- Festung oder Hecke? In der Europawahl-Infokampagne von 2009 spielten die europäischen Grenzen eine prominente Rolle. Geändert hat sich seitdem wenig.
Wenn das Unglück, das in
den vergangenen zwei Wochen hunderte Menschen im Mittelmeer vor
Lampedusa das Leben kostete, irgendetwas Gutes hatte, dann wohl dies:
dass die europäische Flüchtlingspolitik wenigstens für eine Weile
in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist.
Während das Thema sonst kaum auf Interesse stößt (wie viele Wähler
werden vor der Bundestagswahl die Positionen
der deutschen Parteien zu dieser Frage zur Kenntnis genommen
haben?), war es in den letzten Tagen plötzlich in allen
Schlagzeilen. Leider enden solche Aufmerksamkeitsschübe jedoch meist ziemlich ergebnislos
– dieses Zeit-Interview
von 2009 zum Beispiel könnte man heute nahezu
wortgleich wieder abdrucken. Hinzu kommt, dass nun sämtliche
Probleme, die irgendwie mit Flüchtlingen zu tun haben, gleichzeitig
verhandelt werden, was zu einer teils sehr disparaten Debatte führt.
Im Folgenden will ich deshalb versuchen, einige der zentralen
Argumente zu sortieren und eine längerfristige Perspektive zu
entwickeln.
Reform der
Dublin-Verordnung
Zu
den ersten Forderungen, die nach dem Unglück laut wurden, zählte
die Reform der europäischen Asylrechts. In dessen Mittelpunkt steht
bislang die sogenannte Dublin-II-Verordnung;
am 1. Januar 2014 wird sie durch die neue Dublin-III-Verordnung
abgelöst, deren Bestimmungen sich jedoch in
den wesentlichen Punkten nicht unterscheiden. Kern der
Dublin-Regelung ist, dass Flüchtlinge einen Asylantrag stets in dem
Mitgliedstaat stellen müssen, in dem sie zuerst das Gebiet der
Europäischen Union betreten haben. Wenn die Bootsflüchtlinge auf
dem Mittelmeer also politischen Schutz beantragen, so tragen die Last
dafür regelmäßig Spanien, Malta, Italien, Zypern oder Griechenland
– während die europäischen Binnenstaaten wie Deutschland oder
Österreich nicht davon betroffen sind.
Eine
der perversen Folgen dieser Regelung ist, dass die südeuropäischen
Länder einen Anreiz haben, Migrationsströme möglichst frühzeitig
in die jeweils anderen Staaten umzuleiten: Ob ein Flüchtlingsboot
Malta oder Lampedusa ansteuert, entscheidet darüber, ob die
maltesische oder italienische Regierung sich um seine Insassen
kümmern muss. Grausamer Höhepunkt dieser Konkurrenz um die
härtesten Bedingungen ist das italienische „Bossi-Fini-Gesetz“,
das seit 2008 die Unterstützung der illegalen Einreise mit harten
Strafen belegt – wobei der Tatbestand so formuliert ist, dass damit
auch Fischer angeklagt werden könnten, die schiffbrüchige
Bootsflüchtlinge retten und in einen italienischen Hafen bringen.
Immerhin fordert die derzeitige italienische Integrationsministerin
Cécile Kyenge (PD/SPE-nah) eine
Reform dieses Gesetzes; doch ob sie dafür im Parlament eine
Mehrheit findet, ist auch nach der jüngsten Katastrophe zweifelhaft.
Ein „Königsteiner
Schlüssel“ für die EU?
Ein
immer
wieder diskutierter Reformvorschlag für das Dublin-System ist
daher die Einführung einer solidarischen Quotenregelung: Flüchtlinge
würden ihre Asylanträge dann nicht mehr in dem Land stellen müssen,
in dem sie zuerst eingereist sind, sondern würden nach einem
bestimmten Schlüssel zwischen den EU-Staaten aufgeteilt. Ein
entsprechendes Verfahren existiert schon heute innerhalb Deutschlands
zwischen den einzelnen Bundesländern: Nach dem sogenannten
„Königsteiner
Schlüssel“ wird jeder Asylbewerber einem Bundesland
zugewiesen, wobei sich die Quote erstens an den Steuereinnahmen und
zweitens an der Bevölkerungszahl des Landes bemisst.
Im
Verfassungsblog haben
nun der Konstanzer Völkerrechtler Daniel Thym, Carolin Beverungen
und Sigrid Gies ausgerechnet, wie die Verteilung aussähe, wenn
man dieses Verfahren auf die europäische Ebene übertragen würde.
Das Ergebnis ist bemerkenswert: Während Malta und Zypern dadurch
deutlich entlastet würden, würde sich etwa für Deutschland wenig
ändern. Und Italien und Spanien müssten mit einer solchen
Quotenregelung sogar deutlich mehr Asylbewerber betreuen als jetzt.
