27 September 2019

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (September 2019): Stabile Umfragen vor einem heißen Herbst

mit UK GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 41 75 154 108 182 62 73 56
Juli 19,
Basis
48 73 149 113 174 77 79 31 7
Sept. 19,
Basis
48 70 153 113 172 77 78 29 11
Sept. 19,
dynamisch
48 71 153 117 173 79 81 29

Basis-Szenario (mit UK),
Stand: 23.09.2019.


Basis-Szenario (ohne UK),
Stand: 23.09.2019.


Dynamisches Szenario (mit UK),
Stand: 23.09.2019.


Dynamisches Szenario (ohne UK),
Stand: 23.09.2019.
Europa steht ein heißer Herbst bevor: Im Europäischen Parlament beginnen demnächst die Anhörungen der vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder, von denen einige unter den Abgeordneten auf harsche Kritik stoßen. In Österreich, Portugal, Polen und Spanien wird gewählt, und nur in einem dieser Länder (nämlich Portugal) sieht es recht klar danach aus, dass die derzeitige Regierung auch nach der Wahl im Amt bleiben wird. In Großbritannien hat der Streit um den Brexit ohnehin ein politisches Chaos ausgelöst, dessen weitere Entwicklung nur mit komplexen Szenarien beschrieben werden kann. Und eigentlich will sich der Europäische Rat auch noch in diesem Jahr über den mehrjährigen Finanzrahmen einigen, in dem die Grundzüge des EU-Haushalts bis 2027 festgeschrieben werden.

Angesichts all dieser Bewegung mag es beruhigend wirken, dass wenigstens die Stimmung der europäischen Wähler derzeit weitgehend stabil ist: Im Vergleich mit der letzten Sitzprojektion von Ende Juli gibt es nur geringe Veränderungen.

S&D gewinnt leicht dazu

Noch die besten Nachrichten brachten die letzten Wochen den europäischen Sozialdemokraten, die gegenüber der Juli-Projektion leicht dazugewinnen konnten und nun auf 153 Sitze (+4) kämen.(Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich alle Werte jeweils auf die Basisprojektion mit dem Vereinigten Königreich.) Dies liegt unter anderem an einer leichten Erholung der deutschen SPD, aber auch an den recht guten Umfragewerten des sozialdemokratischen Bündnisses aus SLD und Wiosna in Polen.

Auch der italienische PD konnte im Sommer zunächst zulegen und profitierte in den Umfragen vom Eintritt in die nationale Regierung – eine Entwicklung, die in der letzten Woche allerdings durch den Parteiaustritt des früheren Premierministers Matteo Renzi jäh gestoppt wurde: In den letzten Umfragen liegt der PD wieder knapp unterhalb seiner Werte von Juli. Und auch in Spanien stehen die Sozialdemokraten nach einem zähen und letztlich gescheiterten Ringen um die Bildung einer neuen Regierung nun etwas schwächer da als im Sommer.

EVP verliert leicht

Für die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei brachten die letzten Monate leichte Verluste. Während EVP-Mitgliedsparteien in einigen Ländern, etwa in Spanien, etwas dazugewinnen konnten, schnitten sie anderswo, etwa in Polen, zuletzt  schwächer ab als im Sommer. Insgesamt kommt die EVP damit nur noch auf 172 Sitze (–2), wodurch auch ihr Vorsprung vor der S&D auf 19 Sitze schrumpft – einer der knappsten Werte in den letzten zwei Jahren.

Allerdings gilt dies nur, solange das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleibt: Betrachtet man das Post-Brexit-Szenario, verliert die EVP zwar ebenfalls, hält aber weiterhin einen Vorsprung von 36 Sitzen auf die S&D.

Grüne etwas schwächer

In der Summe unverändert sind die Umfragewerte der liberalen Fraktion Renew Europe (113 Sitze/±0) sowie der linken GUE/NGL (48 Sitze/±0). Bei den Liberalen schneiden die spanischen Ciudadanos und die deutsche FDP eher schwach ab, während die tschechische ANO leicht dazugewinnt und die litauische LRLS jetzt wieder knapp im Parlament vertreten wäre. Bei der GUE/NGL würde die griechische Syriza im Vergleich zu Juli einen Sitz verlieren, die portugiesische CDU hingegen einen hinzugewinnen.

