Als François Hollande
(PS/SPE) Ende Februar ankündigte, im Falle seiner Wahl zum
französischen Präsidenten den Spitzensatz der Einkommensteuer auf 75 Prozent erhöhen zu wollen, löste das bei Beobachtern des
Wahlkampfs einiges Kopfschütteln aus. Hollande lag zu diesem
Zeitpunkt in Umfragen bereits deutlich vor Nicolas Sarkozy (UMP/EVP),
der Wahlsieg war ihm kaum noch zu nehmen. Warum dann also solch ein
Vorschlag, den er doch ohnehin nicht würde umsetzen können? Warum
ein Versprechen abgeben, das er zuletzt doch würde brechen müssen,
und damit seine Glaubwürdigkeit für die nächste Wahl gefährden?
Gute
wirtschaftspolitische Gründe
Ökonomisch,
so viel vorweg, gab es durchaus gute Argumente für Hollandes
Vorschlag. Zwar erscheint 75 Prozent für heutige Verhältnisse ein
ungewöhnlich hoher Steuersatz – normalerweise liegen die
Spitzentarife in modernen Industriestaaten eher knapp über 40
Prozent. Doch der Wirtschaftsnobelpreisträger Peter Diamond und sein
Kollege Emmanuel Saez erklärten bereits Ende 2011 in einem
gemeinsamen Paper, dass
diese niedrigen Spitzensteuersätze gesamtgesellschaftlich
ineffizient seien (hier das Original, hier eine scharf
formulierte Zusammenfassung von Paul Krugman).
Hintergrund
dieser Überlegungen ist die Frage, wie der Staat sein
Steueraufkommen aus den Einkommen der Höchstverdiener maximieren
kann. Dabei gibt es, vereinfacht dargestellt, zwei gegensätzliche
Faktoren: Einerseits steigern höhere Sätze erst einmal natürlich
das Steueraufkommen, da der Staat einen höheren Anteil am Einkommen
behalten kann. Andererseits können zu hohe Steuersätze bewirken,
dass die Spitzenverdiener insgesamt weniger arbeiten, einfach weil
sie, wenn sie ohnehin einen Großteil ihres Verdienstes an den Staat
abliefern müssen, stattdessen lieber mehr Freizeit haben. Dadurch
aber sinkt ihr besteuerbares Einkommen, was letztlich auch das
Steueraufkommen des Staates reduziert. Diamond und Saez rechnen nun
mithilfe ökonometrischer Daten diese beiden Faktoren gegeneinander
auf – und kommen auf einen optimalen Spitzensteuersatz von etwas
über 70 Prozent.
Nationale Demokratie
scheitert an wirtschaftlicher Integration
Warum
aber sind dann in den letzten Jahrzehnten die Steuersätze in allen
OECD-Staaten immer weiter abgesunken? Woher kommt die Irritation,
wenn ein Politiker wie Hollande einen Spitzensteuersatz vorschlägt,
der dem wirtschaftlichen Optimum nahekommt? Brad DeLong, ein
weiterer bekannter Ökonom, versuchte das durch einen Verweis auf die
natürliche Irrationalität der Menschen zu
erklären, die dazu neigten, gerade die besonders Reichen und
Berühmten zu idealisieren und sie von allen Unannehmlichkeiten des
Alltags (wie eben hohen Einkommensteuersätzen) freihalten zu wollen.
Doch
was auch immer an diesem Argument dran sein mag – wenigstens in
Europa gibt es noch einen sehr viel handfesteren Grund, der die
Staaten von solchen Steuererhöhungen abhält. Dies lässt sich
gerade in Frankreich beobachten, wo die französische Regierung in
den letzten Wochen bekräftigt hat, dass sie Hollandes
Wahlversprechen tatsächlich umzusetzen plant. Seitdem hat eine veritable Auswanderungsbewegung eingesetzt,
bei der französische Spitzenverdiener ihren steuerlichen Wohnsitz
ins Ausland verlegen: in die Schweiz, nach Großbritannien, Luxemburg
oder Deutschland. Der britische Premierminister David Cameron
(Cons./AECR) kommentierte dazu noch spöttisch, sein Land werde nun
„den roten Teppich ausrollen und mehr französische
Unternehmen willkommen heißen, die in Großbritannien Steuern
zahlen“. Und Jacques Attali, früherer Wirtschaftsberater von
François Mitterrand (PS/SPE), stellte ernüchtert fest, die
reichsten Bürger seien nun einmal auch die mobilsten – wenn man
ihren Steuersatz zu sehr erhöhe, würden sie einfach komplett
verschwinden und für das Land sei nichts gewonnen.
