26 Mai 2020

„Mich ärgert diese Veto-Logik“: Ein Interview mit Linn Selle

Linn Selle.
D(e)F: Wenn Du eines an der Funktionsweise der EU ändern könntest, was wäre es?

Linn Selle: Ich gehöre zu den Menschen, die natürlich gerne sofort eine Menge ändern wollen würden. Aber könnte ich wirklich nur ein Element der Funktionsweise der EU ändern, wäre es, glaube ich, die Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Rat. Bei Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik kann man heute niemandem mehr erklären, warum die EU nicht mit einer Stimme spricht. Da sind die Bürger/innen in meiner Wahrnehmung weiter als politische Entscheidungsträger/innen.

Besonders ärgert mich diese Veto-Logik aber beim EU-Haushalt. Denn sie führt dazu, dass einfach nicht genug Geld in relevante Zukunftsaufgaben gesteckt wird, sondern der Haushalt immer noch weitestgehend dieselbe Struktur hat wie vor 40 Jahren – obwohl die Bürger/innen ganz klar erwarten, dass die EU Zukunftsaufgaben gestaltet. Diese „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“-Mentalität ist nicht nur ärgerlich, sondern führt auch langfristig zu Frust, weil die EU nicht die Aufgaben erfüllen kann, die sie eigentlich erfüllen sollte. Mehrheitsentscheidungen bei den Haushaltsverhandlungen und eine starke Rolle für das Europäische Parlament könnten das durchbrechen, weil sachorientierter diskutiert werden müsste und niemand mehr wie heute seine Pfründe sichern könnte.

Ein EU-Haushalt ohne Vetorechte

Dass das Einstimmigkeitsprinzip gerade beim mehrjährigen Finanzrahmen regelmäßig zu unbefriedigenden Ergebnissen führt, lässt sich schwer bestreiten. Aber wie würde ein EU-Haushalt ohne Vetorechte aussehen? Die beiden traditionell wichtigsten Ausgabenbereiche Agrarpolitik und Regionalförderung werden jeweils von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten verteidigt. Mehr Mittel für Zukunftsaufgaben gäbe es deshalb auch ohne Veto wohl nur dann, wenn das Budget insgesamt erhöht wird. Das wurde im Rat bis zur Corona-Krise von einer Minderheit blockiert, zu der neben den „Frugal Four“ – Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden – auch Deutschland zählt. Ist Deutschland hier also besonders gefordert, auf seinen Veto-Hebel zu verzichten?

Ich bin davon überzeugt, dass sich der Haushalt trotzdem verändern würde. Denn am Ende des Tages hat dann nicht mehr jedes Land sein eines Goldenes Kalb, das es zu verteidigen gilt. Klar, eine Reihe von Mitgliedstaaten profitiert stark von den Agrar- oder Kohäsionszahlungen, aber ich denke, die Debatte würde sich trotzdem verändern. Und natürlich sollte hier vor allem Deutschland eine Vorreiterrolle spielen. Nicht nur weil Deutschland so stark von der EU profitiert wie kaum ein anderer Mitgliedstaat, sondern auch weil Deutschland traditionell ein – wenn auch nicht immer sehr lauter – Verfechter der Stärkung der „Zukunftsaufgaben“ im Haushalt war.

Und so schlimm die Corona-Krise für die europäische Gesellschaft und ihre Wirtschaft ist, sie setzt gleichzeitig auch eine neue Dynamik frei, und wir werden in den nächsten Wochen beobachten können, ob die bisherige Logik des mehrjährigen Finanzrahmens vielleicht ein klein wenig aufgebrochen wird, um den europäischen Wiederaufbau jenseits von Kohäsions- und Agrarmitteln zu finanzieren.

Aber klar, am Ende des Tages bräuchte es entweder eine striktere Trennung zwischen Ausgaben und Einnahmen (also endlich eine Diskussion über eine Stärkung der EU-Eigenmittel) oder einen signifikant größeren Haushalt, um die vielfältigen Aufgaben, die in den letzten Jahren der EU-Ebene übertragen wurden, auch wirklich vernünftig auszufinanzieren. Wobei mir da auch immer wichtig ist zu betonen, dass ein größerer EU-Haushalt nicht automatisch eine größere Gesamtbelastung für Steuerzahler/innen bedeutet – denn wenn mehr auf EU-Ebene finanziert wird, etwa in der Sicherheitspolitik, könnte das aus den nationalen Budgets herausfallen. Hier sind dann aber die Nationalstaaten gefragt, das auch wirklich umzusetzen und in ihren nationalen Öffentlichkeiten eine ehrliche Debatte darüber zu führen, was auf welcher Ebene finanziert werden müsste.

Parlamentarisierung der gemeinsamen Außenpolitik

Wie ist es mit Mehrheitsentscheidungen in anderen Bereichen? Wie Du sagst, wünschen sich viele Bürgerinnen und Bürger eine größere außenpolitische Geschlossenheit der EU. Andererseits unterscheiden sich aber die strategischen Kulturen in den Mitgliedstaaten teils enorm: Die französische Öffentlichkeit ist für militärische Interventionen viel leichter zu haben als die deutsche, und in der estnischen Bevölkerung gibt es sehr viel größere Sorgen vor Russland als in der italienischen.

Natürlich sind diese Unterschiede nur graduell, auch innerhalb jedes einzelnen Landes gibt es in diesen Fragen eine Vielzahl verschiedener Positionen. Dennoch: Wie lässt sich der Angst entgegentreten, dass ein Land ohne nationales Vetorecht in außenpolitische Entscheidungen hineingezogen wird, die es mehrheitlich ablehnt – umso mehr, wenn es womöglich um Krieg und Frieden geht?

Die Antwort hierauf wäre aus meiner Sicht eine Stärkung des Parlamentarismus in der EU. Denn letztlich ist das Parlament ja der Raum, in dem solche Aushandlungsprozesse notwendigerweise stattfinden müssen und wo eine kollektive Willensbildung passiert. Nicht zuletzt sitzen dort ja alle der von Dir oben genannten Positionen in einem Plenum zusammen und müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Darum muss es gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik eine stärkere Parlamentarisierung geben, und wenn wir an eine ferne Zukunft mit einer wie auch immer gearteten europäischen Armee denken, kann das aus meiner Sicht nur eine Parlamentsarmee sein.

Meine Hoffnung ist natürlich auch, dass in dem Moment, in dem mehr solcher Entscheidungen vom Europäischen Parlament debattiert und entschieden werden, es endlich auch eine stärkere mediale Sichtbarkeit der dortigen Debatten und Positionen gibt. Das würde auch ihre Legitimität in den nationalen Öffentlichkeiten stärken. Wir haben bei der Europawahl im vergangenen Jahr gesehen – obwohl bei diesen Wahlen ja wahrlich noch viel Luft nach oben ist –, dass es zwei dominante Themen in allen europäischen Öffentlichkeiten gab: Klimapolitik und die wirtschaftliche Entwicklung. Beides sind Themen, die politisch auf der EU-Ebene vorangetrieben und dort auch finanziert werden. Würde das Europäische Parlament eine ähnliche Medienpräsenz bekommen, wie der Deutsche Bundestag sie heute hat, wäre es nicht mehr so einfach für nationale Regierungen, sich in Initiativen zu sonnen, die eigentlich auf EU-Ebene angestoßen wurden – und ansonsten die Schuld auf „Brüssel“ zu schieben, auch wenn Beschlüsse rein innenpolitisch motiviert sind.

Welche Vetorechte aufheben?

Nationale Vetorechte abschaffen, dafür das Europäische Parlament stärken und die demokratische Auseinandersetzung auf die europäische Ebene heben: Das ist ja ein durchaus bewährtes Rezept. Jedenfalls wurden in der Vergangenheit schon zahlreiche Politikfelder, vom Binnenmarkt bis zur Justizzusammenarbeit, in diesem Sinne vergemeinschaftet.

Wie weit würdest Du dabei gehen? Sollten wir – wie das zum Beispiel die Spinelli-Gruppe im Europäischen Parlament vor einigen Jahren vorgeschlagen hat – das Einstimmigkeitsprinzip nahezu komplett abschaffen und vielleicht durch eine erhöhte qualifizierte Mehrheit ersetzen? Oder gibt es Politikfelder, in denen nationale Vetorechte doch noch ihren Platz haben? Wie sieht es zum Beispiel mit der Steuer- oder Sozialpolitik aus (Art. 113 bzw. 153 AEUV), mit Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, die gegen die Grundwerte der EU verstoßen (Art. 7 Abs. 2 EUV), oder mit der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (Art. 49 EUV)?

