- Angela Merkel gewann als Spitzenkandidatin der CDU/CSU (EVP) die Bundestagswahl 2013. Und darum wird der Bundespräsident sie auch als Kanzlerin vorschlagen.
Man kennt die Entwicklung
aus der Geschichte vieler Nationalstaaten: Irgendwann im Verlauf der
Moderne hörten die Monarchen auf, sich beim Beherrschen ihres Landes
selbst um die Alltagsgeschäfte zu kümmern. Stattdessen wählten sie
einen Vertrauten aus, den sie zum Regierungschef ernannten. Die
Verfassungsbewegungen des 19. Jahrhunderts schließlich forderten,
dass die Regierung nicht dem Staatsoberhaupt, sondern dem Parlament
verantwortlich sein solle. Und mit teils mehr, teils weniger
friedlichen Mitteln wurde diese Praxis zuletzt in allen
parlamentarischen Demokratien durchgesetzt.
Übrig geblieben ist in
den meisten Ländern nur ein Vorschlagsrecht, das der Staatschef bei
der Ernennung der Regierung ausüben kann: Der deutsche
Bundespräsident etwa darf nach Art. 63
Abs. 1 GG den Bundeskanzler vorschlagen, der spanische König
hat ähnliche Kompetenzen nach Art. 99
Abs. 1 der spanischen Verfassung, der belgische König nach
Art. 96
der belgischen. Bisweilen verpflichten die Verfassungen die
Staatsoberhäupter explizit, sich vor ihrem Vorschlag mit den
Parlamentsfraktionen zu beraten, um einen mehrheitsfähigen
Kandidaten zu finden. In aller Regel aber handelt es sich dabei nur
um eine Formalie, da die Parteien ohnehin schon vor der Wahl ihre
Spitzenkandidaten benannt haben. Die echte Entscheidung fällt
deshalb bereits an den Urnen oder in den anschließenden
Koalitionsverhandlungen; und nur in seltenen politischen Krisen kommt
es vor, dass doch einmal ein Staatsoberhaupt bei
der Regierungsbildung eine zentrale Rolle spielt.
Der Europäische Rat
als „kollektiver Staatschef“
Auf europäischer Ebene aber
scheinen sich die Konflikte des 19. Jahrhunderts gerade im
Schnelldurchlauf noch einmal abzuspielen. Natürlich nicht in einer
direkten Kopie: Einen EU-Alleinherrscher hat es nie gegeben.
Doch wie der der französische Politikwissenschaftler und
Europaabgeordnete Maurice
Duverger schon 1990 feststellte, lässt sich der Europäische Rat
(der sich aus den nationalen Regierungschefs der Mitgliedstaaten
zusammensetzt) im europäischen politischen System durchaus als eine Art „kollektives
Staatsoberhaupt“ betrachten. Jedenfalls gleichen seine Funktionen
jenen, die im Nationalstaat meist der Staatschef einnimmt: Nach
Art. 15 EUV
legt er „die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und
Prioritäten“ der EU fest, ohne selbst gesetzgeberisch tätig zu
werden. Konkrete Kompetenzen hat er kaum, vor allem in Krisenzeiten
spielt er aber eine zentrale Rolle. Der Ratspräsident vertritt die
EU wie ein Staatsoberhaupt nach außen. Und natürlich hat der
Europäische Rat ein Vorschlagsrecht bei der Wahl des Regierungschefs
– also des Präsidenten der Europäischen Kommission.
Und auch in der
historischen Entwicklung dieses Vorschlagsrechts zeigen sich einige
Analogien zur nationalen Verfassungsgeschichte. So wurden die
Kommissionsmitglieder in der Anfangszeit der europäischen
Integration allein von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt,
ganz so wie die Premierminister der frühen Neuzeit allein dem
Monarchen verantwortlich waren. Erst 1992 erhielt das Europäische
Parlament durch den Vertrag von Maastricht das Recht, über die vom
Europäischen Rat gewünschten Kommissionsmitglieder eine Abstimmung
durchzuführen. In späteren Vertragsreformen wurde dieses
Mitspracherecht weiter ausgebaut, bis es 2009 durch den Vertrag von
Lissabon seine heutige Form erhielt.
Insbesondere fand dabei
eine begriffliche Änderung statt: Nach der Vor-Lissabon-Formulierung
wurde der Kommissionspräsident vom Europäischen Rat „ernannt“ und
das Parlament musste seine „Zustimmung“ dazu geben (Art. 214
Abs. 2 EGV). Nach dem heutigen Art. 17
Abs. 7 EUV hingegen „schlägt“ der Europäische Rat
lediglich einen Kandidaten „vor“ und „berücksichtigt“ dabei
die Ergebnisse der Europawahl. Die eigentliche „Wahl“ des
Kommissionspräsidenten liegt dann bei den Abgeordneten – ganz wie
man das von modernen parlamentarischen Systemen kennt.