Ist das Dubliner System also besser als sein Ruf und die Klagen der
Südeuropäer völlig unberechtigt?
Nicht
unbedingt. Wie Thym, Beverungen und Gies selbst ansprechen, spiegelt
die Zahl der offiziellen Asylbewerber die tatsächliche Realität
nämlich nur sehr verzerrt wider. Denn die Bootsflüchtlinge in
Südeuropa stellen oft erst gar keinen Antrag, da sie angesichts der
sehr restriktiven Asylpolitik in Europa ohnehin davon ausgehen, dass
dieser abgelehnt würde. Stattdessen versuchen sie unter Gefährdung
ihres Lebens unbemerkt über die Grenze zu gelangen (was in
Deutschland, das aus Nicht-EU-Ländern fast nur mit dem Flugzeug
erreicht werden kann, naturgemäß eher schwierig ist) und dann im
Land unterzutauchen. Das Problem, das die spanische und italienische
Regierung hauptsächlich belastet, ist also nicht die Verteilung der
Asylbewerber, sondern die irreguläre Einwanderung. Eine Reform des
Dublin-Systems wird dadurch zwar nicht unnötig – aber den Kern der
Flüchtlingsnot von Lampedusa trifft sie auch nicht.
Frontex und Eurosur:
die Überwachung der EU-Außengrenzen
Die
zweite große Debatte in diesen Tagen betrifft deshalb den Schutz der
europäischen Außengrenzen. Dieser wird operativ zwar hauptsächlich
von den einzelnen Mitgliedstaaten durchgeführt; sie müssen dabei
aber die europaweit
einheitlichen Standards des Schengener Grenzkodex befolgen und
werden von der EU-Agentur Frontex
koordiniert und technisch unterstützt. Die Frage, wie die Bewachung
der Grenze im Mittelmeer aussehen sollte, um Katastrophen wie die von
Lampedusa künftig zu verhindern, geht deshalb nicht nur die
Südeuropäer, sondern alle Unionsbürger an.
Dabei
gibt es vor allem zwei Denkschulen, die zu diametral
entgegengesetzten Antworten kommen. Die erste von ihnen zielt darauf
ab, die Kontrolle der Grenzen immer engmaschiger zu gestalten, um
irreguläre Migration schlicht unmöglich zu machen. Die Flüchtlinge
sollen erleben, dass sie ohnehin keine Chance haben, unentdeckt nach
Europa zu gelangen, und so von der gefährlichen
Mittelmeer-Überquerung abgehalten werden. In diese Richtung etwa
geht ein lange diskutierter Beschluss, den das Europäische Parlament
ausgerechnet in dieser
Woche verabschiedet hat: die Einführung von Eurosur,
einem von Frontex betriebenen
Informationssystem, das ab Dezember eine möglichst
lückenlose Kontrolle der Schiffsbewegungen auf dem Mittelmeer
durch Satelliten und Drohnen ermöglichen soll.
Mehrheitlich gegen Eurosur
stimmten allerdings die
Fraktionen der Grünen (G-EFA) und der Linken (GUE-NGL); und auch der
Migrationsforscher Hein de Haas übte diese Woche in seinem Blog
scharfe
Kritik an der Abschreckungslogik immer schärferer
Grenzkontrollen. Der Versuch, die gesamte Mittelmeerküste zu
überwachen, sei zum Scheitern verurteilt. Die Überwachung weiter zu
verstärken werde deshalb nicht zu weniger Migration führen, sondern
die Flüchtlinge nur immer mehr von organisierten Schlepperbanden
abhängig machen und diese zu immer riskanteren Touren verleiten.
Statt irreguläre Grenzüberschritte zu bekämpfen, sollte die EU
deshalb besser die legale Einwanderung erleichtern – umso mehr, als
die Zahl der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ohnehin nur einige
zehntausend im Jahr betrage.
Das Elend der anderen
Doch
unabhängig davon, ob man einen lückenlosen Grenzschutz nun für
möglich hält oder nicht: Letztlich scheint mir auch diese Debatte
noch nicht den Kern des Problems zu treffen. Denn selbst wenn es
tatsächlich gelingen sollte, die potenziellen Bootsflüchtlinge
davon zu überzeugen, dass sie ihr Ziel ohnehin nicht erreichen
können, würde dies ja nichts an den Ursachen ändern, wegen denen
sie bereit sind, ein derartiges Wagnis einzugehen. Die Tatsache, dass
Menschen überhaupt eine solch lebensgefährliche Überfahrt
riskieren, ist ein klarer Hinweis darauf, aus welcher Notsituation
heraus sie handeln – selbst wenn es sich dabei nicht immer um Krieg
und Gewalt handelt (was nach der EU-Qualifikationsrichtlinie zu
einer Anerkennung als schutzbedürftige Person berechtigt),
sondern oft auch um soziales und wirtschaftliches Elend. Im Gegensatz
zu politisch Verfolgten genießen Armutsflüchtlinge keinerlei
Anspruch auf Asyl und werden noch heute allzu oft als „freiwillige“
Migranten bezeichnet. Doch betrachtet man ihre realen Lebensumstände,
dann klingt dieses Wort schnell nach blankem Zynismus.