Erst einmal müssen die zwei von Dir genannten Elemente immer Hand in Hand gehen. Wenn irgendwo ein Vetorecht für Mitgliedstaaten abgeschafft wird, bedeutet das für mich zwingend, dass das Europäische Parlament hier eine co-legislative Rolle spielen muss. Denn wenn nationale Parlamente nicht mehr die Möglichkeit haben, über ihre Regierung „Stopp“ zu sagen, muss das EP diese Rolle einnehmen, um parlamentarische Kontrolle aufrechtzuerhalten. Das finde ich im Übrigen derzeit auch spannend bei der Debatte um Euro- oder Coronabonds. Wie man nun auch immer diese Instrumente sehen mag – klar ist: Sie wären zunächst einmal wieder eine krasse Stärkung der Exekutive, solange sie nicht in den EU-Haushalt überführt würden, wo eine demokratische Kontrolle möglich ist.

Die Frage, in welchen Politikbereichen die Einstimmigkeit aufgegeben werden sollte, ist keine triviale und spiegelt auch immer die jeweiligen nationalen Debatten zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wider. So gründet das Vetorecht beim Artikel-7-Verfahren ja vor allem in der Annahme, dass es in einer geeinten demokratischen EU maximal einen „Paria-Staat“ geben könne, den man mit den in Artikel 7 genannten Verfahren „in den Griff“ bekommen könnte. Heute sieht man, dass diese Sichtweise überholt ist, dass es durchaus auch mehrere Mitgliedstaaten gibt, die Kandidaten für Rechtsstaatsverfahren sind und die sich bei der Entscheidung für eine Anwendung von Artikel 7 immer gegenseitig mit einem Veto schützen würden. Offensichtlich ist: Nationale Vetos erschüttern im Bereich der Rechtsstaatlichkeit derzeit die Grundfesten der europäischen Einigung. Das darf nicht so bleiben.

Aber klar, Fragen der Sozialpolitik und auch der Steuerpolitik sind natürlich deutlich schwieriger, weil sie viel stärker die Souveränität der einzelnen Länder betreffen. Allerdings könnte ich persönlich mir in einigen Bereichen der Steuerpolitik durchaus vorstellen, dass eine europaweite Angleichung sinnvoll wäre – auch im Hinblick auf faire Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt.

Nötig ist ein Grand Bargain

Wie schätzt Du das politische Momentum für die praktische Umsetzung dieser Ansätze ein? Während der EU-Vertragsreformen der 1980er bis 2000er Jahre wurden Mehrheitsentscheidungen für immer mehr Politikbereiche eingeführt. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es die „Passerelle-Klausel“ in Art. 48 Abs. 7 EUV. Dadurch kann der Europäische Rat einstimmig beschließen, einzelne Politikbereiche von der Einstimmigkeit ins ordentliche Gesetzgebungsverfahren (mit Mehrheitsprinzip und Beteiligung des Europäischen Parlaments) zu überführen, ohne formal die Verträge ändern zu müssen. Allerdings wurde die Passerelle-Klausel bis jetzt noch nie genutzt; ein entsprechender Vorstoß der Kommission für die Steuerpolitik scheiterte Anfang 2019 am Widerstand einiger Mitgliedstaaten.

Mehr noch: In der Asylpolitik, in der Mehrheitsentschlüsse seit langem möglich sind, weigerten sich Ungarn, Polen und Tschechien schlicht, den Ratsbeschluss von 2015 zur Umverteilung von Flüchtlingen umzusetzen. Der Europäische Gerichtshof stellte zwar vor einigen Wochen fest, dass diese Weigerung europarechtswidrig war. Aber politisch war sie offenbar wirksam, denn der Rat hat sich seitdem nicht mehr getraut, ähnliche Maßnahmen mit Mehrheit zu beschließen. Führt die Angst vor Konfrontation in der Krise womöglich zu einem neuen Trend zur Einstimmigkeit?

Tja, das Momentum zur Abschaffung der Vetorechte, das ist natürlich so eine Frage. Am Ende des Tages ist die Europäische Union immer noch vor allem eine „Konsensmaschine“, was ich im Grundsatz sehr positiv meine, denn es bedeutet einen tagtäglichen Austausch und das demokratische Ringen um eine gemeinsame Position. Insofern ist da ja nicht nur Schlechtes dran. Aber Du hast vollkommen recht, beim Erwähnen der Passerelle-Klausel erntet man regelmäßig in Brüssel eher ein mitleidiges Lächeln, weil sich die Mitgliedstaaten natürlich nicht willentlich selber ihr Vetorecht wegnehmen wollen.

Meine Hoffnung ruht insofern nicht auf der Klausel selber, denn da wird aus den oben genannten Gründen nichts passieren. Ich glaube, diese Entscheidungen müssen zu einem gewissen Teil „externalisiert“ werden, um sie aus den teils verfahrenen Diskussionen im Rat herauszulösen. Die Konferenz zur Zukunft Europas wäre eine solche „Externalisierung“. Denn sie würde neben Vertreter/innen der Mitgliedstaaten auch Parlamentarier/innen aus ganz Europa zusammenbringen – idealerweise strukturiert und klug beraten von Bürger/innen und gesellschaftlichen Organisationen.

Das wäre eine andere Debattenkultur und vor allem eine sinnvolle Möglichkeit, einen „grand bargain“ zu finden. Es ginge also nicht nur hier um die Entscheidung, ob Mehrheitsentscheidungen in Steuerfragen eingeführt werden, oder dort um die Frage, wie der EU-Haushalt parlamentarischer ausgestaltet werden kann. Sondern es würden eine Vielzahl von Themen auf den Tisch kommen, bei denen die EU derzeit nicht ausreichend funktionsfähig ist. Darum sollte die Bundesregierung die Vorarbeiten für eine solche Zukunftskonferenz schleunigst im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft beginnen.

Die Konferenz zur Zukunft Europas

Eigentlich hätte die Konferenz zur Zukunft Europas ja schon an diesem 9. Mai beginnen sollen – wäre nicht die Corona-Pandemie dazwischengekommen. Wie wird sich die aktuelle Krise nach Deiner Einschätzung auf die Bereitschaft der Regierungen zu so großen Integrationsschritten auswirken?

Die vergangenen Wochen haben ja deutlich gezeigt, dass die EU nicht krisenfest ist, weil ihre Mitgliedstaaten nationalen Aktionismus über europäische Problemlösungen stellten. Darum ist für mich klar, dass die Aufarbeitung des Solidaritätsversagens und der Dialog über Europas Zukunft in den politischen Fokus rücken müssen. Denn die Zukunftskonferenz bietet ja gerade die Möglichkeit, dass Vertreter/innen von Parlamenten, Regierungen, EU-Institutionen, gesellschaftlichen Organisationen und Bürger/innen gemeinsam einen Blick über den nationalen Tellerrand werfen und Dossiers offen angehen, bei denen es zwischen den Regierungen seit Jahren keine Bewegung gibt.

Bislang steht ja von Seiten des Rates eine Positionierung zur Zukunftskonferenz aus. Nach dem, was wir derzeit hören, hakt es besonders bei der Frage nach Vertragsveränderungen. Natürlich wird es einige Regierungen geben, die per se kein großes Interesse an einer großangelegten Zukunftskonferenz haben, aber ich glaube, dass die Krise bei einigen bislang eher indifferenten Ländern schon einen Denkprozess angeregt hat, dass es sinnvoll sein kann, sich strukturiert Gedanken zu machen, um dann auch gestärkt aus der Krise herauszukommen.

Hier hat meiner Meinung nach die Bundesregierung eine besondere Verantwortung, auch mit Blick auf die deutsche Ratspräsidentschaft: Im ersten Entwurf des Präsidentschaftsprogramms wurde die Konferenz mit keinem Wort erwähnt. Hier muss die Bundesregierung im Lichte der Krisenentwicklung unbedingt nachbessern und den Blick in Europas Zukunft fest im Programm des Vorsitzes verankern.

Linn Selle ist Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland e.V. (EBD) und wurde 2014 mit dem Preis „Frau Europas“ ausgezeichnet. Sie hat zur parlamentarischen Haushaltshoheit beim EU-Haushalt promoviert und ist hauptberuflich beim Verbraucherzentrale Bundesverband tätig.

Bild: © EBD/K. Neuhauser.

20 Mai 2020

Frisch erschienen: Die Europawahl 2019 – Ringen um die Zukunft Europas

Wie war das mit der „Schicksalswahl“? Hier erfahren Sie mehr!
Am kommenden Dienstag liegt sie genau ein Jahr zurück: die Europawahl 2019, die so bewegt war wie wenige zuvor. Ein Jahrzehnt voller Krisen und eine zunehmende Politisierung und Polarisierung der europäischen Integration führte dazu, dass der Wahl schon im Vorfeld hohe Bedeutung zugeschrieben wurde – als Auseinandersetzung zwischen einem liberalen, integrationsfreundlichen Kosmopolitismus und einer anti-supranationalistischen Rechten, als Duell Macron vs. Orbán, ja als „Schicksalswahl“, an der sich die Zukunft der gesamten europäischen Integration entscheiden würde.