Etwas schwächer als im Sommer präsentiert sich die Fraktion der Grünen/EFA, die nun auf 70 Sitze käme (–3). Dies liegt vor allem daran, dass das Umfragehoch in Deutschland langsam nachlässt: Die Grünen sind hier zwar immer noch zweitstärkste Partei mit großem Vorsprung auf die drittplatzierte SPD, aber sie schneiden nicht mehr ganz so gut ab wie unmittelbar nach ihrem Überraschungserfolg bei der Europawahl.

Rechts wenig Bewegung

Insgesamt wenig Bewegung gibt es schließlich auch im rechten Spektrum, wo allerdings die Veränderungen innerhalb der einzelnen Fraktionen etwas größer ausfallen. Bei der rechtskonservativen EKR-Fraktion (77 Sitze/±0) zeigt sich die polnische Regierungspartei PiS (im Bündnis mit anderen an der Regierung beteiligten Rechtsparteien) kurz vor der nationalen Parlamentswahl ungewöhnlich stark. Auch die Fratelli d’Italia konnten zuletzt zulegen und in den Umfragen das EVP-Mitglied Forza Italia überholen. Hingegen scheint der Stern des niederländischen FvD, das in der ersten Jahreshälfte einen spektakulären Aufstieg hinlegte, in den nationalen Umfragen zeitweilig auf dem ersten Platz lag und die Provinzwahlen im März gewann, seit einigen Wochen wieder am Sinken.

In der Rechtsaußen-Fraktion ID (78 Sitze/–1) wiederum kann die deutsche AfD leicht zulegen. Auch in Belgien (wo Umfragen allerdings nur recht selten durchgeführt werden, sodass eventuelle Ausreißer schwerer zu erkennen sind) gewann das ID-Mitglied Vlaams Belang zuletzt deutlich hinzu und wäre nun stärkste Kraft in Flandern. Zudem konnte die niederländische PVV einige der Stimmen zurückgewinnen, die das FvD verloren hat. Dass die ID in der Summe dennoch etwas schwächer abschneidet als im Juli, liegt vor allem an ihrem italienischen Mitglied, der Lega, die nach Matteo Salvinis gescheitertem Neuwahl-Poker in den Umfragen deutlich abgesackt ist.

Brexit Party verliert weiter

Bei den fraktionslosen Parteien erfährt vor allem die Brexit Party seit dem Amtsantritt von Boris Johnson (Cons./Tories) Verluste und würde nun noch einmal etwas schwächer abschneiden als im Juli. Allerdings ist diese Entwicklung für die Zusammensetzung des nächsten Europäischen Parlaments wohl eher belanglos: Sollte der Brexit abgesagt werden und das Vereinigte Königreich bei der nächsten Europawahl 2024 immer noch EU-Mitglied sein, so dürfte das im britischen Parteiensystem ohnehin noch einiges durcheinanderwirbeln.

Etwas dazugewinnen kann in den Umfragen die katalanische JxC, die nun wieder knapp ein Mandat im Parlament gewinnen könnte – sofern sie es denn antreten würde: Aktuell sind die beiden Sitze, die JxC bei der Europawahl im Mai gewonnen hat, noch immer vakant, da die gewählten Kandidaten Carles Puigdemont und Toni Comín sich auf der Flucht vor der spanischen Justiz befinden.

Insgesamt schneiden die Fraktionslosen nun etwas schwächer ab als vor zwei Monaten (29 Sitze/–2). Lässt man die Brexit Party außer Acht und betrachtet das Szenario ohne das Vereinigte Königreich, wären es hingegen etwas mehr fraktionslose Abgeordnete als im Juli.

Weitere Parteien: Neulinge aus Italien und Tschechien

Auf etwas mehr Sitze kommen schließlich auch die weiteren Parteien – also Parteien, die bislang nicht im Europäischen Parlament vertreten sind und sich keiner Fraktion eindeutig zuordnen lassen (11 Sitze/+4). Für diesen Anstieg verantwortlich sind vor allem zwei Neulinge im Tableau: In Italien hat Matteo Renzi nach seinem Austritt aus dem sozialdemokratischen PD eine neue, zentristische Partei namens Italia Viva (IV) gegründet, die in den Umfragen auf Anhieb etwas über der nationalen Vierprozenthürde liegt. Angesichts der großen Nähe zwischen Renzi und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ist absehbar, dass sich IV der liberalen RE-Fraktion anschließen wird. Eine offizielle Entscheidung in diesem Sinn ist jedoch noch nicht gefallen, und bislang ist auch noch keiner der gewählten PD-Europaabgeordneten zu IV übergetreten. Im Basisszenario der Projektion wird IV deshalb vorläufig unter den „weiteren Parteien“ geführt.

