- Markus Söder (CSU/EVP) findet regionale Umverteilung in Deutschland genauso schlimm wie in Europa. Aber die Rentenversicherung stört ihn nicht.
Früher oder später
musste es wohl so kommen: Nachdem große Teile der deutschen Politik
während der Euro-Krise vor den furchtbaren Auswirkungen einer
„Transferunion“ gewarnt haben, kündigte diese Woche die
bayrische Landesregierung an, dass sie gegen den deutschen
Länderfinanzausgleich (also
den Mechanismus, durch den entsprechend Art.
107 GG eine finanzielle Umverteilung zwischen reichen und
armen Bundesländern erfolgt) eine Klage
beim Bundesverfassungsgericht einreichen wird. Diese
beiden Themen haben zwar unmittelbar nichts miteinander zu tun –
doch sieht man genauer hin, so erkennt man, wie sich die europäische
Debatte in der innerdeutschen widerspiegelt.
Die Rhetorik der
bayrischen Regierung klingt
jedenfalls seltsam vertraut: Der Finanzausgleich sei ein „unfaires
Transfersystem“, die Grenze des Zumutbaren für Bayern „erreicht,
wenn nicht gar überschritten“, die Klage daher notwendig, um die
„bayrischen Interessen“ zu wahren. Finanzminister Markus Söder
(CSU/EVP) sprach gar von einem „Berlin-Bond“,
was zwar inhaltlich recht unsinnig ist, da der Finanzausgleich nichts
mit Bonds, also Staatsanleihen zu tun hat, aber genau die richtigen
Assoziationen zu den verhassten „Eurobonds“ weckte.
Nun ist die
Verfassungsklage wahrscheinlich reines Vorwahlkampfgetöse und wird
keine größeren Konsequenzen haben. Einen Nutzen aber könnte sie
mit sich bringen: Es lässt sich daraus einiges für die Ausweitung
der europäischen Transfermechanismen lernen.
Nationale Identität
als Bedingung für Solidarität?
Das betrifft zunächst
ein Argument, das in der Diskussion immer wieder zu hören war:
nämlich dass es Solidargemeinschaften nur auf nationaler, nicht auf
europäischer Ebene geben könne, da eine Grundbedingung dafür jener
gesellschaftliche Zusammenhalt sei, den man als „nationale
Identität“ bezeichnet. Finanzielle Umverteilung im größeren
Umfang sei deshalb im Nationalstaat möglich, nicht aber in Europa.
Betrachtet man aber die
Argumente, die gegen den Länderfinanzausgleich vorgebracht werden,
so sind sie weitgehend deckungsgleich mit denen, die zuletzt gegen
Transfermechanismen wie Eurobonds zu hören waren: Durch die
Subventionen aus dem Länderfinanzausgleich würde den ärmeren
Ländern jeder ökonomische Anreiz genommen, ihre Finanzen selbst zu
stabilisieren; stattdessen würden sie, von den reichen Ländern
alimentiert, fröhlich über ihre Verhältnisse leben. Um noch einmal
Markus Söder zu
zitieren: „Berlin [das wichtigste Empfängerland des
Finanzausgleichs] leistet sich ein Begrüßungsgeld für Studenten.
Wieso soll das der bayerische Steuerzahler finanzieren?“
Offensichtlich ist der
Gegensatz zwischen Nationalstaaten und EU also nicht so groß, wie
manche Kritiker meinen. Es käme wohl kaum jemand auf die Idee, den
Deutschen eine nationale Identität abzusprechen, und doch ist es mit
der Solidarität nicht weit her, sobald einige Milliarden Euro aus
der bayrischen in die Berliner Landeskasse transferiert werden
sollen. Wenn es darum geht, dass „die“ sich von „unserem“
Geld einen faulen Lenz machen können, dann scheinen Bürger nur
allzu leicht zur Empörung zu neigen – gleichgültig, ob es um die
regionale, nationale oder europäische Ebene geht.