Kurz
gesagt: Was wir in Frankreich gerade erleben, ist, wie die nationale
Demokratie an der wirtschaftlichen Integration scheitert. Obwohl sie
die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit hat, wird die gewählte
Regierung vermutlich nicht in der Lage sein, ihr steuerpolitisches
Programm umzusetzen – und zwar nicht, weil dieses Programm selbst
ökonomisch unsinnig wäre, sondern weil die reichsten Bürger des
Landes die Personenfreizügigkeit und Kapitalverkehrsfreiheit im
Europäischen Binnenmarkt nutzen, um sich dem Zugriff des nationalen
Fiskus zu entziehen.
Das Rodrik-Trilemma
Natürlich
ist diese Konstellation nichts wirklich Neues; außer bei der
Einkommensteuer kennt man einen solchen race to the bottom zum Beispiel auch bei Sozial- oder Umweltstandards. Was mir daran
interessant erscheint, ist die Verbindung zu einem Zusammenhang,
der von dem Ökonomen Dani Rodrik formuliert wurde (zuerst im Jahr
2000 in diesem lesenswerten Paper, später auch in diesem kurzen Blogeintrag und
diesem dicken Buch) und deshalb als „Rodrik-Trilemma“
bekannt ist.
Dieses
Trilemma besagt, kurz gefasst, dass ökonomische Integration
(„Globalisierung“), Demokratie und Nationalstaatlichkeit nicht
gemeinsam zu haben sind. Jeweils zwei dieser drei Werte lassen sich
miteinander kombinieren: Eine nationale Demokratie kann
funktionieren, solange sie ihren Markt geschlossen hält (was
allerdings auch zu Wohlstandseinbußen führt). Sobald man sich
jedoch für eine Marktöffnung entscheidet, steht man vor der
Entscheidung, entweder auch die politische Integration
voranzutreiben, was zu einem überstaatlichen, demokratischen
Föderalismus führt – oder aber sich in eine „goldene
Zwangsjacke“ zu begeben, in der Politik zwar weiterhin im
nationalstaatlichen Rahmen gemacht wird, dabei aber ihre
Entscheidungsspielräume immer kleiner werden, bis von demokratischem
Regieren keine Rede mehr sein kann.
Die
Schlussfolgerungen, die Rodrik daraus für die Weltwirtschaft zieht,
haben sich im Lauf der Zeit etwas gewandelt. Während er zunächst
noch für die nächsten hundert Jahre eine Entwicklung zum globalen
Föderalismus voraussagte, spricht er sich inzwischen eher für eine
Verlangsamung der wirtschaftlichen Globalisierung aus – nicht
zuletzt, weil sich an der schleppenden europäischen Integration
zeige, wie große politische Widerstände die Verwirklichung
supranationaler Demokratie selbst in einer Gruppe relativ homogener
und ähnlich gesinnter Länder zu überwinden hat.
Demokratie in Europa
geht nur noch supranational
Ich
selbst würde die Entwicklungschancen auch auf globaler Ebene
optimistischer bewerten. Doch unabhängig davon, ist wenigstens
innerhalb der Europäischen Union die Entscheidung längst gefallen, denn die wirtschaftliche Integration, die in den letzten Jahrzehnten
durch den gemeinsamen Binnenmarkt und die Währungsunion verwirklicht
wurde, wäre nur mit so immensen ökonomischen und politischen Kosten
rückgängig zu machen, dass diese Option faktisch ausscheidet.
Uns bleibt damit nur noch die Wahl zwischen einer Vervollkommnung der
europäischen Demokratie oder dem Beharren auf einem immer weniger
demokratischen Nationalstaat.
Um wieder auf François Hollande zurückzukommen: Die Zeiten, in
denen man es den französischen Reichen einfach verbieten konnte,
zusammen mit ihrem Vermögen das Land zu verlassen, sind mit großer
Sicherheit ein für allemal vorbei. Damit aber können die Franzosen
auch nicht mehr wirksam von ihrem demokratischen Recht Gebrauch
machen, hohe Steuersätze festzulegen – jedenfalls solange die
Briten ihrerseits auf ihrem demokratischen Recht bestehen, die
Steuersätze niedrig zu halten. Die Politik verliert an
Handlungsmöglichkeiten; und wenn wir bei Hollandes Wahlversprechen
eines Spitzentarifs von 75 Prozent verwundert die Stirn gerunzelt
haben, dann nur, weil wir uns mit dieser Verengung des demokratischen
Entscheidungsspielraums auf nationaler Ebene längst abgefunden
haben.