In Tschechien wiederum hat Václav Klaus, Sohn des gleichnamigen früheren Staatspräsidenten, im Sommer eine neue rechtskonservativ-europaskeptische Partei namens Trikolóra hnutí občanů (THO) gegründet, die nun erstmals in den Umfragen erscheint. Sollte THO bei der nächsten Europawahl ins Europäische Parlament einziehen, könnte sie sich der EKR oder der ID anschließen. In beiden Fraktionen gibt es allerdings auch schon andere tschechische Mitglieder, zu denen Klaus jeweils eine Beziehung hat: Dass er überhaupt eine neue Partei gründete, lag daran, dass er im März aus der EKR-Mitgliedspartei ODS ausgeschlossen wurde, unter anderem weil er bei der tschechischen Senatswahl 2018 einen Kandidaten der ID-Mitgliedspartei SPD unterstützt hatte.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dem Szenario mit dem Vereinigten Königreich. Nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs wird sich die Sitzzahl einiger Mitgliedstaaten erhöhen, sodass auch einzelne Parteien durch den Brexit zusätzliche Mandate gewinnen würden. Deren Anzahl (+1, +2) ist jeweils hochgestellt angegeben.

Die Tabelle folgt dabei dem Basisszenario, in dem nationale Parteien im Wesentlichen jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet und Parteien ohne klare Zuordnung als „weitere Parteien“ ausgewiesen werden. Demgegenüber geht das dynamische Szenario von stärkeren Annahmen aus und ordnet insbesondere die „weiteren Parteien“ der Fraktion zu, der diese plausiblerweise am nächsten stehen. Die Veränderungen im dynamischen Szenario sind in der Tabelle durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter den Tabellen erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.

mit UK GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 41 75 154 108 182 62 73 56
Juli 19,
Basis
48 73 149 113 174 77 79 31 7
Sept. 19,
Basis
48 70 153 113 172 77 78 29 11
Sept. 19,
dynamisch
48 71 153 117 173 79 81 29
ohne UK GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
EP heute 40 68 148 97 187 62 76 27
Juli 19,
Basis
47 64 138 108 180 57 82 22 7
Sept. 19,
Basis
49 61 139 108 175 56 82 24 11
Sept. 19,
dynamisch
49 62 139 112 176 58 85 24

GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
DE 7 Linke
1 Tier
21 Grüne
1 Piraten
1 ÖDP
1 Volt
1 Partei
14 SPD 7 FDP
2 FW
25 Union 1 Familie 13 AfD 1 Partei
FR 6 FI 12+1 EELV 5+1 PS 21+2 LREM 8 LR
22+1 RN

UK 1 SF 7 Greens
3 SNP
1 PC
19 Labour 11 LD
1 All

23 Cons
6 Brexit
1 DUP

IT

16+1 PD
5 FI
1 SVP
6 FdI 26+1 Lega 15+1 M5S 4 IV
ES 8+1 UP
1 Bildu
1+1 ERC 18+1 PSOE 7+1 Cʼs
1 PNV
12+1 PP 5 Vox
1 JxC
PL

7 SLD-W
15 PO
3 PSL-Kʼ15
26+1 PiS


RO

7 PSD
3 PRO
9+1 USR-PLUS 11 PNL


2 ALDE
NL 1 PvdD
1+1 SP
3 GL 3 PvdA 6+1 VVD
2 D66
3 CDA
1 50plus
1 CU
2 FvD
1 SGP
2+1 PVV

EL 6 Syriza
2 KINAL
10 ND 1 EL
1 KKE 1 MeRA25
BE 1 PTB 1 Groen
2 Ecolo
1 sp.a
2 PS
2 OpenVLD
2 MR
1 CD&V
1 cdH
1 CSP
3 N-VA 4 VB