Aber auch innerhalb des europafreundlichen Lagers der politischen Mitte rumorte es: Bereits Ende 2016 hatte der sozialdemokratische Fraktionschef im Europäischen Parlament, Gianni Pittella (PD/SPE), das „Ende der Großen Koalition“ ausgerufen und eine „gesunde Polarisierung zwischen Rechts und Links“ gefordert. Im Herbst 2018 zerstritten sich die Parteien der Mitte dann über das Spitzenkandidaten-Verfahren: Während die Europäische Volkspartei darauf beharrte, dass der Kandidat der stärksten Fraktion automatisch Kommissionspräsident werden sollte, insistierten Sozialdemokraten und Grüne, dass sie nicht jede Personalie mittragen würden. Die europäischen Liberalen wiederum verwarfen das Spitzenkandidatenprinzip gleich ganz, solange es nicht auch gesamteuropäische Wahllisten gäbe.

Diese neue Polarisierung machte sich schließlich auch im Wahlkampf bemerkbar, der in vielen Ländern engagierter und konfliktreicher ausfiel als in der Vergangenheit. Gesamteuropäische Themen spielten eine wichtigere Rolle als in der Vergangenheit. Und es kam, zum ersten Mal überhaupt, zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung: Nachdem seit der ersten Europawahl 1979 ein von Mal zu Mal kleinerer Anteil der Wahlberechtigten seine Stimme abgegeben hatte, stieg die Beteiligung nun von 42,6 auf 50,7 Prozent. In absoluten Zahlen nahmen so viele Menschen an der Europawahl teil wie noch niemals zuvor.

Ein Sammelband zur Europawahl

Das Ergebnis der Wahl brachte dann tatsächlich das „Ende der Großen Koalition“, wenn auch in anderer Weise als von Gianni Pittella angekündigt: Die konservative EVP und die sozialdemokratische S&D erreichten – ebenfalls zum ersten Mal in der europäischen Geschichte – gemeinsam keine absolute Mehrheit mehr, während Liberale, Grüne und Rechte dazugewannen. Allerdings blieben EVP und S&D die stärksten Fraktionen, sodass eine Mehrheitsbildung ohne sie auch weiterhin kaum möglich ist.

Die komplizierteren Mehrheitsverhältnisse wiederum schlugen sich nach der Wahl in monatelangen Reibereien zwischen den Fraktionen nieder – denen zunächst alle Spitzenkandidaten im Rennen um die Kommissionspräsidentschaft zum Opfer fielen, und im Herbst 2019 noch drei weitere designierte Kommissar:innen. Erst nach und nach rauften sich die Fraktionen der Mitte wieder zusammen und einigten sich auf gemeinsame Positionen in wichtigen Fragen, etwa zur Konferenz über die Zukunft Europas oder zum wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der Corona-Krise.

Die „Schicksalswahl“ 2019, so viel ist heute deutlich, hat für die Europäische Union nur wenig an Entscheidungen gebracht, aber einiges an Veränderung. Ihre Facettenvielfalt wissenschaftlich zu analysieren und einzuordnen ist das Ziel eines Sammelbands, den Michael Kaeding (Universität Duisburg-Essen), Julia Schmälter (DLR) und ich bei Springer VS herausgegeben haben. In 33 Kapiteln gehen 55 Autor:innen auf verschiedene Einzelaspekte der Wahl ein, wobei alle Beiträge eine gesamteuropäische oder jedenfalls länderübergreifende Perspektive einnehmen.

Parteien und Spitzenkandidaten

Von den sieben Teilen des Buchs ist der erste den europäischen Parteien gewidmet: Wie erlebten sie die Europawahl, welche Ziele setzten sie sich in ihrem Programm, wie nominierten sie ihre Kandidat:innen und welche Auswirkungen hatte das Wahlergebnis auf ihre Position im Europäischen Parlament?

Der zweite Teil nimmt die Entwicklung der Parteienlandschaft insgesamt in den Blick: Wie schlagen sich europapolitische Fragen in nationalen Wahlprogrammen nieder, wie verändern sie die nationalen Parteiensysteme? Und kann man nach vierzig Jahren Europawahlen endlich auch von einem europäischen Parteiensystem sprechen?

Der dritte Teil nimmt das Spitzenkandidaten-Verfahren in den Blick: Wie viel Mühe gaben sich die europäischen Parteien bei der Nominierung ihrer Spitzenleute, und wie entfaltete sich die Auseinandersetzung zwischen Parlament und Europäischem Rat? Und welche Rolle spielten eigentlich die nationalen Spitzenkandidat:innen und Wahlkreiskönige, die es ja bei aller Europäisierung ebenfalls noch gibt?

Öffentlichkeit und Wahlkampf

Der vierte Teil betrachtet die öffentliche Wahrnehmung der Europawahl: Welche Akteure, welche Themen standen im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung? Kam es zu der von den EU-Institutionen im Voraus befürchteten Desinformationskampagne? Wie unterschieden sich die verschiedenen nationalen Europawahl-„Wahlomaten“? Und wie die zahlreichen Sitzprojektionen für das Europäische Parlament, von denen es vor dieser Wahl so viele gab wie nie zuvor?

Im fünften Teil werden drei konkrete Themen betrachtet, die zu dieser Europawahl länderübergreifend von Bedeutung waren: Welche Rolle spielten die Migrationsfrage, die Reform der Eurozone und die europäische Klimapolitik im Wahlkampf, wie positionierten sich die Parteien dazu, und welche Auswirkungen könnte das Wahlergebnis auf diese Bereiche haben?

Die Wähler:innen und das neue Parlament

Im sechsten Teil geht es um die Wähler:innen und ihr Wahlverhalten selbst. Welche Erwartungen hatten die Wähler:innen an das neue Parlament? Welche Faktoren beeinflussten Sie bei der Wahlentscheidung? Und ist die gestiegene Wahlbeteiligung auch auf den zweiten Blick noch so eindrucksvoll wie auf den ersten?

Der siebte Teil schließlich wirft Schlaglichter auf die Zusammensetzung und Arbeitsweise des neu gewählten Parlaments: Wie steht es um die Geschlechterverteilung? Wie setzen sich die neu konstituierten Ausschüsse zusammen? Wie hat sich das Parlament durch den Austritt des Vereinigten Königreichs verändert? Und was sagt uns Twitter über die Netzwerke im Parlament?

Der Sammelband ist seit heute als E-Book erhältlich, in Kürze auch in der Druckversion. Für alle, die die Ent- und Verwicklungen der Europawahl 2019 besser verstehen wollen, die sich in Wissenschaft und Politik damit auseinandersetzen oder einfach neugierig sind: Hier ist der Link.

Michael Kaeding, Manuel Müller, Julia Schmälter (Hrsg.): Die Europawahl 2019. Ringen um die Zukunft Europas, Wiesbaden (Springer VS) 2020, 444 Seiten, E-Book: 34,99 Euro, kartoniert: 44,99 Euro.

Eine Sammlung von sneak previews, in denen Autor:innen des Sammelbands ihre Kapitel in kurzen Videos vorstellen, ist hier zu finden.

Der Rückblick auf die „Schicksalswahl“ und ihre Folgen ist auch Thema eines Online-Mittagsgesprächs des Instituts für Europäische Politik am kommenden Dienstag, 26. Mai 2020, von 14 bis 15 Uhr. Es diskutieren Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, und Michael Kaeding, Jean-Monnet-Professor an der Universität Duisburg-Essen und Mitherausgeber des Sammelbands.

Zur Anmeldung geht es hier.

14 Mai 2020

Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Dominik Hierlemann. (Zum Anfang der Serie.)

People outside the European Parliament in Brussels
„Das Element der Bürgerbeteiligung entscheidet mit über das Ansehen und Potential der Zukunftskonferenz als Ganzes.“
An großen Worten herrschte wahrlich kein Mangel. Ursula von der Leyen kündigte als frisch auserwählte Kommissionspräsidentin Mitte vergangenen Jahres eine Konferenz zur Zukunft Europas an. Die Konferenz sollte Anfang 2020 starten, zwei Jahre dauern und einzelne Bürger, Zivilgesellschaft und europäische Institutionen als gleichwertige Partner zusammenbringen. Umfang und Ziele der Konferenz galt es gemeinsam mit Europäischem Parlament und den Mitgliedstaaten festzulegen.

Was ist seither passiert? Viel und wenig zugleich. Das Europaparlament witterte Morgenluft. Rasch gab es konkrete Vorschläge zu Konzeption und Inhalten der Zukunftskonferenz. Auch die Kommission machte sich ans Werk. Unter Leitung der explizit für die Zukunftskonferenz zuständigen Kommissionsvizepräsidentin Dubravka Šuica bot sie sich als ehrlicher Makler zwischen Parlament und Rat an. Denn hier, das zeigte sich rasch, liegt das Problem: Viele Mitgliedstaaten wollen nicht so richtig. Sie sehen keine Notwendigkeit für eine Diskussion, die möglicherweise im Vorschlag für Vertragsänderungen münden könnte.

