Es
geht los: Nach einigem
Auf und Ab und einer einmonatigen Verzögerung bei der Auswahl ihrer
Mitglieder ist seit dem 1. Dezember die Europäische Kommission
unter Ursula von der Leyen (CDU/EVP) im Amt. Und sie hat sich einiges
vorgenommen. Nach den politischen Leitlinien, die von der Leyen im
Europäischen Parlament präsentiert hat, will die Kommission in den
ersten hundert Tagen, das heißt bis Anfang März 2020, konkrete
Vorschläge
zu drei Flaggschiff-Projekten vorlegen, die die weitere Amtszeit
prägen sollen: einen „europäischen Grünen Deal“, der Europa
bis 2050 klimaneutral machen soll, ein Modell für europaweite
Mindestlöhne und Lohntransparenz sowie ein Konzept zur Regulierung
künstlicher Intelligenz.
Allein
diese Agenda würde schon genügen, um im nächsten Jahr viele
wichtige und weitreichende Debatten über die Zukunft des Kontinents
zu führen. Aber so gemütlich wird es natürlich nicht werden. Auch
2020 werden noch eine Vielzahl weiterer Themen die europäischen
Institutionen in Atem halten.
Brexit
Gleich im Januar steht der erste große Umbruch an: Nach jahrelangen
Verhandlungen und mehreren Verzögerungen ist nun wohl endlich der
Zeitpunkt gekommen, an dem das Vereinigte Königreich die
Europäische Union verlässt. Nach dem Erdrutschsieg der Conservative Party
(EKR) bei der gestrigen
Unterhauswahl steht der Ratifikation des zwischen
der EU und der Regierung Johnson ausgehandelten Austrittsvertrags
nichts mehr im Wege, sodass das
Vereinigte Königreich aller Voraussicht nach am 31. Januar 2020 aus der Europäischen Union austreten wird.
Doch
damit wird der Brexit keineswegs von der Tagesordnung verschwinden.
Vielmehr stehen nach dem Austritt die Verhandlungen über ein
künftiges Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten
Königreich an – die eher noch komplexer werden dürften als die
Austrittsverhandlungen bisher. Bis Ende 2020 gilt erst einmal
eine Übergangsphase, in der Großbritannien weiterhin zum
europäischen Binnenmarkt zählt, europäisches Recht anwendet und in
den europäischen Haushalt einzahlt. Aber dass ein Jahr wirklich
genügen wird, um die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss
zu bringen, glaubt kaum jemand ernsthaft. Um eine Rückkehr von
Zollkontrollen zu vermeiden, wäre eine Verlängerung der
Übergangsphase nötig, die bis Mitte des Jahres beschlossen werden
müsste. Johnson schließt das bisher aus, aber es wäre nicht die
erste Kehrtwende in dieser Verhandlungsachterbahn.
Mehrjähriger
Finanzrahmen
Mit dem Brexit verliert die Europäische Union rund ein Zwanzigstel ihrer Fläche, ein Achtel ihrer Bevölkerung und ein Sechstel ihres Bruttoinlandsprodukts. Das hat auch Auswirkungen auf den Haushalt, in dem der Brexit eine Budgetlücke hinterlässt, die nun von den übrigen Mitgliedstaaten gefüllt werden muss, wenn die EU auch in Zukunft finanziell so handlungsfähig bleiben soll wie bisher.
Die
Höhe des EU-Haushalts in den nächsten Jahren wird deshalb eine
Schlüsselfrage in den Diskussionen des nächsten Jahres werden. Ende
2020 läuft nämlich auch der aktuelle „mehrjährige Finanzrahmen“
aus, mit dem der Umfang des europäischen Budgets jeweils für sieben
Jahre im Voraus festgelegt wird. Erste Vorschläge für den neuen
Finanzrahmen 2021-27 hat die Europäische Kommission bereits
Anfang 2018 vorgelegt, und schon die finnische
Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2019 bemühte sich, darüber eine Einigung im Ministerrat zu erzielen. Doch
damit der Finanzrahmen in Kraft tritt, müssen alle 27 Regierungen
und das Europäische Parlament zustimmen – und deren Vorstellungen
darüber, wie viel Geld der EU zur Verfügung stehen sollte, gehen
weit auseinander.