Wir können nun also entweder den Standpunkt beziehen, dass uns die Not
unserer Mitmenschen nichts angeht, solange sie nicht unsere
Staatsbürgerschaft besitzen oder auf unserem Staatsgebiet leben.
Oder wir müssen uns eingestehen, dass auch die beste Sicherung der europäischen Außengrenzen nicht genügen kann. Denn selbst wenn wir entlang der gesamten Mittelmeerküste
eine unüberwindliche Mauer errichten würden, könnte dies nichts
daran ändern, dass jenseits dieser Mauer Menschen leben,
die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um auf unsere Seite
zu gelangen.
Gewiss:
An dieser Stelle erheben sich aus einer bestimmten Ecke des
Meinungsspektrums sofort Stimmen, die darauf verweisen, dass die
Hauptschuld für das wirtschaftliche Elend in Afrika doch bei den
dortigen Eliten liegt, und kritisieren, dass die europäische
„Entwicklungshilfe-Industrie […] oft genug auch noch despotische
Potentaten stützt, indem sie ihnen die sozialen Nöte abnimmt“ (so
jüngst der Cicero-Kolumnist
Wolfgang Bok zum
Lampedusa-Unglück). Aber einmal ganz davon abgesehen, dass es für
diese etwas krude Verelendungstheorie keine allzu überzeugenden
empirischen Belege gibt: Wäre das wirklich ein Grund, die einzelnen
Menschen für die verfehlte Wirtschaftspolitik ihrer Regierung leiden
zu lassen, die sie oft genug noch nicht einmal selbst wählen
durften? Dass man ein Individuum nicht für das Regime haftbar machen
kann, in das es zufällig hineingeboren wurde, haben wir im Fall des
politischen Asyls längst als Teil der Menschenwürde anerkannt. Und
wenn es um ökonomische und soziale Belange geht, soll dies auf
einmal nicht mehr gelten?
Freizügigkeit als
Menschenrecht
Ich
selbst jedenfalls kann auf lange Frist keine guten Gründe erkennen,
um Menschen dauerhaft die freie
Wahl ihres Wohnorts
zu verbieten. Auf nationaler Ebene ist diese Freizügigkeit schon
längst ein selbstverständliches Individualgrundrecht
– in Deutschland etwa wurde es erstmals in §133 der
Paulskirchenverfassung
von 1849 verankert und findet sich heute in Art. 11
GG sowie in Art. 2 Abs. 1 des 4. Zusatzprotokolls
der EMRK. Und auch in der EU hat inzwischen nach Art. 21
AEUV jeder Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten […] frei zu bewegen und aufzuhalten“. Es will
mir nicht einleuchten, weshalb diese Freiheit nicht eines Tages auch
weltweite Geltungskraft haben sollte.
In
all den genannten Beispielen ist die Freizügigkeit allerdings an
bestimmte Bedingungen gekoppelt; selbst das Grundgesetz erlaubt es,
sie durch Gesetz einzuschränken, wenn „eine ausreichende
Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus
besondere Lasten entstehen würden“. Aus derselben Logik heraus mag
es auch angehen, auf kurze und mittlere Frist die europäischen
Grenzen nicht vollständig zu öffnen: Es wäre sonst zu befürchten,
dass das enorme Wohlstandsgefälle zwischen der EU und dem größten
Teil der restlichen Welt zu einer so starken Zuwanderung führt, dass
die europäischen Sozialsysteme tatsächlich kollabieren würden.
Trotzdem
sollten wir schon jetzt beginnen, die derzeitigen Behinderungen der
weltweiten Freizügigkeit nicht als einen Normalzustand zu
betrachten, sondern als Einschränkung eines menschlichen
Grundrechts. Nicht das Öffnen der Grenzen muss mit spezifischen
Gründen gerechtfertigt werden, sondern sie weiter geschlossen zu
halten. Und unsere Aufgabe als Weltbürger sollte es sein, im
globalen Rahmen an den institutionellen Bedingungen zu arbeiten,
damit diese rechtfertigenden Gründe so bald wie möglich entfallen.
Auch wenn der Weg dorthin noch weit ist: Es wäre in diesen traurigen
Tagen von Lampedusa schon tröstlich, wenn
wir uns wenigstens in die richtige Richtung bewegen würden.
Bild: European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.