- Wie sich das neue Europäische Parlament genau zusammensetzen wird, ist noch unklar. Aber so ungefähr könnte es aussehen.
Die europäischen Bürger haben
gesprochen – aber was sie genau gesagt haben, ist einen Tag nach der Europawahl
noch nicht vollständig klar. Zwar sind inzwischen die Stimmzettel in fast allen
Ländern fertig ausgezählt; eine Übersicht über die Ergebnisse findet sich auf dieser
Website des Europäischen Parlaments. Doch die genauen Kräfteverhältnisse
zwischen den Fraktionen im Parlament werden sich erst in den nächsten Tagen
klären: Viele nationale Parteien sind zum ersten Mal in das Parlament
eingezogen und werden erst jetzt Gespräche mit den Fraktionen führen, denen sie
sich politisch am meisten verbunden fühlen. Einige andere waren zwar bereits
vor der Wahl im Parlament, fühlen sich jedoch in ihrer alten Fraktion nicht
mehr wohl und werden deshalb vermutlich zu einer anderen Gruppierung
überwechseln.
Und schließlich gibt es noch zwei
Gruppierungen, die rechtspopulistische EFD und die rechtsextreme EAF, die im
neuen Parlament gern eine Fraktion gründen würden, nach Stand der Dinge aber
noch nicht die Bedingungen erfüllen, die dafür in der Geschäftsordnung des
Parlaments vorgesehen sind (mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben
verschiedenen Ländern). Diese Gruppierungen werden deshalb in den nächsten
Tagen noch auf die Suche nach weiteren Mitgliedern gehen müssen.
Jede Aussage über die künftige
Zusammensetzung des Europäischen Parlaments kann derzeit deshalb nur unter
Vorbehalt gemacht werden (für einen laufend aktualisierten Gesamtüberblick siehe hier).
Dennoch zeichnen sich einige Konturen bereits recht deutlich ab.
Erstens: EVP verliert, aber
hält sich als stärkste Fraktion
Die Europäische Volkspartei ist
der größte Verlierer der Wahl: Die Christdemokraten stürzen von bislang 274 auf
gerade einmal 210 Mandate ab. Die Partei, die in den letzten Jahren sämtliche
europäischen Institutionen dominierte, ist nun nur noch in 13 der 28
EU-Mitgliedstaaten die stärkste politische Kraft. Besonders gravierend sind
ihre Einbußen in den großen Ländern: Allein in Deutschland, Frankreich, Italien
und Spanien zusammen verliert die EVP nicht weniger als 46 Abgeordnete. Ursache
dafür dürfte die Unzufriedenheit sein, die die Eurokrise und das oft allzu
improvisierte Krisenmanagement der führenden europäischen Politiker in den
letzten Jahren ausgelöst hat.
Und trotzdem ist die Europäische
Volkspartei auch der wichtigste Gewinner der Wahl: Nachdem ihr viele Umfragen
vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der sozialdemokratischen S&D
vorausgesagt hatten, konnte sich die EVP doch recht deutlich als stärkste
Fraktion halten. In Deutschland, Großbritannien und vor allem Italien legten
die Sozialdemokraten zwar kräftig zu. Doch insgesamt gelang es ihnen offenbar
nicht, sich als klare Alternative zu profilieren, und so führten die Verluste
in Spanien, Griechenland und verschiedenen kleineren Ländern dazu, dass die
S&D letztlich sogar einige Sitze abgeben musste. Sofern es ihr nicht
gelingt, einige von den „Neulingen“ im Parlament auf ihre Seite zu holen, wird
die Fraktion von 195 auf 191 Sitze zurückgehen.