Zurückhaltung des
Parlaments
Aber natürlich sind
schöne Worte im EU-Vertrag immer nur so viel wert, wie sie in der
politischen Praxis mit Leben gefüllt werden. In der Vergangenheit
jedenfalls ging das Europäische Parlament eher zurückhaltend mit
seinem Zustimmungsrecht um: 2004 verhinderte es durch eine
Veto-Drohung die Ernennung des
designierten Justizkommissars Rocco Buttiglione (FI/EVP), 2010
jene der
Kommissarin für humanitäre Hilfe Rumjana Schelewa (GERB/EVP).
Doch was den Kommissionspräsidenten selbst betraf, winkten die
Abgeordneten stets die Kandidaten durch, die der Europäische Rat
gewünscht hatte. Nur vor der Wiederwahl von José Manuel Durão
Barroso (PSD/EVP) 2009 deutete das Parlament einmal kurz an, dass
es auch anders könnte.
Die Folgen dieses
zurückhaltenden und krisenscheuen Verhaltens der Europaabgeordneten
sind bekannt: Seit dem Ende der Amtszeit von Jacques Delors (PS/SPE)
1995 gab es keinen einzigen halbwegs charismatischen
Kommissionspräsidenten mehr; seine Nachfolger Jacques Santer
(CSV/EVP, 1995-1999), Romano Prodi (Dem./ELDR, 1999-2004) und Barroso
(seit 2004) blieben den meisten EU-Bürgern unbekannt. Obwohl das
Europäische Parlament an Macht gewonnen hatte, wurde die Kritik am
Demokratiedefizit der EU nicht leiser. Und das Interesse an den
Europawahlen ging immer mehr zurück, da in der öffentlichen
Wahrnehmung über die wirklich wichtigen Ämter ohnehin nicht an den
Urnen, sondern hinter den geschlossenen Türen des Europäischen
Rates entschieden wurde.
Spitzenkandidaten bei
der Europawahl
2014 aber, bei der ersten
Europawahl nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, soll
sich dies nun ändern. Die große Hoffnung für diese demokratische
Wende sind die Spitzenkandidaten
für das Amt des Kommissionspräsidenten, die die europäischen
Parteien nun erstmals schon vor
der Wahl nominieren wollen. Ganz so, wie vor einer
nationalen Parlamentswahl meist die Spitzenkandidaten der Parteien
für das Amt des Regierungschefs im Mittelpunkt stehen (TV-Duelle und
andere Großveranstaltungen eingeschlossen), könnte auch der
Europawahlkampf durch diese Personalisierung an Aufmerksamkeit
gewinnen – und den Bürgern verdeutlichen, dass sie selbst es sind,
die mit ihrer Wahl über die Besetzung der wichtigsten politischen
Ämter der EU entscheiden.
Doch
natürlich gibt es bei einer solchen Demokratisierung der EU nicht
nur Gewinner. Wenn die europäischen Parteien bereits vor der Wahl
ankündigen, wen sie hinterher als Kommissionspräsidenten sehen
wollen, reduzieren sich drastisch die Spielräume des Europäischen
Rates bei der Ausübung seines Vorschlagsrechts. Die nationalen
Staats- und Regierungschefs waren es gewohnt, bei der Besetzung der
europäischen Spitzenämter weitgehend freie Hand zu haben; nun aber
soll ihre Beteiligung an der Auswahl des Kommissionspräsidenten nur
noch wenig mehr als eine Formalität sein.
Doch
das „kollektive Staatsoberhaupt“ der EU verliert nicht nur
gegenüber dem Europäischen Parlament und den europäischen Parteien
an Einfluss: Auch die Kommission wird durch das neue Verfahren
gestärkt. Denn der Kommissionspräsident wird künftig darauf
verweisen können, dass er selbst als Spitzenkandidat einen Wahlkampf
geführt und eine Mehrheit der europäischen Wähler hinter sich
vereint hat. Durch diese bessere demokratische Legitimität wird es
ihm leichter fallen, die öffentliche Debatte zu prägen und eigene
politische Vorschläge gegebenenfalls auch gegen den Willen mächtiger
nationaler Regierungschefs voranzutreiben.
Die Skepsis der Angela
Merkel
Angesichts
dessen ist es wohl wenig verwunderlich, dass das einflussreichste
Mitglied des Europäischen Rates sich in den letzten Monaten
wiederholt skeptisch gegenüber dem neuen Wahlverfahren geäußert
hat. Bereits im Juni erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU/EVP), sie halte
es für „unerlässlich“, dass die nationalen Staats- und
Regierungschefs auch in Zukunft bei der Berufung des
Kommissionspräsidenten mitreden können. Nach dem Gipfel in der
vergangenen Woche legte
sie noch einmal nach und sprach davon, dass es „keinen
Automatismus zwischen den Spitzenkandidaten und der Ämterbesetzung“
gebe. Nach den Europawahlen müssten erst einmal
„viele Diskussionen“ geführt werden. Und anschließend, so die
Implikation, werde der Europäische Rat sich schon selbst überlegen,
wen er dem Parlament als Kommissionspräsidenten vorschlage.