Die Corona-Krise hat zwar die Bedeutung von funktionierenden Demokratien in den Vordergrund der Debatten gebracht. Doch der Rest ist Schweigen. Die Diskussionen um die Zukunftskonferenz sind arg ins Stocken gekommen. Von der aktuellen, eher unterhalb des politischen Radars fliegenden kroatischen Ratspräsidentschaft erwartet im politischen Brüssel niemand mehr einen Konsensvorschlag.

Immer noch kein Mandat

So bleibt es der deutschen Ratspräsidentschaft überlassen, die verschiedenen Ideen und Diskussionsfäden zu verknüpfen und mit den europäischen Institutionen überein zu kommen. Nach wie vor zu klären sind Ziele und Mandat der Konferenz. Ein enges Mandat bedeutet, dass Format, Zeitrahmen und Struktur möglicher Ergebnisse klar benannt werden. Ein weniger enges Mandat überlässt der Konferenz und deren Führung mehr Möglichkeiten bei der Ausgestaltung und lässt offen, wie sich die zweijährige Dynamik entfaltet.

Das Problem ist: Trotz eines deutsch-französischen Papiers mit Eckdaten der Konferenz sowie der jüngsten Wortmeldung einiger kleinerer Mitgliedstaaten sind immer noch viele (darunter etwa manche Osteuropäer sowie die nordischen Staaten) nicht sonderlich an Dynamik interessiert.

Macht Corona alles neu? Themen für die Konferenz

Eine zweite Grundsatzfrage bezieht sich auf die Themen der Konferenz. Anfänglich war viel von einer Reform der leidigen Spitzenkandidatenfrage und der Auswahl der Kommissionspräsidentin die Rede. Auch transnationale Listen zu Europawahlen sollten, so etwa der Wunsch des Europaparlaments, (wieder) auf den Diskussionstisch. Doch je länger die Diskussion dauert, desto eher scheinen sich viele in Kommission und Rat auf strategische Policy-Fragen konzentrieren zu wollen. Kommissionsvize Šuica hat jüngst angesichts von Corona selbst Gesundheitspolitik als Thema ausgemacht.

All das kann man machen. Allerdings ist zu bedenken: Sollte die Konferenz diesen Herbst oder Anfang 2021 beginnen, wird die EU in einer der schwierigsten wirtschaftlichen Phasen seit ihrem Bestehen stecken. Die Fliehkräfte innerhalb der EU werden zunehmen, der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten weiter bröckeln. In dieser Situation geht es ans Eingemachte. Die EU muss neue gemeinsame Projekte definieren – und mehr denn je Bürgerinnen und Bürger an dieser Diskussion beteiligen.

Ohne Bürger:innen keine Zukunft(skonferenz)

Die Beteiligung von Bürgern an der Zukunftskonferenz könnte eine echte Innovation sein. Neben organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen sollten einzelne Bürgerinnen und Bürger mitwirken können. Auch speziell für die Beteiligung von jungen Menschen könnte es eigene Formate geben. Das Europaparlament setzt sich für eine möglichst breite und repräsentative Beteiligung von Menschen an der Konferenz ein. Das Parlamentsgebäude selbst könnte symbolisch als Tagungsort genutzt werden.

Gerade dieses Element entscheidet mit über das Ansehen und Potential der Zukunftskonferenz als Ganzes. Denn gut gemacht kann Bürgerpartizipation die Legitimität politischer Entscheidungen erhören. Schlecht gemacht führt sie allerdings zu Desillusionierung der beteiligten Bürgerinnen und Bürger oder gar zu Delegitimierung von Politik. Gerade deshalb müssen Qualitätsgrundsätze der partizipativen Demokratie berücksichtigt werden.

Beteiligung mit Einfluss, oder warum Bürger:innen mitmachen sollten

Viele verstehen unter Bürgerbeteiligung sehr unterschiedliche Dinge. Für manche Politiker geht es lediglich um neue Formen der Kommunikation. Viele Bürger dagegen erwarten oft (wenn auch nicht immer) eine direkte Beteiligung an Entscheidungen. Die europäischen Institutionen müssen klarmachen, dass Bürgerinnen und Bürger echten Einfluss erhalten auf Agenda und Ergebnisse der Zukunftskonferenz.

Gleich wie das finale Beteiligungsformat aussehen wird, Bürger wollen wissen, welchen Anteil ihre Arbeit an den Beratungen hat: Sollen sie nur konsultiert werden oder haben sie direkte Mitentscheidung über die Konferenzergebnisse? Das ist eine Gretchenfrage, die vorab beantwortet muss.

Die „üblichen Verdächtigen“ vermeiden

Welche Bürger sollen an der Zukunftskonferenz beteiligt werden? Wer hat dazu Zeit, Lust und Interesse? Viele klassische EU-Dialoge leiden unter einem Überhang an EU-Befürwortern. Ein wirklicher Meinungsaustausch findet oft nicht statt. Hier sollte die Zukunftskonferenz Neues ausprobieren. Das Europaparlament hat in seiner Resolution den Vorschlag von „Bürgerforen“ gemacht bestehend aus zufällig ausgewählten Europäern. Irland, Frankreich, Ostbelgien, aber auch die EU selbst mit ihrem ersten Bürgerpanel im Mai 2018 bieten hierfür spannende Beispiele.

Die gewichtete Zufallsauswahl bietet eine Reihe von Vorteilen: Jeder Bürger kann ausgelost werden. Die Teilnehmerschaft repräsentiert in ihrer Zusammensetzung die Vielfalt der Gesellschaft – üblicherweise wird darauf geachtet, dass Frauen und Männer jeweils hälftig vertreten sind, ebenso verschiedene Altersgruppen sowie diverse sozio-ökonomische Hintergründe. Bürger mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Interessen, Meinungen und Perspektiven werden beteiligt. Gerade in der EU hat dieser Ansatz seinen besonderen Reiz. In den meisten EU-Beteiligungsverfahren werden lediglich „organisierte Bürger“ berücksichtigt. Der „einzelne Bürger“, mit seinen Interessen, Ideen und Vorstellungen bleibt außen vor. Durch diesen Ansatz könnten die transnationale Komponente und damit die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gefördert werden.

Doch die Entscheidung für eine Beteiligungsvariante mit „Zufallsbürgern“ löst weitere Fragen aus: Wo soll der Schwerpunkt der Beteiligung liegen? Auf nationaler, dezentraler oder transnationaler, zentraler Ebene? Tagen Bürger alleine oder gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der Zukunftskonferenz? Wie gelingt ein Austausch der Bürger bei insgesamt 24 Amtssprachen in der EU? Diese Fragen zeigen, eine Zukunftskonferenz unter Beteiligung von Bürgern ist keine normale Konferenz. Vielen ist das noch nicht bewusst.

Gerade in Corona-Zeiten: Endlich echte E-Partizipation

Neben einer physischen Beteiligungskomponente braucht es auch eine virtuelle Seite, um eine breite europäische Öffentlichkeit an der Zukunftskonferenz zu beteiligen. Während die Einladung von zufällig ausgewählten europäischen Bürgern eine qualitativ hochwertige Form der Beteiligung darstellt, kann die Online-Beteiligung zu einer breiten Wahrnehmung in den Mitgliedstaaten führen.

Eine virtuelle Diskussion, an der sich mehrere Millionen Menschen EU-weit beteiligen, kombiniert mit (wenn es die Corona-bedingte Lage zulässt) einer späteren physischen Beteiligung von Bürgern, hätte das Potential, in einem Schneeballeffekt weitere Debatten auszulösen. Online könnten Ideen gesammelt und kategorisiert werden. In face-to-face-Formaten (sei es in Form von Video-Konferenzen oder persönlich vor Ort) gelingt die Ausarbeitung konkreter Bürgervorschläge. Wenn die Zukunftskonferenz tatsächlich den Anspruch hat, einen breiten europäischen Reflektionsprozess auszulösen, dann liegt der Schlüssel dazu in der Integration und Interaktion von Online und Offline.

Legitimität und Wirkung statt „democracy wash“

Die Zukunftskonferenz braucht also eine eigene Dramaturgie. Doch derzeit scheint die Debatte in Brüssel und den Mitgliedstaaten wie weggesackt. Weil die Diskussion sich eher lustlos dahinzieht, scheint die Gefahr eines faden, aber gesichtswahrenden Institutionenkompromiss immer größer. Doch Vorsicht: Manche oder mancher könnte sich noch erinnern, was ursprünglich versprochen wurde.

Die direkte Beteiligung von EU-Bürgern an einer EU-Zukunftskonferenz wäre Neuland – und damit Chance und Risiko zugleich. Chance, weil die EU endlich das Schlagwort vom Europa der Bürger mit Leben füllen kann. Gut gemachte Bürgerbeteiligung steigert das Vertrauen der Menschen in die Politik. Risiko, weil eine große Öffentlichkeit auf den Prozess schaut und der Eindruck vermieden werden muss, dass Bürger für politische Zwecke missbraucht werden.

Wenn Teilnehmer eines Beteiligungsprozesses das Gefühl erlangen, instrumentalisiert zu werden, kehrt sich ihr Engagement in Widerstand um. An einem „democracy wash“ sollte niemand Interesse haben. Damit würde man dem Bemühen, die EU partizipativer zu gestalten, einen Bärendienst erweisen.

