechte Flügel, der den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/EVP) als politisches Vorbild für die Europäische Union sieht. Zusammen mit dem EVP-Parteivorsitzenden Joseph Daul (LR/EVP) blockte Weber bislang jeden Versuch, Orbáns zunehmend autoritäre Partei aus der EVP auszuschließen, und verteidigte sowohl die ungarische Flüchtlingspolitik als auch Orbáns Äußerung, die Zeit der liberalen Demokratie sei vorüber. Auch dass Weber regelmäßig die christliche Identität Europas betont und die Position vertritt, der Islam habe „keinen Beitrag zu unseren Werten geleistet“, sieht man im Orbán-Lager gern.

Wenn es Weber im November tatsächlich gelingt, sich die EVP-Spitzenkandidatur zu sichern, so wird er dies also wesentlich dem rechten Flügel der Partei zu verdanken haben, zu dem neben Orbán unter anderem auch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP/EVP), der französische Parteichef Laurent Wauquiez (LR/EVP) und der neue spanische Parteichef Pablo Casado (PP/EVP) zählen. Auf Gegenwehr dürfte seine Kandidatur hingegen beim gemäßigt-liberalen Flügel stoßen, der vor allem EVP-Politiker aus den nordischen und den Benelux-Ländern umfasst.

Ein politisches Dilemma für Sozialdemokraten und Liberale

Es ist deshalb durchaus möglich, dass sich im November noch ein gemäßigter Gegenkandidat gegen Weber durchsetzt. Dies könnte etwa Michel Barnier (LR/EVP) sein, Teil der alten Garde der EVP und derzeit Chefverhandler der EU in den Brexit-Gesprächen, der die Frage seiner Kandidatur jüngst explizit offen hielt. Allerdings spielt die Zeit gerade gegen Barnier, da sich die Brexit-Verhandlungen länger hinziehen als erwartet. Das könnte die Tür für den früheren finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb (Kok./EVP) öffnen, der für einen zentristisch-liberalen und explizit pro-europäischen Kurs steht und zudem wie Weber einer jüngeren Generation angehört. (Aktuelle Übersichten über weitere mögliche Spitzenkandidaten bieten Politico und Jon Worth.)

Doch die kombinierte Unterstützung der Merkel-CDU und des rechten Flügels gibt Manfred Weber jedenfalls eine gute Ausgangslage für den EVP-Parteikongress. Ihn zu schlagen wird keinem anderen Bewerber leicht fallen. Und damit stehen auch die übrigen europäischen Parteien, vor allem Sozialdemokraten und Liberale, vor einem politischen Dilemma: Würden sie einen Kandidaten von Viktor Orbáns Gnaden für das Amt des Kommissionspräsidenten unterstützen, wenn – wie zu erwarten ist – die Europäische Volkspartei bei der Europawahl 2019 wieder die stärkste Fraktion wird?

Die Herkunft des Spitzenkandidaten-Verfahrens

Um dieses Dilemma zu verstehen, muss man an die Entstehung des Spitzenkandidaten-Verfahrens vor fünf Jahren zurückdenken. Bis 2009 waren die Präsidenten der Europäischen Kommission stets von den nationalen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat ausgewählt und dann vom Europäischen Parlament lediglich abgenickt worden – ein intransparentes und wenig demokratisches Verfahren, das zur Ernennung von schwachen und uncharismatischen Präsidenten wie Romano Prodi (Dem./ELDR) oder José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) geführt hatte.

Das Spitzenkandidaten-Prinzip revolutionierte dieses Verfahren: 2014 nominierten die europäischen Parteien erstmals schon vor der Europawahl ihre Bewerber für die Kommissionspräsidentschaft und nahmen so dem Europäischen Rat das Heft aus der Hand. Um sich gegen den erwartbaren Widerstand der Staats- und Regierungschefs durchzusetzen, mussten die großen europäischen Parteien sich jedoch zu einem Pakt zusammenschließen. In einer gemeinsamen Erklärung kündigten die drei größten Fraktionen (die EVP, die sozialdemokratische S&D und die liberale ALDE) vor der Europawahl 2014 an, dass sie im Europäischen Parlament niemanden zum Kommissionspräsidenten wählen würden, der nicht zuvor als Spitzenkandidat angetreten war. Der Kandidat der stärksten Fraktion sollte dabei „als Erster versuchen, die nötige Mehrheit [im Europäischen Parlament] zu bilden“.