Dieser deutliche Vorsprung der
EVP hilft vor allem einem: dem christdemokratischen Spitzenkandidaten
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), der nun seinen Anspruch auf das Amt des
Kommissionspräsidenten bekräftigen kann. Zwar hob sein sozialdemokratischer
Kontrahent Martin Schulz (SPD/SPE) am Wahlabend eilig hervor, dass es für die
Wahl des Kommissionspräsidenten nicht unbedingt darauf ankommt, wer die
stärkste Fraktion ist, sondern wer die absolute Mehrheit der Abgeordneten
hinter sich vereinen kann. Doch die Chancen auf eine Mehrheit ohne die EVP
stehen nach der Europawahl nicht allzu gut.
Zweitens: Der erwartete
Linksruck blieb (weitgehend) aus
Bekanntlich werden im
Europäischen Parlament die meisten Entscheidungen – ob über Personalfragen wie
die Wahl der Kommission oder über Gesetzgebungsbeschlüsse – von einer
informellen „Großen Koalition“ der beiden größten Fraktionen EVP und S&D
getroffen. In einigen Fällen bildeten sich in der letzten Wahlperiode jedoch
auch andere Mehrheiten, nämlich entweder ein „Mitte-Rechts-Bündnis“ aus der
EVP, der liberalen ALDE und der nationalkonservativen ECR oder ein
„Mitte-Links-Bündnis“ aus S&D, ALDE, der grünen G/EFA und der linken
GUE-NGL. Diesem Mitte-Links-Bündnis fehlten bislang allerdings einige Sitze zu
einer eigenen Mehrheit: Da die vier Parteien zusammen nur auf 372 der insgesamt
766 Mandate kamen, waren sie stets auf die Unterstützung durch einzelne
fraktionslose Abgeordnete oder Abweichler aus anderen Fraktionen angewiesen.
Für das neue Parlament zeichnete
sich in den Umfragen vor der Wahl lange eine Umkehrung der Verhältnisse ab:
Mitte-Links, so schien es, würde künftig auf eine – wenn auch knappe – eigene
Mehrheit kommen. Tatsächlich konnte die linke GUE/NGL bei der Europawahl
stark zulegen: Vor allem durch Erfolge in den Krisenländern Spanien,
Griechenland und Italien wächst sie von 35 auf 53 Sitze. Und auch die Grünen
erlitten in Frankreich zwar deutliche Verluste, konnten sich insgesamt aber
recht gut halten (50 statt 58 Mandate). Gleichzeitig erlebte die ALDE jedoch in
Deutschland und Großbritannien dramatische Niederlagen, durch die sie von
insgesamt 83 auf 66 Sitze abstürzte. Insgesamt kommt das Mitte-Links-Lager
damit derzeit auf 360 von 751 Sitzen – und wäre damit für eine Mehrheit
weiterhin auf die Unterstützung zusätzlicher fraktionsloser Abgeordneter
angewiesen.
Drittens: Radikalisierung im
rechten Lager
Eine dritte Beobachtung wurde in
den Medien bereits breit diskutiert: der Aufstieg europaskeptischer und rechter
Parteien. Betrachtet man das gesamte rechte Spektrum, so fällt dieser Aufstieg
gar nicht allzu beeindruckend aus: Kamen die Parteien rechts der EVP bislang
auf 99 Sitze, so werden es künftig 131 sein. Wichtiger ist jedoch die
Radikalisierung, die sich innerhalb dieses rechten Spektrums vollzogen hat.
Denn während die nationalkonservative ECR-Fraktion einige Sitze einbüßt (44
statt 57), konnte die rechtspopulistisch-europaskeptische EFD vor allem dank
des Erfolgs der britischen UKIP leicht zulegen (33 statt 31).
Die größten Zugewinne aber macht
die hart rechte EAF, die bislang 11 Abgeordnete stellte und daher keine eigene
Fraktion bilden konnte. Durch den Sieg des französischen FN schnellt sie nun
auf 38 Sitze empor und dürfte damit zum neuen Referenzpunkt am rechten Rand des
Parlaments werden. Wie erwähnt, müssen sowohl die EFD als auch die EAF jedoch
noch einige weitere Mitglieder gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu
können. Sie dürften dafür vor allem die diversen Rechtsparteien umwerben, die
wie die deutsche AfD oder die polnische KNP zum ersten Mal Sitze errungen
haben. Insgesamt umfassen diese noch nicht zugeordneten rechtskonservativen
Parteien 16 Mandate.