Dr. Dominik Hierlemann ist Senior Expert bei der Bertelsmann-Stiftung und leitet das Projekt „Demokratie und Partizipation in Europa“.
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: Blick auf das Europäische Parlament: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Dominik Hierlemann: privat [alle Rechte vorbehalten].

12 Mai 2020

Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Claudia Gamon. (Zum Anfang der Serie.)

View of the European Parliament
„Klar ist, dass die Konferenz den Rahmen bieten muss, um auch über die Entscheidungsstrukturen der Union zu sprechen.“
Man sagt, Krisen können sowohl das Beste als auch das Schlechteste in Menschen hervorbringen. Um das Beste aus der Politik hervorzubringen, ist für globalisierte Krisen die internationale Zusammenarbeit ein unabdingbares Vehikel. Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet eine Plattform, um zu zeigen wie diese Zusammenarbeit heute und morgen aussehen kann: gemeinsam mit den Bürger_innen, mutig und werteorientiert.

Die Eindämmung des Coronavirus ist eine Herkulesaufgabe. Die Pandemie stellt eine Herausforderung für unsere sozialen Systeme, unsere Wirtschaft, und somit für letztlich jeden Einzelnen von uns dar. Leider hat diese Pandemie auch gezeigt, dass in Krisenzeiten die europäische Solidarität leidet und einige Regierungen auf nationale Lösungen setzen. Insbesondere zu Beginn der Krise haben Mitgliedstaaten zuallererst auf sich selbst geachtet und damit an vielen Stellen innereuropäisches Chaos ausgelöst. Man denke an Blockaden von Lieferungen nach Italien oder an die unterschiedlichen Grenzregelungen, die zu kilometerlangen Staus geführt haben und teilweise noch immer führen. Das vorsichtige Herantasten an eine gemeinsame finanzielle Bewältigung der Konsequenzen von Corona, etwa durch einen Aufbaufonds, könnte als Beispiel dienen, wie ein gemeinsamer europäischer Weg aus der Krise eingeschlagen werden kann.

Insgesamt hat uns das Verhalten der einzelnen Mitgliedstaaten sowie der Institutionen der EU in der Corona-Krise jedoch schmerzlich vor Augen geführt, dass wir noch etliche große Schritte von einer echten europäischen Handlungsfähigkeit entfernt sind. Um diese zu setzen, werden wir an tiefgreifenden Reformen der Europäischen Union nicht vorbeikommen. Die Konferenz zur Zukunft Europas kann hierfür als Startschuss dienen.

Erstes Ziel: Vertrauen durch Bürgerbeteiligung

Das erste Ziel der Konferenz muss sein, das europaweite Vertrauen in die Institutionen der EU zu stärken. Um das zu erreichen, darf die Einbindung der Bürger_innen in diesen Prozess kein leeres Versprechen sein. Egal welche Formate schlussendlich gewählt werden, muss sichergestellt sein, dass die Diskussion an vorderster Front moderner Bürgerbeteiligung steht. Natürlich ist dies eine große Herausforderung, aber Bürger_innen aus 27 Mitgliedstaaten müssen in ausreichender Zahl und die Vielfalt unseres Kontinents widerspiegelnd, eingeladen werden. Auf inhaltlicher Ebene muss sicherstellt werden, dass die Ideen und Einwände auch tatsächlich gehört werden und die Konferenz nicht zu einem Schaulaufen der Politiker_innen mutiert.

Ein spannendes und lehrreiches Beispiel, wie eine derartige Einbindung der Bürger_innen stattfinden kann, hat der 2012 in Irland einberufene Verfassungskonvent gezeigt. Durch diese Initiative kam die Bevölkerung zusammen und setzte sich an die Hebel politischer Entscheidungen, was zu wesentlichen Reformen innerhalb Irlands führte. Von 2016 bis 2018 wurde in Irland erneut ein ähnliches Format in Form von Bürgerversammlungen abgehalten. Auch diese Zusammenkunft führte zu neuen Ideen und zwang die irische Politik, beispielsweise im Kampf gegen den Klimawandel, konkretere Maßnahmen zu setzen.

Die gestiegene Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen 2019 hat gezeigt, dass das Interesse an politischem Engagement auch jenseits der irischen Grenze vorhanden ist. Diesem Engagement muss Gehör verschafft werden. Das verstärkte Einbinden der Bürger_innen soll dabei nicht nur auf die Zeit der Konferenz beschränkt sein, sondern muss ein integraler Teil des politischen Entscheidungsprozesses in der EU werden. Das heißt: rechtzeitige Inklusion vorher, offenes Einbinden währenddessen, und bindende Übereinkünfte danach.

Zweites Ziel: Entscheidungsfähigkeit der Union

Als zweiten Schwerpunkt sehe ich die Frage der Entscheidungsfähigkeit der Union. Von Klimaneutralität 2050 bis hin zur Digitalisierung hat die Europäische Kommission große Pläne. Wenn es hier jedoch nicht zu rechtlich bindenden Entscheidungen kommt, könnten sich diese Pläne bald als leere Versprechen herausstellen. Um das zu vermeiden, muss die Konferenz handfeste Resultate, wenn nötig auch in Form von Vertragsänderungen hervorbringen.

Ich werde nicht müde zu betonen, dass wir bei aller wichtigen Kritik an der Europäischen Union nicht vergessen dürfen, was diese Union ist. Es gibt gemeinsame europäische Institutionen, aber keine wesentliche Entscheidung wird ohne die direkte Einbindung der Mitgliedstaaten getroffen. Diese sind in Form des Rats der Europäischen Union als gesetzgebende Institution stets involviert. Eine funktionierende und handlungsfähige Union ist daher oft nur so stark wie ihr trägstes Mitglied.

Die Rolle des Rates überdenken

Zu Beginn der Corona-Krise haben einige Mitgliedstaaten versucht, das Problem innerhalb ihrer nationalstaatlichen Grenzen zu lösen, was letztlich auch negative Konsequenzen nach sich zog. Hätte man schon im Jänner 2020 an einer effektiven europäischen Lösung gearbeitet, wären uns vielleicht so manche innereuropäischen Schwierigkeiten erspart geblieben. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Verfügbarkeit von Medizinprodukten. Es hätte hier eine gesamteuropäische Strategie gebraucht, welche die Versorgungsketten und Zulieferungen von Masken und Schutzausrüstung gewährleistet.

Diese nationale Engstirnigkeit kommt auch immer wieder im Rat der Europäischen Union zum Tragen. Der Rat tritt oft als blockierende Instanz in Erscheinung. Dass politische Stagnation in diesem Ausmaß möglich ist, liegt vor allem auch daran, dass viele wesentliche Entscheidungen noch immer einstimmig getroffen werden müssen – etwa in Fragen der Außen- oder der Steuerpolitik. Wir müssen daher dringend mehr Reformwillen kultivieren. Das Einstimmigkeitsprinzip im Rat mit einer qualifizierten Mehrheit zu ersetzen, wäre ein wesentlicher Schritt in diese Richtung. Dies würde im Rückschluss zu einer Verbesserung europäischer Handlungsfähigkeit führen – eine notwendige Verbesserung, in Anbetracht der großen Herausforderungen wie dem European Green Deal oder der Digitalisierung.

Ich würde einen Schritt weiter gehen und meine, dass die derzeitige Rolle des Rates in der Legislative an sich in Frage gestellt werden muss. Langfristig ist meine Vision, dass die Gesetzgebung der Union in einem Zwei-Kammern-Parlament geschieht. Ich möchte hier ausdrücklich nicht den Ergebnissen der Konferenz vorgreifen. Klar ist jedoch, dass die Konferenz den Rahmen bieten muss, um auch über die Entscheidungsstrukturen der Union zu sprechen. Es ist Zeit, hier mehr Mut zu beweisen.

Drittes Ziel: Stärkung der Grundwerte

Als dritten Schwerpunkt müssen wir die Konferenz nutzen, um jene europäischen Grundwerte zu stärken, die unsere Union erst möglich gemacht haben. Diese geraten derzeit von vielen bisher unerwarteten Seiten unter Druck. Die Zunahme autoritärer Regime in der Welt, wie wir sie beispielsweise in Russland unter Wladimir Putin, in China unter Xi Jinping oder in der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan sehen, ist eine besorgniserregende Entwicklung. Gleichzeitig zeichnet sich mancherorts auch innerhalb der Union ein Rückgang demokratischer Werte ab. Beispiele hierfür finden wir in Ländern wie Ungarn und Polen. Vor allem in Hinblick auf Ungarn, wo die Corona-Krise zur Aushebelung des Parlamentarismus genutzt wurde, muss die europäische Wertegemeinschaft ein starkes Zeichen setzen.