Juncker siegte – als „Kandidat der stärksten Fraktion“

Der Ausgang von damals ist bekannt: Bei der Europawahl 2014 gewann die Europäische Volkspartei die meisten Sitze, woraufhin sich auch die übrigen europäischen Parteien schnell hinter dem EVP-Kandidaten Jean-Claude Juncker versammelten. Die Staats- und Regierungschefs sträubten sich zwar noch kurz, akzeptierten aber letztlich das Ergebnis, als sich auch Angela Merkel, von der deutschen Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, hinter Juncker stellte. Am 15. Juli 2014 wurde er zum Kommissionspräsidenten gewählt. Das Spitzenkandidaten-Verfahren hatte sich durchgesetzt.

Vor allem aber setzte sich mit Junckers Erfolg auch eine bestimmte Interpretation dieses Verfahrens durch: nämlich dass das Amt des Kommissionspräsidenten stets an den Kandidaten der stärksten Fraktion gehen müsse. Schließlich war das das Kriterium gewesen, das die drei Fraktionschefs in der gemeinsamen Erklärung vor der Wahl formuliert hatten, und auch das Argument, mit dem Junckers sozialdemokratischer Gegenkandidat Martin Schulz (SPD/SPE) nach der Wahl seine Unterstützung für Juncker erklärte.

Demokratische Anomalie“

Doch ist diese Lesart wirklich zwingend? Fünf Jahre später löst die Aussicht auf einen möglichen Kommissionspräsidenten Weber bei Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen jedenfalls starke Ablehnung aus. Der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), der Anfang 2017 noch eine Art Koalitionsvertrag mit Weber unterzeichnet hatte, griff im vergangenen April scharf dessen Forderung nach einer europäischen Leitkultur an. Die europapolitische Sprecherin der deutschen Grünen (EGP), Franziska Brantner, erklärte gestern auf Twitter, ihre Partei wolle „einen progressiven Kommissionspräsidenten“ und werde sicherlich nicht den Chef einer Fraktion mitwählen, „die immer noch Orbán willkommen heißt“.

Christophe Castaner, Vorsitzender der französischen Regierungspartei LREM, nutzte die Gelegenheit wiederum, um gegen das Spitzenkandidaten-Verfahren an sich zu polemisieren: Dass die stärkste Partei auch ohne eine absolute Mehrheit grundsätzlich den Kommissionspräsidenten stellen solle, sei eine „demokratische Anomalie“. Und der Sozialdemokrat Jo Leinen (SPD/SPE) hob hervor, die Kommissionspräsidentschaft gehe eben nicht unbedingt an den Kandidaten der stärksten Fraktion, sondern an den, der „eine Mehrheit der Europaabgeordneten“ hinter sich vereine. Es gebe deshalb „keinen Automatismus“ zugunsten der EVP. „Andere Mehrheiten“ seien „möglich und wahrscheinlich“.

Kein Automatismus zugunsten der stärksten Fraktion …

Und natürlich haben die Weber-Gegner im Grundsatz Recht: Eine Regel, nach der der Kandidat der stärksten Fraktion zwingend Kommissionspräsident würde, ist weder rechtlich noch demokratietheoretisch zu begründen. In einem parlamentarischen Regierungssystem braucht die Regierung eine Mehrheit im Parlament, und wenn keine Partei diese allein gewinnt, werden eben Koalitionen (oder Vereinbarungen zur Tolerierung einer Minderheitsregierung) geschlossen.

Dass dabei die größte Partei als Erste den Versuch macht, eine Regierung zu bilden, ist bestenfalls politische Konvention, aber kein Automatismus. Aktuell befindet sich in acht der 28 EU-Mitgliedstaaten – Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Portugal, Slowenien und Spanien – die größte Partei im nationalen Parlament in der Opposition.

… aber gibt es ohne die EVP eine Mehrheit?

In der Praxis dürften die von Jo Leinen vorausgesagten „anderen Mehrheiten“ nach der Europawahl 2019 jedoch nur schwierig zu erreichen sein. Das beginnt schon mit der reinen Sitze-Arithmetik: Nach den aktuellen Umfragen kommen die Parteien links der EVP bei der Europawahl 2019 allenfalls auf eine hauchdünne Mehrheit – und auch das nur, wenn sich alle Abgeordneten von der Linksfraktion GUE/NGL bis zur liberalen ALDE hinter einem gemeinsamen Kandidaten versammeln. Mehr noch: Ein solches Anti-Weber-Bündnis müsste zwingend auch die französische LREM umfassen, die das Spitzenkandidaten-Prinzip rundheraus ablehnt.