Hinzu kommt, dass die Höhe des Budgets keineswegs das einzige Streitthema
ist. Zur Diskussion stehen zum Beispiel auch neue Einnahmequellen für das EU-Budget (etwa aus dem Emissionshandel
oder einer Plastiksteuer), die Abschaffung
des bisherigen Rabattsystems für große Nettozahler und die
Verteilung des Budgets auf verschiedene Ausgabenbereiche mit der
möglichen
Umschichtung von alten Schwerpunkten wie der Landwirtschaft auf neue
wie die Klimapolitik. Eine Einigung über all diese Fragen wird
erst gegen Jahresende 2020 erwartet.
Rechtsstaatlichkeits-Mechanismen
In
den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen geht es
diesmal aber nicht nur um Geld, sondern auch um harte
Verfassungspolitik: Geht es nach den Vorstellungen der Kommission,
soll die Auszahlung europäischer Finanzmittel künftig daran
gebunden sein, dass die Mitgliedstaaten bestimmte politische
Bedingungen erfüllen. Diese „Konditionalität“ betrifft neben
Verpflichtungen in der gemeinsamen Klima- und Migrationspolitik auch
die Einhaltung der europäischen Werte von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit. Während einige Regierungen, darunter auch die
bisherige
finnische Ratspräsidentschaft, diese Idee nachdrücklich
unterstützen, lehnen insbesondere Polen und Ungarn (aber auch ihre
Verbündeten in der Visegrád-Gruppe, Tschechien und Slowakei) sie
vehement
ab.
Aber
auch abseits des mehrjährigen Finanzrahmens wird im neuen Jahr über
Maßnahmen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit diskutiert werden. So
will die Kommission künftig für
jeden Mitgliedstaat einen jährlichen Rechtsstaatsbericht vorlegen;
die deutsche und belgische Regierung haben Anfang 2019 einen
„Peer-Review-Mechanismus“ vorgeschlagen, in dem sich die
Mitgliedstaaten gegenseitig begutachten. Bei der ungarischen
Regierung kommen all diese Vorschläge wenig überraschend nicht
allzu gut an, was einige scharfe
Debatten erwarten lässt.
Laufende
Artikel-7-Verfahren
Überhaupt Ungarn: Bereits Ende 2018 leitete das Europäische Parlament ein Artikel-7-Verfahren ein, das – wenigstens in der Theorie – zu Sanktionen gegen die Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) führen könnte. Ein ähnliches Verfahren gegen die polnische Regierung läuft sogar schon seit Sommer 2018. In beiden Verfahren wäre der nächste Schritt, dass der Ministerrat formal feststellt, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der [europäischen Grundwerte] besteht“. Dafür ist allerdings eine Vier-Fünftel-Mehrheit (21 von 27 nationalen Regierungen) erforderlich, und da nicht sicher ist, ob der Rat diese Hürde nehmen würde, wurde die Entscheidung bisher immer wieder verschoben.
Jüngst
kam es noch einmal zum Eklat, als der ungarische Regierungssprecher
Zoltán Kovács aus einer vertraulichen Ratssitzung zum
Artikel-7-Verfahren twitterte und Kommissionsmitglieder
sowie Minister der anderen EU-Mitgliedstaaten als „Soros Orchestra“
bezeichnete (in Anspielung auf den ungarisch-amerikanischen
Investor und Demokratie-Aktivisten George Soros). Ob es 2020 konkrete
Fortschritte in diesem Verfahren geben wird, ist allerdings
zweifelhaft. Dass in den letzten Wochen auch
in Malta die Rechtsstaatskrise eskalierte, dürfte die Debatten
auf europäischer Ebene nicht erleichtern.