PT 2 CDU
2 BE
1 PAN 9 PS
6 PSD
1 CDS-PP




CZ 1 KSČM 4 Piráti 1 ČSSD 8 ANO 2 TOP09
1 KDU-ČSL
2 ODS 1 SPD
1 THO
HU

3 DK
2 MSZP
1 MM 13 Fidesz

2 Jobbik
SE 2 V 1 MP 5 S 2 C
1 L
4 M
1 KD
4+1 SD


AT 2 Grüne 4+1 SPÖ 1 Neos 7 ÖVP
4 FPÖ

BG

6 BSP 3 DPS 6 GERB
1 DB
1 WMRO


DK 1 Enhl. 1 SF 4+1 S 4 V
1 RV
1 K
1 DF

FI 1 Vas 2 Vihr 2+1 SDP 2 Kesk 3 Kok
3 PS

SK

3 SMER 1+1 PS 1 Spolu
1 KDH
1 OĽANO
1 SaS 1 SR 2 ĽSNS 1 Za ľudí
1 SNS
IE 3 SF

4+1 FF 4+1 FG



HR

5 SDP
5 HDZ
1 HSS


0+1 NLMK
LT
3 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
1 DP
3 TS-LKD


1 TT
LV

2 SDPS 1 AP!
1 ZZS
2 V
1 JKP
1 NA


SI 1 Levica
1 SD 3 LMŠ 2 SDS-SLS
1 NSi




EE


2 KE
3 RE


1+1 EKRE

CY 2 AKEL
1 DIKO
1 EDEK

2 DISY



LU
1 Déi Gréng 1 LSAP 2 DP 2 CSV



MT

4 PL
2 PN





Verlauf (Basisszenario mit UK)


GUE/
NGL
G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
23.09.2019 48 70 153 113 172 77 78 29 11
30.07.2019 48 73 149 113 174 77 79 31 7
Wahl 2019 41 75 154 108 182 62 73 56

Verlauf (Basisszenario ohne UK)


GUE/
NGL
G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Weitere
23.09.2019 49 61 139 108 175 56 82 24 11
30.07.2019 47 64 138 108 180 57 82 22 7
Wahl 2019 40 68 148 97 187 62 76 27

Die Zeile „Wahl 2019“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 2. Juli 2019, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2019.
Eine Übersicht der Projektionen aus der Wahlperiode 2014-2019 ist hier zu finden.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Sofern eine Partei im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet ist als im Basisszenario, ist dies ebenfalls im Mouseover-Text gekennzeichnet..

Fraktionszuordnung

Basisszenario: Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Europawahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden im Basisszenario als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Jeder Leserin und jedem Leser bleibt es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Im dynamischen Szenario werden alle „weiteren Parteien“ einer schon bestehenden Fraktion (oder der Gruppe der Fraktionslosen) zugeordnet. Außerdem werden gegebenenfalls Fraktionsübertritte von bereits im Parlament vertretenen Parteien berücksichtigt, die politisch plausibel erscheinen, auch wenn sie noch nicht öffentlich angekündigt wurden. Um diese Veränderungen gegenüber dem Basisszenario deutlich zu machen, sind Parteien, die im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet werden, in der Tabelle mit der Farbe dieser Fraktion gekennzeichnet; zudem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Die Zuordnungen im dynamischen Szenario basieren auf einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien und sind daher im Einzelnen oft recht unsicher; in der Gesamtschau kann das dynamische Szenario jedoch näher an der wirklichen Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl liegen als das Basisszenario.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wird bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wird der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet, wobei jedoch von jedem einzelnen Umfrageinstitut nur die jeweils letzte Umfrage berücksichtigt wird. Stichtag für die Berücksichtigung einer Umfrage ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Feldforschung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung.
Für Länder, in denen es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, wird stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament bzw. der Durchschnitt aller Umfragen für das nationale oder das Europäische Parlament aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten verfügbaren Umfrage verwendet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wird auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel werden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. Für Länder, in denen die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (aktuell Belgien, Irland und das Vereinigte Königreich), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt. In der Projektion ohne das Vereinigte Königreich wird für alle Länder die Sitzzahl angenommen, die sie entsprechend dem Beschluss des Europäischen Rates vom 29. Juni 2018 nach dem britischen EU-Austritt haben werden.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion werden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass mehrere Parteien als Wahlbündnis auf einer gemeinsamen Liste antreten, werden der Projektion bereits bekannt gegebene oder plausibel erscheinende Listengemeinschaften zugrunde gelegt. Dies betrifft folgende Parteien: Spanien: ERC (1., 3.-4. Listenplatz), Bildu (2.) und BNG (5.); PNV (1.) und CC (2.); Niederlande: CU (1., 3.-4.) und SGP (2., 5.); Slowakei: PS (1.) und Spolu (2.).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 2 Sitze für PARTEI und FW, je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, Volt und Familienpartei).
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.
In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien, insbesondere die Greens, bei Europawahlen deutlich bessere Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese deshalb strukturell schlechter ab als bei der Europawahl. Um dies zu kompensieren, wird in der Projektion für die Greens stets das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (7 Sitze).