Auch
Sozialversicherungen bringen regionale Umverteilung
Das eigentlich
Bemerkenswerte aber ist etwas anderes. Der Länderfinanzausgleich ist
nämlich nur einer von zahlreichen regionalen
Umverteilungsmechanismen in Deutschland, und bei weitem nicht der
größte. Denn auch das Steuersystem und die klassischen
Sozialversicherungen führen zu Geldflüssen zwischen den
Bundesländern: So leben in den wohlhabenden Ländern im Süden und
Westen Deutschlands besonders viele einkommensstarke Menschen, die
entsprechend auch höhere Steuern und Sozialversicherungsbeiträge
zahlen. In den ärmeren Ländern im Norden und Osten der Republik ist
dagegen die Arbeitslosigkeit hoch, sodass hier besonders viele
Menschen finanzielle Unterstützung aus der Sozialhilfe erhalten –
und da die Jüngeren auf der Suche nach Arbeit abwandern, gibt es hier
auch einen besonders hohen Anteil an Alten, die von einer staatlichen Rente leben.
Im Ergebnis führen diese
Effekte zu beeindruckenden Finanzströmen zwischen den Bundesländern.
Wie das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
vorgerechnet
hat, lag in den Jahren 2004 und 2005 das interregionale
Umverteilungsvolumen allein der Arbeitslosenhilfe mit rund 7
Milliarden Euro auf gleicher Höhe wie der Länderfinanzausgleich.
Die Umverteilung aus dem Rentensystem erreichte sogar rund das Dreifache davon.
Von Bayern zu
Berlinern oder von reichen zu armen Deutschen?
Während
jedoch der Länderfinanzausgleich den Ärger der Bayern hervorruft,
spielt das Sozialversicherungssystem im Streit zwischen den Ländern
keinerlei Rolle. Dieselben Bürger, die
sich über einen Länderfinanzausgleich von 7 Milliarden Euro
empören, sind im Rahmen des Rentensystems ohne Weiteres bereit,
einen Regionaltransfer von 21 Milliarden Euro hinzunehmen. Der Grund dafür liegt offensichtlich in ihrer
unterschiedlichen Konstruktion: Der Finanzausgleich erfolgt in Form
eines direkten Transfers von der Kasse eines Landes in die eines
anderen. Sozialleistungen dagegen werden an einzelne Bürger
ausgezahlt, und auch die Versicherungsbeiträge werden individuell
erhoben – und zwar bundesweit einheitlich nach dem Einkommen
gestaffelt.
In
der Wahrnehmung der Öffentlichkeit findet deshalb der
Länderfinanzausgleich „zwischen Bayern und Berlinern“ statt. Die
Umverteilung der Arbeitslosenversicherung dagegen erfolgt „von
reichen zu armen Bürgern“, die des Rentensystems „von jungen zu
alten“. Anders als beim Länderfinanzausgleich verlaufen hier die
Gegensätze also nicht entlang territorialer Grenzen, sondern entlang
der verschiedenen Gesellschafts- und Altersschichten. Und
offensichtlich fällt es den Bürgern in diesen Fällen sehr viel
leichter, Solidarität zu üben – denn Alte oder Arbeitslose kennen
die meisten Menschen, und auch wer noch jung und beschäftigt ist,
kann sich oft vorstellen, eines Tages vielleicht selbst auf das Sozialsystem
angewiesen zu sein. Aber wie soll man einem bayrischen Wähler erklären, dass er etwas davon hat, wenn seine Steuergelder nicht im eigenen Land, sondern im fernen (und etwas liederlichen) Berlin ausgegeben werden? Die Zahl der Bayern, die sich selbst als mögliche künftige Berliner sehen, ist gering.
Dabei
sind natürlich auch die Steuern und Sozialversicherungen in
Deutschland nicht unumstritten. Parteien links der Mitte setzen sich
traditionell für mehr, Parteien rechts der Mitte für weniger
Umverteilung ein. Bemerkenswerterweise lässt sich dies auch im
regionalen Wahlverhalten beobachten: SPD (SPE) und Linke (EL)
sind besonders in Nord- und Ostdeutschland stark, während CDU/CSU (EVP)
und FDP (ELDR) vor allem im Süden und Westen gewählt werden. Und
dennoch schlägt sich dieser territoriale Unterschied nicht in der
öffentlichen Auseinandersetzung nieder: Wenn im Bundestag darüber
gestritten wird, welche Sozialleistungen noch finanzierbar sind, dann
ist das keine Debatte zwischen Bayern und Berlinern, sondern eine
unter Deutschen.