Parteiausschluss
von Fidesz und PSD?
Doch nicht nur die EU-Institutionen suchen nach Möglichkeiten, Regierungen, die gegen die Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, zur Rechenschaft zu ziehen. Andere Akteure könnten sehr viel schneller handeln: Die Europäische Volkspartei hat die Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei Fidesz bislang nur suspendiert, nicht aufgehoben. Donald Tusk (PO/EVP), der nach dem Ende seiner Amtszeit als Ratspräsident jüngst zum EVP-Parteivorsitzenden gewählt wurde, will nun bis Ende Januar eine Entscheidung herbeiführen. Tusk selbst gilt dabei eher als Orbán-Gegner. Allerdings stellt die Fidesz im Europäischen Parlament mit 13 Abgeordneten die drittgrößte nationale Delegation in der EVP-Fraktion. Wären die europäischen Konservativen wirklich bereit, auf sie zu verzichten?
Vor
ähnlichen Fragen stehen auch die europäischen Sozialdemokraten, die
vor einigen Wochen beschlossen, die Suspendierung ihrer rumänischen
Mitgliedspartei PSD bis
zum kommenden Juni aufrechtzuerhalten und dann erneut darüber
darüber zu beraten. Dass der PSD zuletzt in den Umfragen
abgestürzt ist und die nationale Regierungsmacht verloren hat,
könnte den europäischen Sozialdemokraten aber die
Trennung erleichtern. Würde es dazu kommen, wäre das ein
deutliches Signal vor der rumänischen
Parlamentswahl, die voraussichtlich im Herbst 2020 stattfinden
wird.
Nationale Wahlen
Außer in Rumänien sind im neuen Jahr auch in der Slowakei, Kroatien und Litauen nationale Parlamentswahlen geplant. In Kroatien und Polen finden zudem Präsidentschaftswahlen statt. Die meisten davon dürften allerdings eher undramatisch verlaufen.
Größere
Unsicherheit herrscht in Italien, wo die nächste reguläre Wahl zwar erst 2023 ansteht, aber die im Herbst gebildete
„gelb-rote“ Koalition zwischen M5S (–) und PD (SPE) nach
hundert Tagen im Amt heillos zerstritten wirkt. Sollte es zu Neuwahlen kommen, hätte ein
Rechtsaußenbündnis mit Matteo Salvinis Lega (ID) und den rechtsextremen Fratelli dʼItalia (EKR) beste Aussichten auf den Sieg. Genau das könnte allerdings auch dazu führen, dass sich die jetzige Regierung noch einmal
zusammenrauft.
Deutsche Ratspräsidentschaft
Und Deutschland? Der größte Mitgliedstaat der EU übernimmt in der
zweiten Jahreshälfte den Vorsitz
im Ministerrat. Der hat zwar seit dem Vertrag von Lissabon an
Bedeutung verloren, kann aber noch immer genutzt werden, um eine
Führungsrolle auszuüben. Als ein großes Land mit einer effizienten
Ministerialbürokratie dürfte Deutschland mit den vielen
organisatorischen Aufgaben, die mit der Ratspräsidentschaft
verbunden sind, ohne Weiteres klarkommen. Die Bundesregierung könnte
sich deshalb darauf konzentrieren, eigene Ideen voranzubringen und
der EU einen neuen Schub zu geben.
Allzu große Erwartungen sollte man damit jedoch nicht verbinden: Erstens hat die Bundesregierung in den
letzten Jahren allgemein keine übermäßigen europapolitischen
Ambitionen erkennen lassen. Zweitens befindet
sich die Große Koalition in der Dauerkrise, sodass viel
politische Energie von innenpolitischen Fragen absorbiert werden
dürfte. Und drittens wird ein großer Teil der
Ratsvorsitz-Aktivitäten wohl ohnehin darauf gerichtet sein müssen,
den mehrjährigen Finanzrahmen unter Dach und Fach zu bringen. Es
bleibt abzuwarten, wie viel Raum da noch
für weitere Initiativen übrig bleibt.
Turbulenzen in der Außen-, Handels-, Konjunkturpolitik
Ein Thema, das aber auf jeden Fall auf der Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft stehen wird, ist die gemeinsame Außenpolitik. Im Herbst 2020 wird in Leipzig ein EU-China-Gipfel tagen, an dem erstmals alle Staats- und Regierungschefs der EU teilnehmen sollen. Und im November findet die amerikanische Präsidentschaftswahl statt, was die Außenpolitik der Trump-Regierung noch erratischer machen könnte, als sie ohnehin schon ist. Aber selbst wenn sich bei der US-Wahl die Demokraten durchsetzen, werden die künftige Rolle der NATO und, damit verbunden, die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf der Tagesordnung bleiben.
Und auch die globale Handelspolitik könnte 2020 wieder einige Turbulenzen erleben. Zwar kündigten die USA jüngst eine Einigung im Handelsstreit mit China an, aber wie tragfähig diese wirklich ist, bleibt abzuwarten. Dass der WTO Appellate Body, das Schiedsgericht der Welthandelsorganisation, seit einigen Tagen handlungsunfähig ist, weil die USA die Nachbesetzung offener Stellen blockierten, dürfte jedenfalls nicht zu einer Beruhigung der Welthandelspolitik beitragen. Auch die EU-Kommission stellt sich bereits auf eine härtere Gangart ein.
Die globalen Handelsstreitigkeiten und die möglichen Brexit-Verwerfungen lassen eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums in der EU erwarten; erste Ökonomen empfehlen den EU-Staaten deshalb bereits, neue Konjunkturpakete zu schnüren. Wenigstens kurzfristig wird es dazu wohl nicht kommen.
Wahrscheinlich ist aber, dass in den nächsten Monaten wieder vermehrt über Konjunkturpolitik und Haushaltsdefizite gestritten wird. Dass sich die Finanzminister zuletzt weder auf die ESM-Reform noch auf einen Fahrplan für die gemeinsame Einlagensicherung einigen konnten, ist ebenfalls kein allzu gutes Vorzeichen für das kommende Jahr.
Konferenz
zur Zukunft Europas
Doch
bei all die Krisen und Streitigkeiten gibt es natürlich auch
einiges, worauf man sich im neuen Jahr freuen kann. Für die Freunde
einer stärkeren europäischen Demokratie ist das besonders die
Konferenz
zur Zukunft Europas, die von Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen in ihren Leitlinien
ankündigte und die in der ersten Jahreshälfte 2020 ihre Arbeit
aufnehmen und zwei Jahre lang tagen soll. Die genaue Zusammensetzung, der Ablauf und das Mandat dieser Konferenz sind derzeit noch offen. Vorschläge dazu gibt es
unter anderem vom Ausschuss
für konstitutionelle Fragen, von der deutschen
und französischen Regierung und von Thinktanks
wie dem European Policy Centre.
Einigkeit besteht aber darüber, dass die Konferenz institutionelle Reformen wieder auf die Agenda setzen soll, etwa die Rolle der Spitzenkandidaten und die Wahlrechtsreform. Damit kann die Debatte über die Chancen und Voraussetzungen einer überstaatlichen Demokratie 2020 neue Fahrt aufnehmen. Und dieses Blog, so viel steht fest, wird sich daran beteiligen.
Einigkeit besteht aber darüber, dass die Konferenz institutionelle Reformen wieder auf die Agenda setzen soll, etwa die Rolle der Spitzenkandidaten und die Wahlrechtsreform. Damit kann die Debatte über die Chancen und Voraussetzungen einer überstaatlichen Demokratie 2020 neue Fahrt aufnehmen. Und dieses Blog, so viel steht fest, wird sich daran beteiligen.
Erst einmal aber geht Der (europäische) Föderalist in seine alljährliche Winterpause. Allen
Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein
glückliches neues Jahr!
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Bild: Eigenes Foto.