Die Konferenz muss daher auch an das eigentliche Ziel der Europäischen Union erinnern: ein friedliches und prosperierendes Miteinander, das sich an Freiheit, Gleichheit und Solidarität orientiert. Entwicklungen zurück zu Nationalismus und Populismus gefährden das Europäische Projekt als solches. Wir müssen daher im Rahmen der Konferenz Wege finden, wie wir diese Werte innerhalb der Union stärken können. Im Fall antidemokratischer Entwicklungen innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten könnten vorübergehende Reduktionen von EU-Förderungen als effiziente Sanktion dienen. Die gemeinsamen europäischen Werte sind die Quintessenz unserer Union. Wenn wir diese zurücklassen, bleibt vom europäischen Geist und der Zusammenarbeit nicht viel übrig.

Eine Konferenz für die Zukunft

Wenn uns die Probleme und Herausforderungen wie der Klimawandel, die Corona-Krise oder die notwendige Veränderung durch die Digitalisierung eines lehren, dann, dass wir sie nur gemeinsam meistern können. Nationalismus und Populismus bieten keine Lösungen für diese Probleme. In diesem Sinne ist mehr Handlungsfähigkeit für die Europäische Union ein zentraler Schritt, damit Europa aus diesen Krisen gestärkt hervortritt.

Effektives und nachhaltiges Handeln im Namen der EU kann jedoch nur gelingen, wenn wir mit den Bürger_innen arbeiten, mit mutigen Lösungen in die Zukunft gehen und uns an unseren gemeinsamen europäischen Werten orientieren. Die Konferenz zur Zukunft Europas bietet Raum, diese Aspekte nicht nur laut anzudenken, sondern in Taten umzuwandeln.

Claudia Gamon (Neos/ALDE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion Renew Europe.
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: Blick auf das Europäische Parlament: © European Union 2013 – Source: EP [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt Claudia Gamon: © NEOS.

09 Mai 2020

Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt

Zeit für etwas Neues!
Am heutigen Europatag hätte es losgehen sollen: Ab dem 9. Mai 2020 sollte die Konferenz über die Zukunft Europas zwei Jahre lang darüber diskutieren, wie es mit der europäischen Einigung weitergeht. Inzwischen ist klar, dass dieser Zeitplan nicht eingehalten werden kann. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind die vorbereitenden Gespräche zwischen Parlament, Kommission und Rat, die in eine gemeinsame Erklärung zur Struktur und Arbeitsweise der Konferenz hätten münden sollen, zum Erliegen gekommen. Mitte April erklärte die zuständige Kommissions-Vizepräsidentin Dubravka Šuica (HDZ/EVP), die Eröffnung werde frühestens im September stattfinden.

Diese Verzögerung ist angesichts von social distancing und Reisebeschränkungen in ganz Europa einerseits nachvollziehbar. Doch andererseits wird der Reformbedarf der Europäischen Union dadurch natürlich nicht kleiner: Schon seit allzu vielen Jahren konzentriert sich die europapolitische Debatte oft nur auf das Management der jeweils aktuellen Krise, hinter der der mittel- und langfristige Horizont der europäischen Integration verschwinden. Die Konferenz über die Zukunft Europas bietet die wichtige Chance, das zu ändern. Trotz – oder gerade wegen – der Verschiebung ist es deshalb notwendig, jetzt die öffentliche Auseinandersetzung darüber zu beginnen: Was erwarten wir eigentlich von dieser Konferenz, was genau soll sie erreichen und bewirken?

„Neuer Schwung für die Demokratie“

Ihren Anfang nahm die Idee der Konferenz in einem öffentlichen Brief, den der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (LREM/–) einige Wochen vor der Europawahl 2019 an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“ richtete. Macron schlug darin vor, „noch vor Ende dieses Jahres […] eine Europakonferenz ins Leben rufen, um alle für unser politisches Projekt erforderlichen Änderungen vorzuschlagen, ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge“.

Nach der Europawahl machte sich die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) diese Idee in ihren politischen Leitlinien zu eigen. Unter der Überschrift Neuer Schwung für die Demokratie in Europa versprach von der Leyen dem Europäischen Parlament eine Zukunftskonferenz, die von 2020 bis 2022 tagen und bei der „die Bürgerinnen und Bürger […] zu Wort kommen“ sollten. Das Parlament griff diesen Vorstoß bereitwillig auf. Bis zum Jahresende 2019 erarbeitete eine neunköpfige Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Ausgestaltung der Konferenz, der Mitte Januar vom Parlamentsplenum verabschiedet wurde. Kurz darauf zog auch die Kommission nach und präsentierte ein eigenes Konzept.

Verzögerung im Rat

Auf weniger Begeisterung stieß die Idee der Zukunftskonferenz unter den nationalen Regierungen. Zwar gab es auch aus deren Kreis einige konstruktive Beiträge dazu, etwa in Form eines gemeinsamen deutsch-französischen Non-Papers von November 2019. Doch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Dezember fanden sich zu der Konferenz nur drei knappe Absätze unter der Rubrik „Sonstiges“, und auch später gelang es den Regierungen nicht, sich auf einen gemeinsamen Standpunkt zu einigen.

Ohne eine klare Position des Rates aber blieb auch der notwendige nächste Schritt unmöglich: die Formulierung einer gemeinsamen Erklärung, in der Parlament, Rat und Kommission Zusammensetzung, Ablauf und Ziel der Konferenz hätten festlegen müssen. Mit der Corona-Pandemie blieben die Gespräche dann endgültig stecken, die Regierungen hatten andere Prioritäten.

Vorfreude auf die Konferenz

Immerhin: In ihrer Corona-Resolution vom 17. April forderten die Europaabgeordneten noch einmal, dass „die Konferenz so bald wie möglich einberufen werden und dass sie, unter anderem durch direkte Kontakte zu den Bürgern, klare Vorschläge für die Herbeiführung einer tiefgreifenden Reform der Union vorlegen muss, durch die sie wirksamer, einiger, demokratischer, souveräner und widerstandsfähiger wird“. Und Ende April forderten die Europaministerinnen und -minister von Belgien, Bulgarien, Griechenland, Irland und Österreich in einem gemeinsamen Schreiben ihre Amtskollegen auf, „jetzt mit unserer Arbeit zu beginnen“.

Und auch unter proeuropäischen Aktivistinnen und Aktivisten ist die Vorfreude auf die Konferenz ungebrochen. Unter der Überschrift Citizens Take Over Europe organisieren am heutigen Europatag Gruppierungen aus ganz Europa den ganzen Tag über Online- und Offline-Veranstaltungen, die als Auftakt einer zweijährigen, parallel zur Zukunftskonferenz stattfindenden Graswurzelkampagne dienen sollen.

Was soll die Konferenz eigentlich erreichen?

Was die Vorbereitungen auf die Konferenz über die Zukunft Europas schon vor dem Ausbruch der Pandemie so schwierig machte, ist allerdings nicht nur die skeptische Haltung einiger nationaler Regierungen. Auch unter den Befürwortern gehen die Vorstellungen, was mit der Konferenz erreicht werden soll, teilweise weit auseinander.

Wie auf diesem Blog an anderer Stelle ausführlicher beschrieben, verschob sich im Lauf der Zeit der Fokus der Debatte. Standen am Anfang noch institutionelle Reformen wie das Spitzenkandidatenverfahren oder die Einführung gesamteuropäischer Wahllisten im Mittelpunkt, so war später von einem sehr viel breiteren Themenspektrum die Rede, dem sich die Konferenz widmen sollte: etwa dem Klimawandel, dem europäischen Sozialmodell, der Digitalisierung, der europäischen Rolle in der Welt – und natürlich der Gesundheitspolitik, die seit der Coronakrise allgegenwärtig ist.

Anderen Akteuren wiederum geht es überhaupt nicht so sehr um die Inhalte der Konferenz, sondern eher darum, auf europäischer Ebene neue, innovative Formate der Bürgerbeteiligung zu erproben. Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass an der Konferenz neben den EU-Institutionen, nationalen Regierungen und Parlamenten auch Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt sein werden. Aber wie sollen sie ausgewählt werden? Und in welcher Form sollen sie mit den Repräsentantinnen und Repräsentanten der demokratisch gewählten Organe interagieren?

Sprechen wir über unsere Wünsche und Hoffnungen

Die Konferenz über die Zukunft Europas präsentiert sich damit gleich in mehrerer Hinsicht als ein spannender, offener Prozess. Das bringt Chancen und Risiken mit sich: Sie könnte bislang feststeckende Steine ins Rollen bringen und wichtige Impulse für die weitere Entwicklung der EU geben – oder sich in widersprüchlichen Zielsetzungen verstricken, ihr politisches Momentum verschenken und zuletzt vor allem Frustration und Enttäuschung verursachen. Damit die Konferenz zum Erfolg wird, ist es deshalb notwendig, dass wir Europäerinnen und Europäer uns zunächst über unsere Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an sie verständigen.