Und selbst wenn die Mitte-links-Parteien bis zur Wahl noch zulegen, sodass eine Mehrheit ohne die EVP nicht mehr ganz so schwierig zu bilden wäre, spricht auch die zeitliche Dynamik gegen einen solchen Versuch. Ein entscheidender Faktor, durch den sich Jean-Claude Juncker 2014 gegen die Widerstände der nationalen Regierungen durchsetzen konnte, war die öffentliche Erwartungshaltung: Ehe der Europäische Rat irgendeinen Alternativnamen ins Gespräch bringen konnten, hatte sich das Europäische Parlament schon längst hinter ihm versammelt. Den Staats- und Regierungschefs blieb deshalb nur, seine Ernennung zu akzeptieren oder eine institutionelle Krise vom Zaun zu brechen.

Streit im Parlament brächte den Europäischen Rat zurück ins Spiel

Sollten die Sozialdemokraten 2019 wirklich versuchen, eine Mehrheit ohne die EVP zu bilden, so würde das mit Sicherheit einige Wochen dauern, und man darf damit rechnen, dass die EVP in dieser Zeit ihr Möglichstes täte, um diese Versuche ihrer Gegner in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Die Frage, wer der nächste Kommissionspräsident wird, wäre deshalb zunächst völlig offen. Und das wiederum würde die nationalen Staats- und Regierungschefs wieder ins Spiel bringen: Auf seinem Treffen am 20./21. Juni 2019, einen knappen Monat nach der Wahl, hätte der Europäische Rat die Gelegenheit, einen ganz neuen, eigenen Kandidaten zu präsentieren.

Tatsächlich scheint es nicht abwegig, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wenigstens im Hinterkopf bereits auf ein solches Szenario eingestellt hat. Immerhin hatten Berliner Regierungskreise kurz vor Merkels Unterstützungserklärung für Manfred Weber auch noch zwei weitere mögliche Namen für die Kommissionspräsidentschaft lanciert: Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU/EVP) und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU/EVP).

Beide hätten wohl kaum eine Chance und auch kein Interesse, auf dem EVP-Parteikongress zum Spitzenkandidaten nominiert zu werden. Sie könnten jedoch gut als Kompromissvorschlag dienen, falls Manfred Weber als Spitzenkandidat Erfolg hat, aber nach der Wahl von Sozialdemokraten und Liberalen im Europäischen Parlament blockiert wird. Beide sind wie Weber EVP-Mitglieder aus Deutschland, gehören jedoch dem gemäßigten Parteiflügel an. Von der Leyen könnte als erste weibliche Präsidentin zudem auch noch symbolisch für einen geschlechterpolitischen Fortschritt in der notorisch männerdominierten Kommission stehen.

Ein Triumph für die Gegner der europäischen Demokratie?

Sollte der Europäische Rat nach der Europawahl Altmaier oder Von der Leyen nominieren, ehe das Europäische Parlament sich auf einen anderen Namen geeinigt hat, so läge der Ball wieder bei den Europaabgeordneten. Würden sie wirklich eine institutionelle Krise in Kauf nehmen, ohne selbst eine konkrete Alternative zu haben? Der Druck, sich auf den Kompromissvorschlag des Europäischen Rates einzulassen, wäre hoch.

Doch wenn es dazu käme, könnten die Gegner einer europäischen Parteiendemokratie einen Triumph feiern: Das Spitzenkandidaten-Verfahren wäre schon beim zweiten Versuch gescheitert, und vor den Augen der Öffentlichkeit hätten statt der europäischen Parteien nur die nationalen Staats- und Regierungschefs ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Paradoxerweise könnte sich auch in diesem Fall Viktor Orbán als Sieger fühlen, der das Spitzenkandidaten-Verfahren seit jeher abgelehnt hat und 2014 neben dem britischen Premierminister David Cameron (Cons./AKRE) als Einziger im Europäischen Rat gegen Juncker stimmte.

Bis zur Europawahl kann noch viel geschehen

Als eine Gruppe europäischer Staats- und Regierungschefs Anfang dieses Jahres öffentlich ihre Ablehnung gegen des Spitzenkandidaten-Verfahren erklärte, beschrieb ich das auf diesem Blog als ein sinnloses Rückzugsgefecht: Am Ende würde das Europäische Parlament wie schon 2014 auch diesmal strukturell am längeren Hebel sitzen. Der Rechtsruck der EVP und die Spaltungen zwischen den großen europäischen Parteien lassen diese Prognose nun etwas zweifelhafter erscheinen.

Doch bis zur Europawahl kann natürlich noch viel geschehen. Einstweilen lohnt es sich, den 8. November im Kalender zu markieren: Der Parteikongress in Helsinki könnte zur wichtigsten Richtungsentscheidung werden, die die Europäische Volkspartei jemals getroffen hat.

Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr.