- Enrico Letta nimmt sich das Recht zu träumen, aber für 2014 hat er auch ein paar ganz handfeste Pläne. Das italienische Parlament hat ihm dafür gerade das Vertrauen ausgesprochen.
Über das politische Ende von
Silvio Berlusconi (PdL/EVP) war in den letzten Tagen viel in den
europäischen Medien zu lesen. Nachdem der ehemalige italienische
Premierminister Anfang August letztinstanzlich wegen Steuerbetrug
verurteilt worden war, wird er gemäß einem Antikorruptionsgesetz
seinen Sitz im italienischen Senat verlieren. Berlusconi versuchte
dies zu verhindern, indem er im Immunitätsausschuss des Senats einen
Antrag einbringen ließ, der die Anwendung des Gesetzes verhindern
sollte. Allerdings war innerhalb der PdL umstritten, was zu tun sei,
wenn dieser Antrag abgelehnt würde: Während die „Falken“ in der
Partei in diesem Fall auch die Große Koalition aufkündigen wollten,
die sie seit dem Frühling zusammen mit der sozialdemokratischen PD
und der zentristischen SC bilden, setzten sich die „Tauben“ für
eine weitere Unterstützung der Regierung ein.
Berlusconis politisches Ende
Berlusconi selbst gab lange Zeit
widersprüchliche Signale, doch als sich zuletzt deutlich
abzeichnete, dass die PD im Immunitätsausschuss gegen seinen Antrag
stimmen würde, beschloss er, den Vorschlägen der Falken zu folgen.
Als Premierminister Enrico Letta (PD), entnervt von dem mehrwöchigen
Hin und Her, vergangene Woche eine Vertrauensfrage im Parlament
ankündigte, reagierte Berlusconi, indem er die PdL-Minister in der
Regierung zum Rücktritt aufforderte. Doch dann geschah etwas
Unerwartetes: Zwar reichten die Minister gehorsam ihren Rücktritt
ein (der von Letta umgehend abgelehnt wurde), zugleich aber
unterstützten sie öffentlich die Abgeordneten, die entgegen der
Vorgabe der Parteispitze bei der Vertrauensfrage für die Regierung
stimmen wollten.
Besonders schwer wog dabei, dass
auch Vizepremier Angelino Alfano (PdL/EVP), der von Berlusconi lange
Jahre als Kronprinz aufgebaut worden war, eine Fortsetzung der
Koalition forderte. Als es schon schien, als ob sich die PdL spalten
und die „Tauben“ allein in der Regierung verbleiben würden,
lenkte Berlusconi schließlich im letzten Moment ein, sodass Letta
bei der Vertrauensfrage am vergangenen Mittwoch eine breite Mehrheit
aus PD, SC und PdL gewann. Zwei Tage später lehnte der
Immunitätsausschuss des Senats wie erwartet den Antrag zur Rettung
Berlusconis ab. Wenn das Senatsplenum dieser Entscheidung in den
nächsten Tagen folgt, dürfte der Mann, der die italienische Politik
in den letzten zwanzig Jahren dominiert hat, wohl am Ende seiner
Karriere angekommen sein.
Die Pläne des Enrico Letta
Worüber in den europäischen
Medien wenig zu lesen war, waren hingegen die Absichten seines
Nachfolgers Enrico Letta. Das ist aus zwei Gründen etwas
erstaunlich: Zum einen wird Berlusconi ja nun bald politische
Geschichte sein, während Letta erstmals einer einigermaßen stabilen
Regierung vorsitzt. In den letzten Monaten hatte die PdL wiederholt
mit einem Bruch der Koalition gedroht, um damit dieser oder jener
Parteiposition Nachdruck zu verleihen. Nach der gewonnenen
Vertrauensabstimmung von dieser Woche hingegen ist deutlich geworden,
dass eine ausreichende Zahl an PdL-Senatoren selbst lieber eine
Spaltung ihrer Fraktion als Neuwahlen in Kauf nehmen würde. Damit
verringert sich das Drohpotenzial der „Falken“, was Lettas
Handlungsspielraum deutlich erhöht.
Zum zweiten sind Lettas Pläne
auch deshalb von Interesse, weil sich die italienische Regierung
unter seiner Leitung in den nächsten Jahren keineswegs nur auf
innenpolitische Fragen konzentrieren will. Im Gegenteil: In der
zweiten Hälfte des Jahres 2014 (also unmittelbar nach der nächsten
Europawahl und der Ernennung einer neuen Europäischen Kommission)
wird Italien die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernehmen –
und Letta lässt kaum eine Gelegenheit aus, um zu betonen, dass er
dieses Halbjahr zum Kern seiner Regierungstätigkeit machen will.