In den kommenden Wochen wird dieses Blog in einer Serie von Gastbeiträgen eine Vielfalt von Perspektiven darstellen, um die Debatte über die Erwartungen an die Konferenz in Gang zu setzen. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft werden beschreiben, was die Konferenz aus ihrer Sicht erreichen sollte und welche Aspekte – Inhalte, Zusammensetzung, Verfahren – besonders wichtig sind, um dieses Ziel zu erfüllen. Den Anfang macht in Kürze die österreichische Europaabgeordnete Claudia Gamon (Neos/ALDE).

Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bild: Manuel Müller.

07 Mai 2020

Bundesverfassungsgericht vs. EuGH: Das PSPP-Urteil beschädigt weniger die EZB als die europäische Rechtsgemeinschaft

Das BVerfG schießt mit Kanonen auf Spatzen – und trifft dabei die europäische Rechtsgemeinschaft.
Und schließlich krachte es doch: Am vorgestrigen Dienstag verkündete das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein Urteil im EZB-Verfahren, in dem es über die Rechtmäßigkeit des Public Sector Purchase Programme (PSPP) zu befinden hatte, mit dem die Europäische Zentralbank seit 2015 öffentliche Anleihen aufkauft. Ziel dieses Programms ist, zur Stabilisierung der Inflationsrate bei knapp unter 2 Prozent beizutragen – das ist der Auftrag der Europäischen Zentralbank nach den EU-Verträgen. Kritiker warfen der EZB jedoch vor, mit dem PSPP primär wirtschafts-, nicht geldpolitische Zwecke zu verfolgen sowie Staatsfinanzierung zu betreiben, was nach den EU-Verträgen verboten wäre.

Es kam zu einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG, das den Fall pflichtgemäß dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegte: Immerhin ist der EuGH ein supranationales Organ und die Grenzen seines Mandats durch das europäische Recht festgelegt. Im Vorabentscheidungsverfahren stellte der EuGH Ende 2018 fest, dass das PSPP in den Bereich der Währungspolitik falle, verhältnismäßig sei, aufgrund verschiedener Garantien nicht zu einer unmittelbaren Staatsfinanzierung führe und den Mitgliedstaaten auch nicht den Anreiz einer gesunden Haushaltsführung nehme – im Ganzen deshalb europarechtlich zulässig sei.

Ultra-vires-Doktrin

Aus europarechtlicher Sicht war die Sache damit eigentlich erledigt. Eine Vorabentscheidung des EuGH (nach Art. 267 AEUV) stellt eine verbindliche Auslegung des Europarechts dar, die die nationalen Gerichte nur noch umsetzen müssen. Doch das Bundesverfassungsgericht hatte schon in der Vergangenheit immer wieder klar gemacht, dass es sich an diese Regel nicht wirklich gebunden fühlt: Die Gültigkeit des Europarechts, so das Argument der deutschen Richter, ergebe sich nur aus dem Willen der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“; mithin besitze auch der EuGH nur die Kompetenzen, die die Mitgliedstaaten ihm in den EU-Verträgen eingeräumt haben; und wenn der EuGH das Europarecht nicht richtig anwende, dann handle er jenseits seiner Kompetenzen („ultra vires“), sodass die Mitgliedstaaten sich nicht an seine Urteile zu halten hätten.

Diese Ultra-vires-Doktrin geht auf das Lissabon-Urteil von 2009 zurück, blieb seitdem jedoch im Wesentlichen ein theoretisches Konstrukt. Zwar winkte das BVerfG verschiedentlich mit der großen Keule – offenbar in der Hoffnung, den EuGH auf diese Weise zu beeindrucken und gleichsam fernzusteuern. Doch wenn ein Urteil des EuGH dann nicht den Vorstellungen der deutschen Richter entsprach, akzeptierten diese es zähneknirschend trotzdem und erwarben damit den Ruf eines Hunds, der bellt, aber nicht beißt.

Nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“

Bis jetzt – denn im PSPP-Urteil schlug das Verfassungsgericht nun mit aller Härte zu. Die Auslegung des Europäischen Gerichtshof sei, so heißt es in den Leitlinien, „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“. Seine Entscheidung sei deshalb „vom Mandat des [EU-Vertrags] nicht mehr gedeckt“, sodass ihr „jedenfalls für Deutschland das […] erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt“.

Die Verfassungsrichter räumen in ihrem eigenen Urteil deshalb der Vorabentscheidung des EuGH keinerlei normativen Wert ein und setzen an deren Stelle ihre eigene Auslegung des Europarechts. Diese fällt, was den Vorwurf der Staatsfinanzierung betrifft, dann allerdings gar nicht so anders aus als die des EuGH: Aufgrund verschiedener Garantien im PSPP sei „auf der Basis der gebotenen Gesamtbetrachtung“ eine „offensichtliche Umgehung“ des Finanzierungsverbots „nicht feststellbar“ (Rn. 216).

Methodenstreit um die Verhältnismäßigkeit

Worin sich die Karlsruher Richter verbeißen, ist vielmehr die Frage, ob das PSPP auch verhältnismäßig ist. In seinem Urteil hatte der EuGH erklärt, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlange, „dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit einer Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist“ (Rn. 72). Im konkreten Fall sei der EZB ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen, da es sich um sehr komplexe und technische Einschätzungen handle. Einen „offensichtlichen Beurteilungsfehler“ konnte der EuGH aber jedenfalls nicht erkennen; zudem verhinderten verschiedene Garantien im PSPP, dass das Programm über das Ziel hinausschieße, und begrenzten auch die Risiken, die den Zentralbanken durch das PSPP bei einem möglichen Zahlungsausfall eines Mitgliedstaats entstehen könnten. Insgesamt sei das PSPP deshalb als verhältnismäßig einzustufen.

Dem Bundesverfassungsgericht ist diese Abwägung jedoch nicht genug. Der EuGH, so kritisieren die Karlsruher Richter, habe in seiner Analyse die Argumente der EZB zu gutgläubig übernommen und dabei die „vorhersehbaren und/oder – unter Umständen sogar vorrangig – intendierten, jedenfalls aber in Kauf genommenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Konsequenzen des Programms“ einfach hingenommen (Rn. 136). Kurz gesagt, es fehle „eine Berücksichtigung der wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen des Programms […], die das PSPP etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat“ (Rn. 139).

Abwägung währungs- und wirtschaftspolitischer Auswirkungen

Ohne eine Erwägung dieser Faktoren sei jedoch eine „effektive Kompetenzkontrolle der EZB“ unmöglich, das Vorgehen des EuGH deshalb „methodisch nicht mehr vertretbar“ (Rn. 141). Das EuGH-Urteil stelle sich „deshalb als Ultra-vires-Akt dar, der das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage nicht bindet“ (Rn. 154).

Stattdessen geht das BVerfG in der Folge dazu über, selbst eine Reihe von möglichen wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP aufzuzählen, die die EZB nicht hinreichend gegen die währungspolitischen Ziele abgewogen habe. (Dass das BVerfG, wie Mark Schieritz in der ZEIT festgehalten hat, dabei nicht durchweg auf der Höhe der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte argumentiert, soll hier nur am Rande erwähnt werden). Wegen dieses „Abwägungs- und Darlegungsausfalls“ sei das PSPP als eine rechtswidrige Kompetenzausweitung der EZB, also „als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren“ (Rn. 177f.).

Ein einfacher Ausweg im letzten Moment

Der EuGH urteilt „objektiv willkürlich“, die EZB handelt jenseits ihrer Kompetenzen, ihre Maßnahmen sind „in Deutschland unanwendbar“, sodass deutsche Behörden „weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung“ mitwirken dürfen (Rn. 234): fast scheint es, als wolle das BVerfG mit seinem Urteil die Eskalationsspirale so weit drehen, dass ein Zurück nicht mehr möglich wird.

Bei den Rechtsfolgen des Urteils öffnen die Richter dann im allerletzten Moment aber doch noch einen einfachen Ausweg: Da das PSPP sich ja nur „insoweit als Ultra-vires-Akt darstellt, als die EZB seine Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt hat“, sei die deutsche Bundesregierung nun erst einmal dazu verpflichtet, „auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken“ (Rn. 232). Erst nach „einer für die Abstimmung im ESZB notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten“ dürfe die deutsche Bundesbank sich nicht mehr an der Umsetzung des PSPP beteiligen, „wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen“ (Rn. 235).

EZB wird BVerfG-Forderungen leicht erfüllen können

Kurz gesagt: Die Europäische Zentralbank soll noch einmal in einem formalen Beschluss ihre Gründe festhalten, warum der währungspolitische Nutzen des PSPP schwerer wiegt als seine wirtschaftspolitischen Nebenwirkungen. Wie zahlreiche Beobachter unmittelbar nach dem Urteil feststellten, dürfte das EZB kaum schwerfallen: Die (hoch komplexen) Auswirkungen geldpolitischer Entscheidungen zu modellieren und gegeneinander abzuwägen, gehört zum Alltagsgeschäft der Zentralbank.