Das
eigentlich Erstaunliche aber ist etwas anderes: nämlich dass wir
fast ebenso selbstverständlich darauf verzichten, diesen
Entscheidungsspielraum auf europäischer Ebene wiederherzustellen.
Würde die Einkommensteuer künftig gesamteuropäisch erhoben, so
würde wenigstens innerhalb der EU die Konkurrenz der Staaten um die niedrigsten
Steuersätze ein Ende finden. Da die Verlegung des Steuerwohnsitzes
in ein nicht-europäisches Land mit einem größeren Aufwand
verbunden ist, würde die Gefahr einer Steuerflucht der reichen
Bürger deutlich verringert. Und im Europäischen
Parlament könnten dann die Befürworter und die Gegner eines hohen
Einkommensteuersatzes auf demokratische Weise miteinander
konkurrieren. Entscheidungen würden wieder in Wahlen und
Abstimmungen durch die europäische Bevölkerung getroffen und nicht
mehr allein durch die Sachzwänge im europäischen Markt.
Wir
stehen heute vor der Wahl zwischen einer nationalstaatlichen
„goldenen Zwangsjacke“ und einem demokratischen europäischen Föderalismus. Wir müssen uns nur bewusst machen, dass wir diese
Wahl auch wirklich treffen können – bevor wir uns allzu sehr an
die vorgebliche Alternativlosigkeit der Politik gewöhnt haben.
PS
Ich
kann mir durchaus vorstellen, dass so mancher Leser auch erleichtert
ist, dass die Steuerpläne der französischen Regierung womöglich
erfolglos bleiben. Tatsächlich stellen Diamond und Saez in
ihrem Modell eines optimalen Steuersatzes nur die Frage, wie sich die Einnahmen des Staates
erhöhen lassen, ohne sich dafür zu interessieren, wie viel den
besteuerten Spitzenverdienern zuletzt verbleibt (mit dem Argument,
dass bei ihrem hohen Einkommen der Grenznutzen von ein bisschen mehr
oder weniger Geld auf dem Konto ohnehin vernachlässigbar ist). Das
lässt sich natürlich kritisieren, denn neben dem sozialen Grundsatz,
dass die einkommensstarken Bürger einen möglichst großen Anteil
der Staatsfinanzierung übernehmen sollen, gibt es natürlich auch
das liberale Prinzip, nach dem jedem einzelnen möglichst viel von
dem verbleiben soll, was er erwirtschaftet hat. Darf der Staat dem
Bürger überhaupt so tief in die Tasche greifen?
In
Deutschland, wo man dazu neigt, solche Fragen nicht im Parlament,
sondern vor dem Verfassungsgericht zu klären, gab es in der
Vergangenheit eine Debatte darüber, ob ein Grundrecht darauf
existiere, dass der Spitzensteuersatz nicht 50 Prozent des Einkommens
übersteigt (der sogenannte „Halbteilungsgrundsatz“). In einem
Urteil von 2006 erteilte
das Verfassungsgericht dem jedoch eine Absage und sprach stattdessen
in schönster Prosa von einem „Spannungsverhältnis“ zwischen
„der Garantie des Eigentums und dem Gebot einer sozial gerechten
Eigentumsordnung“, das „vom Gesetzgeber problem- und
situationsbezogen jeweils zu einem interessengerechten Ausgleich zu
bringen“ sei.
Und
genau darum geht es ja: um die Auseinandersetzung zwischen
verschiedenen Werten, um Abwägung zwischen Alternativen, um Streit
zwischen politischen Lagern, um Demokratie. Auch der glühendste
Liberale sollte sich deshalb nicht zu sehr freuen, falls Hollande nun
scheitert. Denn was in Europa mittelfristig auf dem Spiel steht, ist nicht
einfach nur irgendeine politische Entscheidung, sondern die Fähigkeit
unseres politischen Systems, überhaupt noch relevante Entscheidungen zu treffen.
Bild: By Rafał Pocztarski [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.