Änderung der EU-Verträge
Wie ich hier
bereits im Juli geschrieben habe, halte ich den italienischen
Ratsvorsitz deshalb für das wahrscheinlichste Zeitfenster für einen
neuen Anlauf zu einer Reform der EU-Verträge. Formell spielt die
Ratspräsidentschaft dabei zwar inzwischen eine deutlich geringere
Rolle als in der Vergangenheit: Nach Art. 48
EU-Vertrag können jeder Mitgliedstaat, die Kommission und das
Europäische Parlament jederzeit Änderungsvorschläge zu den
Verträgen vorlegen. Daraufhin kann der Europäische Rat einen
Konvent einberufen, der sich aus Vertretern der nationalen Parlamente
und Regierungen sowie des Europäischen Parlaments und der Kommission
zusammensetzt. Dieser Konvent arbeitet dann einen Entwurf für die
Vertragsreform aus, der anschließend von einer Regierungskonferenz
verabschiedet und von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss.
In der Praxis allerdings ist die
rotierende Ratspräsidentschaft nach wie vor von großer Bedeutung,
wenn es darum geht, die Agenda der Europäischen Union festzulegen.
Und anders als Litauen und Griechenland, die diese Funktion im
zweiten Halbjahr 2013 und im ersten Halbjahr 2014 ausüben, hat
Italien auch die wirtschaftliche Größe und das politische Gewicht,
um seiner Stimme auf europäischer Ebene Gehör zu verschaffen.
„Das Recht, von den
Vereinigten Staaten von Europa zu träumen“
Und
wie diese Stimme klingen wird, hat Enrico Letta in den letzten
Monaten wiederholt gezeigt. Schon in seiner Antrittsrede erklärte er
die
„Vereinigten Staaten von Europa“ zu seinem Ziel; im Sommer
forderte dann seine Außenministerin Emma Bonino (RI/ALDE) in einem
Interview ein „großes
Projekt zur Wiederbelebung [der europäischen Integration] auf allen
Ebenen“ und schlug unter anderem vor, den EU-Haushalt auf
5 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen,
die Außen-, Sicherheits-, Steuer-, Forschungs-, Infrastruktur- und
Einwanderungspolitik zu vergemeinschaften und die Kommission dem
Europäischen Parlament verantwortlich zu machen.
In
den letzten Tagen bekräftigte Letta diesen Kurs noch einmal
eindrucksvoll. So war die zentrale Passage der Rede, mit der er am
Mittwoch vor der Vertrauensfrage um die Zustimmung des Parlaments warb (Wortlaut),
der Europapolitik gewidmet:
Ehrenwerte Senatoren, wir haben das Recht, von den Vereinigten Staaten von Europa zu träumen, für uns und besonders für unsere Kinder. Aber es ist nicht mehr nur die Zeit zum Träumen. Der echte Kampf um Europa, der das Europa der nächsten 15 Jahre prägen wird, beginnt jetzt, im Jahr 2014. […] Wir haben eine ehrgeizige Agenda für 2014, […] wenn wir Europa anführen werden, um seinen Aufbau (und seine Darstellung) einiger, solidarischer und bürgernäher zu machen. […] Wir können auswählen: Entweder schließen wir uns in unseren Hinterhof innenpolitischer Streitigkeiten ein oder wir spielen auf Angriff, indem wir alles auf jene immer engere Union zwischen den europäischen Völkern setzen, der ich mich in den nächsten Monaten zuwenden möchte. Unsere Bewährungsprobe ist jetzt: Zeigen wir mit unserem ehrgeizigen Halbjahr ganz Europa, dass es kein Zufall ist, dass der Vertrag [von 1957], aus dem sich später die Europäische Union entwickelt hat, […] in Rom unterzeichnet wurde […].
Und am Donnerstag
veröffentlichte Letta bei Project Syndicate einen
Artikel
mit verschiedenen Vorschlägen zur Eurokrise, der ebenfalls auf
eine recht klare Forderung hinausläuft:
Die alte Architektur und die politische Grundlage der Europäischen Währungsunion sind erschüttert worden. Wir müssen ein neues ökonomisches Gebäude auf neuen politischen Grundlagen errichten. Ein rein intergouvernementaler Ansatz wird nicht funktionieren. Gemeinsame EU-weite Lösungen sind nötig, auch wenn sie die Bereitschaft der Mitgliedstaaten erfordern, einen größeren Anteil ihrer Souveränität zu vereinen.
Obwohl Letta das Wort
„Konvent“ bislang vermeidet, kann es kaum noch Zweifel geben, in
welche Richtung seine Pläne gehen. Auf jeden Fall ist er dabei, den
Boden zu bereiten, auf dem er 2014 eine Initiative zur Vertragsreform
in Gang setzen könnte – wenn die italienischen und die
europäischen Rahmenbedingungen es dann zulassen.
Italienische Unwägbarkeiten
Zu
diesen Rahmenbedingungen gehört zunächst einmal die simple Frage,
ob die Regierung Letta in einem Jahr überhaupt noch im Amt sein
wird. Die Aussichten dafür sind, wie schon gesagt, mit der
Vertrauensfrage diese Woche deutlich gestiegen; und es wäre wohl ein
Fehler, die traditionelle Kurzlebigkeit italienischer Kabinette (seit
1946 hatte das Land 26 verschiedene Regierungschefs, von denen nur
neun länger als zwei Jahre amtierten) einfach zu extrapolieren. Mit
der Entmachtung Silvio Berlusconis scheinen Letta und Alfano
jedenfalls die schwierigste Klippe erfolgreich umschifft zu haben:
Auch wenn in den nächsten Wochen noch einige Störfeuer des
ehemaligen Premierministers zu erwarten sind, dürfte die
parlamentarische Mehrheit der Regierung fürs Erste gesichert sein.
Die
größte Gefahr für Letta könnte deshalb von ganz anderer Seite
drohen: nämlich von der PD, seiner eigenen Partei. Falls die PdL,
was derzeit durchaus möglich scheint, in nächster Zeit doch noch
auseinanderbricht (etwa indem die Berlusconi-treuen „Falken“ die
Partei verlassen und eine eigene Organisation gründen), dann könnte
die PD selbst versucht sein, die Koalition aufzukündigen, um bei
einer Neuwahl des Parlaments die absolute Mehrheit zu erreichen. In
diesem Fall aber dürfte Letta, der im Frühling eher als
Verlegenheitslösung zum Premierminister der Großen Koalition
gewählt wurde, eher nicht der Spitzenkandidat der Partei sein.
Stattdessen läuft sich schon seit längerem Matteo Renzi warm, der
derzeit Bürgermeister von Florenz ist und in einigen Wochen wohl zum
neuen PD-Generalsekretär gewählt wird. Nach der Vertrauensfrage am
Mittwoch erklärte
Renzi jedenfalls, er habe nichts dagegen, dass die derzeitige
Regierung bis 2015 im Amt bleibt, „wenn sie ihre Sache bis dahin
gut macht“ – eine klares Solidaritätsbekenntnis klingt anders.
Und obwohl auch Renzi schon einmal die
Europapolitik als eine seiner Prioritäten genannt hat, scheint
es bislang nicht so, als ob er ihr denselben Stellenwert beimäße
wie Enrico Letta.
Europäische Unterstützung
Vor
allem aber wird es für den Erfolg einer EU-Vertragsreform natürlich
darauf ankommen, wie der Rest der Europäischen Union auf die Pläne
der italienischen Regierung reagiert. Unterstützung dürfte dabei
von Seiten der Europäischen Kommission kommen: Deren Präsident José
Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) bekräftigte jedenfalls unlängst in
seiner Rede zur Lage der Union (Wortlaut)
seine Absicht, „noch vor den Europa-Wahlen weitere Vorschläge zu
unterbreiten, wie die Zukunft der Union gestaltet und wie der
gemeinsame Ansatz und das gemeinsame Vorgehen am besten konsolidiert
und langfristig vertieft werden könnten“. Auch die übrigen
südeuropäischen Staaten würden einen neuen Europäischen Konvent
wohl begrüßen. Und in Deutschland sprachen sich ebenfalls sämtliche
großen Parteien in
ihren Bundestagswahlprogrammen für eine Vertragsreform aus (bis
auf die CDU/EVP, aber auch die war immerhin nicht dagegen). Einwände
könnten hingegen aus den nordeuropäischen Ländern kommen, in denen
sich die Eurokrise weniger bemerkbar machte, oder aus Irland und den
Niederlanden, wo vergangene EU-Vertragsreformen in Referenden
abgelehnt wurden.
Insgesamt
aber scheint mir, dass sich die Aussichten, dass wir im zweiten
Halbjahr 2014 einen Europäischen Konvent bekommen werden, an diesem
Mittwoch deutlich gebessert haben. Die italienische Regierung, die
unter Silvio Berlusconi zur politischen Clownsbühne zu verkommen
drohte, hat nun die Chance, wieder eine zentrale Rolle bei der
Fortentwicklung der europäischen Integration zu übernehmen. Enrico
Letta jedenfalls ist zu wünschen, dass seine „ehrgeizige Agenda“
für die nächsten Jahre von Erfolg gekrönt sein wird.
Bild: Palazzo Chigi [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.
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