Doch
so verständlich es ist, dass Angela Merkel sich an ihre Macht als
nationale Regierungschefin klammert: Ein überzeugendes Argument
nennt sie dafür nicht. Im Juni erklärte sie lediglich, ihrer
Meinung nach solle dem Kommissionspräsidenten eine „koordinierende
Funktion über die Politik der nationalen Regierungen zukommen“,
sodass er auch deren Vertrauen genießen müsse. Doch wer sich auch
nur ein klein wenig mit dem institutionellen Gefüge der EU auskennt,
sollte wissen, dass die intergouvernementale Koordination im
Wesentlichen Aufgabe des Ratspräsidenten (derzeit Herman Van Rompuy,
CD&V/EVP) ist. Der Kommissionschef hat eine andere Funktion: Er
soll dem supranationalen Gemeinwohl dienen, das mehr ist als nur die
Summe seiner nationalen Teile.
Demokratischer Fortschritt
Um
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn die europäischen Parteien
Kommissionspräsidentschafts-Kandidaten aufstellen, dann ist das für
die überstaatliche Demokratie in der EU ein elementarer Fortschritt;
und es ist nur zu hoffen, dass Merkels Versuch, diesen Fortschritt
aus institutionellem Eigennutz zu verhindern, am Ende scheitern wird.
Der Verfassungsrechtler Mattias Kumm ging vor gut einem Jahr sogar
einmal so weit, die Wahl des Kommissionspräsidenten aus den
Spitzenkandidaten der europäischen Parteien als
ein Gebot des deutschen Grundgesetzes zu beschreiben, das in
Art. 23 Abs. 1
GG die Bundesrepublik darauf verpflichtet, bei der Entwicklung
der EU auf die Einhaltung von „demokratischen […] Grundsätzen“
zu achten.
Nun
ist es, wie auch Kumm selbst feststellt, eher unwahrscheinlich, dass
das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage aktiv wird. Aber es wäre
ohnehin wünschenswert, wenn wir darauf nicht warten müssten. Denn
bekanntlich befindet sich Merkel selbst derzeit in
Koalitionsverhandlungen mit der SPD (SPE), und zufällig ist deren
Europabeauftragter Martin Schulz auch noch der nahezu
unangefochtene Favorit für die Spitzenkandidatur der europäischen
Sozialdemokraten bei der Europawahl. Man sollte also hoffen, dass wenigstens die SPD hier entschlossen Stellung bezieht – auch
wenn das Thema in den bisherigen Koalitionsgesprächen offenbar noch
keine zentrale Rolle
eingenommen hat.
Und wenn es hart auf
hart kommt?
Richtig
spannend aber dürfte es werden, wenn es am Ende hart auf hart kommt
und der Europäische Rat tatsächlich einen Kandidaten als
Kommissionspräsidenten vorschlägt, der keine Mehrheit im
Europäischen Parlament hat. Im deutschen Grundgesetz ist für die
analoge Situation eine Art Notfallmechanismus eingebaut: Wenn der
Bundestag den Vorschlag des Bundespräsidenten ablehnt, kann er nach
Art. 63 Abs. 3
GG auch einen beliebigen anderen Kandidaten zum Bundeskanzler
wählen. In Art. 17
EUV fehlt eine solche Regel jedoch. Wenn das Parlament den
Vorschlag des Europäischen Rats ablehnt, so wird das Verfahren
einfach wiederholt. Theoretisch könnten die Staats- und
Regierungschefs also beliebig lang immer wieder neue
Kandidaten vorschlagen, die das Parlament dann beliebig lang immer
wieder ablehnen würde. Am Ende käme es nur darauf an, wer das
politisch länger durchhält.
Eine solche
institutionelle Krise ist der Europäischen Union natürlich nicht zu
wünschen. Aber falls es dazu kommt, sollten die Europaabgeordneten
nicht vorschnell klein beigeben. Es ist an der Zeit, die
parlamentarische Demokratie, die sich im Lauf des 19. und 20.
Jahrhunderts in den europäischen Nationalstaaten durchgesetzt hat,
auch auf die EU-Ebene zu übertragen. Die Besetzung der europäischen
Spitzenämter wollen wir Bürger bei der Europawahl selbst in die
Hand nehmen und nicht mehr allein dem 28-köpfigen Kollektivmonarchen
Europäischer Rat überlassen.
Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:
● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
● Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
● Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
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● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
● „Green Primary Debate“ in Berlin: Eindrücke aus einem transnationalen Wahlkampf
● Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
● Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
● Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
● Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
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● Nach der Europawahl
Bild: By Christliches Medienmagazin pro [CC BY 2.0], via Flickr.
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