Die konkreten Auswirkungen dieses
Rechtsrucks auf die europäische Gesetzgebung dürften sich allerdings in Grenzen
halten. Schon in der Vergangenheit nahmen die Abgeordneten von EFD und EAF im
Durchschnitt deutlich seltener an Ausschuss- und Plenarsitzungen teil als die
übrigen Parlamentarier, und auch die innere Kohärenz und Fraktionsdisziplin der
Rechtspopulisten ist gering. Und da auch die EVP keine allzu große Neigung
haben dürfte, mit radikalen Nationalisten und Europagegnern zusammenzuarbeiten,
werden die Rechtsparteien für die Mehrheitsbildung im Parlament wohl keine
nennenswerte Rolle spielen.
Viertens: Viele neue
Fraktionslose
Doch nicht nur die linke GUE/NGL
und die rechte EAF konnten bei der Europawahl kräftig zulegen; auch die Zahl
der sonstigen fraktionslosen Abgeordneten steigt von 22 auf 50 an. In dieser
Gruppe finden sich sowohl die Parteien der äußersten Rechten (etwa die
ungarische Jobbik oder die deutsche NPD) als auch eine Anzahl von
Ein-Themen-Parteien (die niederländische PvdD oder die schwedische FI),
Protestbewegungen (das italienische M5S oder die bulgarische BBZ) sowie
politisch schwer zu verortende Gruppierungen wie die spanische UPyD, die
deutschen FW oder die griechische Potami.
Einige dieser Parteien dürften
sich in den nächsten Tagen zwar noch der ein oder anderen Fraktion anschließen.
Insgesamt aber wird es im neuen Parlament eine deutlich größere und buntere
Schar von Fraktionslosen geben als bisher – wofür außer dem Erfolg des M5S vor
allem das deutsche Bundesverfassungsgericht verantwortlich ist, das vor einigen
Monaten in einem stark umstrittenen Urteil die nationale Sperrklausel für Europawahlen abgeschafft und damit gleich sieben Kleinstparteien den Weg ins
Europäische Parlament geebnet hat.
Fünftens: Das geschwächte
Zentrum rückt zusammen
Insgesamt dominieren bei der
Europawahl also die Zentrifugalkräfte: Während Linke, Rechte und
Protestparteien dazugewinnen, erleiden die Parteien der Mitte teils leichte,
teils deutliche Verluste. Doch wenn die Wähler sich davon grundlegende
Veränderungen in der europäischen Politik erwartet haben, dürften sie
enttäuscht werden. Im Endeffekt wird das Wahlergebnis wohl nur dazu führen, dass
die beiden größten Fraktionen EVP und S&D noch enger als bisher
zusammenrücken und noch mehr Entscheidungen im Rahmen einer informellen „Großen
Koalition“ fallen. Denn beide alternativen Bündnisse – die oben bereits
angesprochenen Koalitionen des Mitte-Links- und des Mitte-Rechts-Lagers –
werden im neuen Parlament keine eigene Mehrheit mehr haben.
Für die nächste Europawahl 2019
verspricht das wenig Gutes. Denn bekanntlich funktioniert Demokratie nur auf
der Grundlage politischer Alternanz: Nur wenn die großen Parteien als
alternative Optionen auftreten, die erkennbar unterschiedliche Programme
vertreten, können die Bürger bei ihrer Wahl auch eine reale Entscheidung
treffen. Obwohl es diese Unterschiede durchaus auch zwischen
den europäischen Parteien gibt, hatten Martin Schulz und Jean-Claude
Juncker schon jetzt große Schwierigkeiten, sie im Wahlkampf deutlich zu machen.