Europäische Transfers erfolgen zwischen Gebietskörperschaften
Und
was heißt das nun für Europa? Vor allem zeigt es, wie sehr die
Akzeptanz interregionaler Transfers von dem konkreten Rahmen
abhängig ist, in dem sie durchgeführt wird. Wenn, wie beim Länderfinanzausgleich, zwischen den Kassen von Gebietskörperschaften umverteilt wird, kann das recht schnell zu Konflikten führen. Erfolgt die Umverteilung dagegen im Rahmen eines gemeinsamen Steuer- und Sozialsystems, so sind die Bürger zu einem deutlich höheren Grad an Solidarität bereit.
Die
Transfermechanismen, die auf europäischer Ebene bestehen oder
diskutiert werden, haben jedoch fast immer Gebietskörperschaften
zum Adressaten. Das gilt für die Einnahmen- wie für die
Ausgabenseite: So finanziert sich die EU heute nicht etwa aus einer
eigenen Einkommensteuer, sondern vor allem aus (nach der Höhe des
nationalen BIP gestaffelten) Beiträgen der Mitgliedstaaten – es
sind also die reichen Staaten, nicht die reichen Bürger,
die den größten Anteil an der Finanzierung leisten. Zugleich
bezahlt die EU auch keine individuellen Sozialleistungen – die
Empfänger der europäischen Strukturfonds sind vielmehr die
wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen. Und wenn die EFSF oder
künftig der ESM Rettungskredite vergibt, dann ebenfalls an
Mitgliedstaaten, nicht etwa an einzelne Menschen.
Infolgedessen
kann es kaum verwundern, dass die Debatte über europäische
Finanztransfers immer wieder auf eine Logik territorialer Interessen
und auf jenen Gegensatz zwischen „denen“ und „uns“
hinausläuft, der auch die Diskussion über den Länderfinanzausgleich
prägt. Und natürlich stößt die Solidarität zwischen Deutschen
und Griechen in der Öffentlichkeit dann ebenso rasch an ihre Grenzen
wie diejenige zwischen Bayern und Berlinern. Das Problem der
europäischen Transferunion ist nicht, dass es keine „europäische
Identität“ gäbe – sondern dass die Konstruktion ihrer
Umverteilungsmechanismen misslungen ist, weil sie immer wieder nur
bei den nationalen Haushalten der Mitgliedstaaten, nicht aber bei den
europäischen Bürgern selbst ansetzt.
Europäisches
Sozialsystem
Wenn
die Europäische Union also in Zukunft ihre interregionalen Finanztransfers
ausbauen will (und einiges spricht dafür, dass das die einzige
Möglichkeit ist, um die Währungsunion zu erhalten), dann sollte sie
zu den gleichen Mitteln greifen, mit denen auch in Deutschland
erfolgreich regionale Umverteilung vorgenommen wird: die Einführung einer gemeinsamen Sozialversicherung mit europaweit
einheitlichen, nach Einkommen gestaffelten Beiträgen. Ein solches
Sozialsystem könnte mehr Umverteilung zwischen den reichen
nördlichen und den armen südlichen Mitgliedstaaten bewirken als
alle heutigen Strukturfonds, EFSF- und ESM-Kredite zusammengenommen.
Und doch würden es wahrscheinlich auch die
Nordeuropäer zuletzt bereitwilliger akzeptieren, weil sie sähen, dass sie nicht kollektiv aufgrund ihrer Nationalität,
sondern individuell aufgrund ihres hohen Einkommens zur Kasse gebeten
werden, und dass auch die Empfänger nicht die Finanzministerien irgendwelcher anderen Länder, sondern bedürftige Mitbürger sind.
Und
natürlich könnten sich die Parteien im Europäischen Parlament
hinterher munter über die Höhe der Arbeitslosenhilfe streiten: Die
Liberalen und Christdemokraten würden sich auch hier wohl für eher niedrige,
die Linken und Sozialdemokraten für etwas höhere Sätze einsetzen.
Infolgedessen würde man vielleicht auch bei der Europawahl in Südeuropa künftig
etwas öfter SPE, in Nordeuropa EVP wählen. Doch anders als heute
würden diese territorialen Unterschiede in der öffentlichen
Auseinandersetzung nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Denn
der Streit darüber,
welche Sozialleistungen finanzierbar sind, wäre keine Debatte mehr
zwischen Deutschen und Griechen – sondern eine unter Europäern.
Bild: By Michael Lucan, München (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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