Die wahrscheinlichste unmittelbare Folge des Urteils wird also sein, dass die EZB den vom BVerfG gewünschten Beschluss nachreicht und die Bundesbank erklärt, dass aus ihrer Sicht einer weiteren Teilnahme am PSPP nichts im Wege steht. Vermutlich wird daraufhin irgendein Kläger erneut Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG einreichen, woraufhin dieses die Angelegenheit kurz prüft und dann die weitere Beteiligung der Bundesbank am PSPP genehmigt. Umgekehrt ist zu erwarten, dass auch die EU-Organe sich nun erst einmal abwartend verhalten – und, sofern es auf praktischer Ebene zu keinen Nachwirkungen kommt, die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.

Bei weiterer Eskalation wäre Vertragsverletzungsverfahren zwingend

Dennoch lohnt es sich, kurz darüber nachzudenken, was im Fall einer Eskalation geschehen würde: wenn etwa die EZB (die auf das Urteil zunächst mit einer nichtssagenden Stellungnahme reagierte) keinen Präzedenzfall für nationale Sonderwünsche schaffen will und sich deshalb weigert, den vom BVerfG gewünschten Beschluss zu verabschieden, oder wenn dem BVerfG der Inhalt dieses Beschlusses nicht passt und es deshalb die weitere Beteiligung der Bundesbank am PSPP verbietet.

In diesem Fall stünden zunächst einmal die Mitarbeiter der Bundesbank vor einem nicht auflösbaren Dilemma: Die Bundesbank ist nach § 3 BBankG „als Zentralbank der Bundesrepublik Deutschland integraler Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken“. Sie ist damit einerseits eine deutsche Behörde und als solche dem BVerfG unterworfen, andererseits aber dem EZB-Rat weisungsgebunden. Die Bundesbankmitarbeiter stünden also zwischen nationalem und europäischem Verfassungsrecht in der Zwickmühle – und würden gegen eine von beiden Pflichten verstoßen, egal, wie sie sich verhalten.

Zugleich könnte in einer solchen Situation natürlich auch die Kommission nicht untätig bleiben und müsste ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH einleiten, in dem Deutschland mit Sicherheit verurteilt würde: Schließlich hat der EuGH die Rechtmäßigkeit des PSPP bereits festgestellt und an der Weisungsgebundenheit der Bundesbank bestehen keine Zweifel. Das BVerfG wiederum würde dieses Vertragsverletzungsverfahren erneut als Ultra-vires-Akt einstufen und Bundesregierung und Bundesbank jedes Einlenken verbieten. Die Kommission könnte deshalb in einem neuen Verfahren vor dem EuGH ein Zwangsgeld gegen Deutschland verhängen lassen … bis am Ende hoffentlich die zeitliche Befristung des PSPP dem ganzen Spuk ein Ende setzen würde.

Gravierende Nebenwirkungen

Was also wird bleiben von diesem BVerfG-Urteil? Viel spricht dafür, dass die Karlsruher Richter die Kanone, die sich mit der Ultra-vires-Doktrin gebaut hatten, endlich einmal einsetzen wollten – und dass sie damit auf Spatzen geschossen haben, ohne ausreichend über die Nebenwirkungen nachzudenken.

Eine dieser Nebenwirkungen, die Juristen wie Alexander Thiele und Miguel Poiares Maduro und Ökonomen wie Peter Bofinger bereits unmittelbar nach dem Urteil hervorgehoben haben, betrifft das Verhältnis von Währungs- und Wirtschaftspolitik in der Zielsetzung der EZB. Nach Art. 127 AEUV ist das „vorrangige Ziel“ der EZB, „die Preisstabilität zu gewährleisten“; nur „[s]oweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist“, darf sie darüber hinaus die „allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union“ unterstützen, um „zur Verwirklichung der in Artikel 3 [EUV] festgelegten Ziele der Union [u.a. Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt] beizutragen“.

Das BVerfG stellt den Vorrang der Preisstabilität in Frage

Diese absolute Vorrangstellung der Preisstabilität folgt der Idee, dass Zentralbanken bei der Inflationskontrolle nur dann glaubwürdig sind, wenn sie unabhängig und monothematisch auf dieses Ziel ausgerichtet sind – eine Idee, die in der deutschen Politik und der Bundesbank traditionell besonders starken Rückhalt besitzt und auch vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil von 1993 (Rn. 147f.) besonders hervorgehoben wurde.

Mit seiner Forderung, im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wirtschafts- und währungspolitische Effekte gegeneinander abzuwägen, unterläuft das BVerfG-Urteil diese Idee: Wenn die EZB jetzt die Auswirkungen des PSPP auf Sparguthaben und Immobilienpreise in ihre Abwägung einbeziehen soll, müsste sie konsequenterweise vor der nächsten Zinserhöhung die Folgen auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsrate mit berücksichtigen – und zwar nicht nur als geldpolitische Rahmenbedingungen, sondern als eigenständige Zielsetzungen, die gegen das Ziel der Preisstabilität abzuwägen sind. Im Ergebnis müsste die EZB also ständig eine Vielzahl von wirtschaftspolitischen Zielsetzungen im Auge behalten. Sie würde damit genau das Gegenteil dessen tun, was die Verfechter einer harten Inflationskontrolle von ihr verlangen.

Erosion der europäischen Rechtsgemeinschaft

Die zweite, noch gravierendere Nebenwirkung aber betrifft die europäische Rechtsgemeinschaft als solche. Denn das BVerfG ist nicht das einzige Gericht, das seine Schwierigkeiten mit dem Vorrang des Europarechts und dem Auslegungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs hat. Die Vorbehalte, die die Karlsruher Richter in vergangenen Urteilen gegenüber dem EuGH formuliert haben, spiegelten sich auch in Urteilen anderer nationaler Verfassungsgerichte wider, die sich in mehreren an – wenn auch kleineren – Fällen weigerten, der Auslegung des EuGH zu folgen.

Und wenn schon dieser stete Tropfen Sorge vor einer allmählichen europaweiten Erosion der Rechtsgemeinschaft aufkommen lassen musste, so geht es in einigen Mitgliedstaaten inzwischen längst um die Rechtsstaatlichkeit selbst. Insbesondere in Polen schränkte die nationale Regierung seit 2016 mit mehreren Justizreformen die Unabhängigkeit der Gerichte immer weiter ein, brachte 2017 das Verfassungsgericht und 2018 den Landesjustizrat, der für die Ernennung von Richtern zuständig ist, parteipolitisch auf Linie.

Der letzte Rückhalt für den Rechtsstaat in Polen

Die EU-Institutionen sahen dieser Entwicklung weitgehend ohnmächtig zu – bis auf den EuGH, der Ende 2019 ein Urteil erließ, das die Überweisung von Rechtssachen an nicht-unabhängige Gerichte für europarechtswidrig erklärte, und Anfang April 2020 per einstweiliger Anordnung die weitere Tätigkeit der regierungshörigen polnischen Disziplinarkammer untersagte. Die polnische Regierung reagierte darauf mit dem sogenannten „Maulkorb-Gesetz“, das polnischen Richtern indirekt die Umsetzung des EuGH-Urteils verbot.

Wie auf diesem Blog an anderer Stelle ausführlicher beschrieben, kam es damit zu einer Spaltung des polnischen Rechtssystems: Auf der einen Seite stehen die noch unabhängigen Gerichte, insbesondere das Oberste Gericht, die unter Berufung auf den EuGH die Anwendung der Justizreformen zu stoppen versuchen; auf der anderen die Regierung und das von ihr gekaperte Verfassungsgericht, die die Umsetzung der EuGH-Urteile zu verhindern versuchen. Der Vorrang des Europarechts wurde damit zum wichtigsten und fast schon letzten Rückhalt für die Verteidiger des polnischen Rechtsstaats.

Ein Geschenk für die Feinde des Rechtsstaats

Als die Europäische Kommission Ende April gegen das Maulkorb-Gesetz ein neues Vertragsverletzungsverfahren einleitete, reagierte Justizminister Zbigniew Ziobro (PiS/EKR) dementsprechend mit einer eindeutigen Ansage: Die polnische Justizreform sei eine rein nationale Angelegenheit; indem die Kommission den EuGH damit befasse, versuche sie sich „widerrechtlich Zuständigkeiten des polnischen Staates anzueignen, die dieser ihr nicht übertragen hat“. Die polnische Verfassung habe „immer Vorrang vor dem EU-Recht gehabt und wird ihn immer haben“.

Und in diese Situation platzt nun das PSPP-Urteil, in dem die weithin respektierten Karlsruher Richter demonstrieren, wie einfach sich eine EuGH-Entscheidung mithilfe der Ultra-vires-Doktrin beiseiteschieben lässt. Es wird wohl eher eine Frage von Wochen als von Monaten sein, bis ihre regierungshörigen Warschauer Amtskollegen diese Lektion für ihre eigenen Zwecke nutzen. Entsprechend triumphierend fiel dann auch die erste Reaktion aus dem polnischen Justizministerium aus. Das Bundesverfassungsgericht hätte den Feinden des Rechtsstaats kaum ein größeres Geschenk machen können.

Bild: Dieter Heinrich [CC BY-ND 2.0], via Flickr.