Wenn ihre Fraktionen nun noch enger zusammenrücken, könnte sich für viele
Bürger der Eindruck verstärken, dass „die in Brüssel“ doch sowieso alle gleich
sind – und die einzige Möglichkeit, dem eigenen Ärger Luft zu verleihen, in der
Wahl systemfeindlicher Parteien besteht.
Sechstens: Immerhin, die
Wahlbeteiligung
Um aber mit einer positiven Note
zu schließen: Zum ersten Mal überhaupt ist in diesem Jahr die Wahlbeteiligung
gegenüber der letzten Europawahl nicht weiter abgesunken. Nach europaweit 43,0%
im Jahr 2009 stabilisierte sie sich nun bei 43,1% – was immer noch kein Grund
für Begeisterung ist, aber immerhin Hoffnung auf eine Trendwende macht.
Besonders deutlich stieg die
Wahlbeteiligung übrigens unter anderem in Griechenland und in Deutschland an,
wofür es vor allem wohl zwei Ursachen gibt. Zum einen standen diese beiden
Länder in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Eurokrise: Griechenland als der
wirtschaftlich meistbetroffene Staat, Deutschland als wichtigster Kreditgeber
und politisch stärkstes Land im Europäischen Rat. In beiden Ländern gab es
deshalb intensive öffentliche Debatten über die Europapolitik, sodass den
Bürgern bewusster war, was bei der Wahl auf dem Spiel stand.
Siebtens: Die
Spitzenkandidaten
Zum anderen aber sind Deutschland
und Griechenland auch die Herkunftsländer von Martin Schulz und Alexis Tsipras,
den Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten und der Europäischen
Linken. Tatsächlich gaben in Umfragen nicht weniger als 76% der deutschen
SPD-Wähler an, dass Schulz ein
„wichtiger Grund“ für ihre Wahlentscheidung gewesen sei. Die Strategie
einer Personalisierung der Europawahl funktioniert offenbar und kann helfen,
ansonsten desinteressierte Bürger an die Urnen zu bringen – wenn auch bislang
nur in den Herkunftsländern der Spitzenkandidaten. (In Luxemburg und Belgien,
wo der christdemokratische Kandidat Juncker und der liberale Kandidat Guy
Verhofstadt herkommen, herrscht Wahlpflicht, sodass die Beteiligung ohnehin
regelmäßig um 90% liegt.)
Die große Herausforderung für die
Zukunft dürfte deshalb darin liegen, den „Spitzenkandidaten-Prozess“ noch
weiter zu europäisieren. Dass in diesem Jahr die gesamteuropäische TV-Debatte
zwischen den Kandidaten in vielen Ländern nur
in Spartenkanälen ausgestrahlt wurde, war dafür sicher nicht hilfreich.
Dass zahlreiche Regierungschefs, besonders die mächtige Angela Merkel
(CDU/EVP), die Verbindung zwischen der Europawahl und der Ernennung des
nächsten Kommissionspräsidenten immer
wieder in Zweifel zogen, erst recht nicht. Aber nach der Wahl ist vor der
Wahl: In den nächsten Wochen muss es dem Europäischen Parlament gelingen,
Jean-Claude Juncker gegen alle Hinterzimmerkandidaten zu verteidigen, die der
Europäische Rat noch aus dem Hut zaubern mag. Indem sie den Wahlsieger auch
wirklich als Kommissionspräsident durchsetzen, werden die Abgeordneten ein
klares Zeichen an die europäischen Bürger senden, dass es sich auch bei der
nächsten Europawahl 2019 wieder lohnen wird, an die Urnen zu gehen.
Hinweis: Die hier genannten Fraktionsstärken entsprechen dem Stand der Stimmenauszählung und der von den nationalen Parteien angekündigten Fraktionswechsel am 26. Mai 2014. Seitdem haben sich teilweise neue Informationen ergeben. Eine aktualisierte Übersicht über die Zusammensetzung des neuen Europäischen Parlaments findet sich hier.
Dieser Artikel ist in englischer Fassung auch im Green European Journal erschienen.
Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:
● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
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Bild: Eigene Grafik.