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Feldforschung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 11.-21.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen für Großbritannien, 7.-20.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Schottland: Regionalwahl-Umfragen, 3.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: Regionalwahl-Umfragen, 26.7.2019, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 12.8.2019, Quelle: Wikipedia.
Italien: nationale Umfragen, 10.-23.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 12.-21.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 6.-19.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 28.8.2019, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 4.-15.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 5.-18.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 10.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 10.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Portugal: nationale Umfragen, 11.-22.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 18.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 14.8.2019, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 3.-12.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 13.-20.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 16.9.2019, Quelle: Europe Elects.
Dänemark: nationale Umfragen, 19.-22.9.2019, Quelle: Europe Elects.
Finnland: nationale Umfragen, 22.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 17.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 12.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 20.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 26.8.-6.9.2019, Quelle: Europe Elects.
Lettland: nationale Umfragen, 30.-31.8.2019, Quelle: Europe Elects.
Slowenien: nationale Umfragen, 12.-17.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 16.-19.9.2019, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Luxemburg: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Malta: nationale Umfragen, 20.9.2019, Quelle: Wikipedia.

Bilder: Eigene Grafiken.

13 September 2019

Neue Strukturen, luftige Bezeichnungen und einige Kritik: Erste Reaktionen auf die Kommission von der Leyen

Ursula von der Leyen hat mit ihrem Team noch nicht jeden überzeugt.
Das Warten hat ein Ende: Am vergangenen Dienstag hat die gewählte Präsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) ihre Kommission vorgestellt. Die von den nationalen Regierungen vorgeschlagenen Namen der neuen Kommissionsmitglieder waren den Sommer über nach und nach bekannt geworden: 14 Männer und 13 Frauen, zehn Sozialdemokraten, neun Konservative, sechs Liberale, je ein Grüner und ein Nationalkonservativer. (Mehr zu den Hintergründen dieser parteipolitischen Konstellation gibt es hier.) Nun hat von der Leyen erklärt, wie sie die Ressorts unter ihnen aufteilen will und wie die interne Struktur der Kommission gestaltet sein soll. Damit zeichnet sich zum ersten Mal ein klares Bild ab, wie die Spitze der europäischen Exekutive in den nächsten Jahren aussehen könnte.

Allerdings ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Bevor die neue Kommission ihr Amt antreten kann, benötigt sie noch ein Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Dafür werden sich die designierten Kommissare in den kommenden Wochen ausführlichen Anhörungen im Europäischen Parlament unterziehen. Bei den letzten drei Kommissionswahlen wurde nach diesen Anhörungen jeweils ein vorgeschlagenes Mitglied vom Parlament abgelehnt und ausgetauscht, 2014 musste Jean-Claude Juncker zudem einige Veränderungen im Ressortzuschnitt vornehmen. Es ist stark damit zu rechnen, dass die Abgeordneten auch diesmal noch einige Änderungen fordern werden. Tatsächlich setzten in dieser Woche bereits einige kontroverse Diskussionen ein. Hier einige Gedanken zu von der Leyens Vorschlägen und der Kritik daran.

Eine Struktur für 27 Kommissare

Eine Herausforderung für jeden Kommissionspräsidenten bei der Ressortverteilung ist die vorgegebene Zahl der Kommissionsmitglieder. Nach einem Beschluss des Europäischen Rates von 2013 stellt jeder Mitgliedstaat einen Kommissar, insgesamt also 27 (ohne das Vereinigte Königreich, das nach Stand der Dinge am 31. Oktober, einen Tag vor dem Amtsantritt der neuen Kommission, aus der EU austreten wird). Die Kommission umfasst damit weit mehr Mitglieder, als die meisten Regierungen Minister haben. In der Folge wurden die Ressorts mit den EU-Erweiterungen immer kleinteiliger und unübersichtlicher – von 2007 bis 2009 gab es sogar einen eigenen Kommissar für Mehrsprachigkeit.

Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, führte der letzte Präsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) eine „Cluster-Struktur“ ein. Dafür wurden die Kommissare einer oder mehreren von sieben thematischen Gruppen zugeordnet, die jeweils von einem Kommissions-Vizepräsidenten koordiniert wurden. Diese zusätzliche Hierarchieebene brachte mehr Kohärenz in die Kommission, sorgte in der Praxis allerdings auch für einige Reibereien. Als Problem galt insbesondere, dass die koordinierenden Vizepräsidenten keinen direkten Zugriff auf die Arbeit der Generaldirektionen (also des Beamtenapparats der Kommission) hatten und deshalb stark von den einzelnen Kommissaren und dem kleinen Generalsekretariat der Kommission abhängig waren.

Exekutive und andere Vizepräsidenten

In der neuen Kommission sollen die internen Strukturen deshalb wiederum etwas anders funktionieren: Künftig wird es sogar acht Vizepräsidenten geben, von denen drei – Frans Timmermans (PvdA/SPE), Margrethe Vestager (RV/ALDE) und Valdis Dombrovskis (V/EVP) – als „exekutive Vizepräsidenten“ besonders hervorgehoben sind. Die Vizepräsidenten sind weiterhin jeweils für übergeordnete oder Querschnittsthemen zuständig; die meisten von ihnen werden künftig aber auch auf eine eigene Generaldirektion verfügen. Die Cluster-Struktur wird gelockert (nach ihrer eigenen Formulierung will von der Leyen „den Schwerpunkt auf Aufgaben, nicht auf Hierarchien“ legen), aber weiterhin sind die Kommissare bestimmten Vizepräsidenten zugeordnet.

Auf den ersten Blick wird die Struktur der Kommission also eher unübersichtlicher, und die von der Kommission veröffentlichte offizielle Grafik dazu sorgte für so wenig Klarheit, dass sich Politico Europe die Mühe machte, stattdessen auf Basis der verfügbaren Informationen ein eigenes Organigramm zu gestalten. Wie gut die Abläufe in der Praxis funktionieren, werden wohl erst die nächsten Jahre zeigen.

Auf dem Weg zu einem Staatssekretärs-Modell

Nicht verächtlich machen sollte man allerdings die Rekordzahl an Vizepräsidenten in der neuen Kommission. Denn auch wenn es auf den ersten Blick natürlich so aussieht, als würden hier mit einer Titelinflation persönliche Egos befriedigt, handelt es sich in Wirklichkeit um eine nützliche zusätzliche Hierarchieebene. In nationalen Regierungen ist jedem Minister üblicherweise ein oder mehrere Staatssekretäre unterstellt, die manchmal ebenfalls Kabinettsrang haben.

Auf europäischer Ebene gab es in der Vergangenheit Überlegungen, eine ähnliche Differenzierung in Form von „Senior-“ und „Juniorkommissaren“ einzuführen. Diese Terminologie setzte sich allerdings nicht durch, schon weil kein Mitgliedstaat gern eine Degradierung des eigenen Kommissars zum „Junior“ gesehen hätte. Die Aufwertung eines großen Teils der Kommissionsmitglieder zu Vizepräsidenten löst dieses Problem nun auf eine Weise, die niemanden symbolisch herabstuft. Auch wenn die Arbeitsweise der Kommission sich im Einzelnen noch deutlich von derjenigen eines nationalen Regierungskabinetts unterscheidet, nähern wir uns einem Modell an, in dem der Rang eines EU-Kommissars funktional dem eines nationalen Staatssekretärs entspricht, und der nationale Minister einem Kommissions-Vizepräsidenten.

Irritation um Ressortbezeichnungen

Für größere Irritationen sorgten in den letzten Tagen allerdings die Bezeichnungen, die sich von der Leyen für die Zuständigkeiten der Vizepräsidenten einfallen ließ. Von der nationalen Ebene ist man gewöhnt, dass Ressorts schlicht nach Politikfeldern benannt sind: Es gibt eine Wirtschaftsministerin, und es gibt Staatssekretäre im Wirtschaftsministerium, die für bestimmte Teilbereiche zuständig sind.

Auf europäischer Ebene hingegen bezeichnen Politikfelder traditionell die Ressorts einzelner Kommissare: Es gibt einen Wirtschaftskommissar, einen Handelskommissar, einen Kommissar für Arbeitsplätze und eine Kommissarin für Kohäsion und Reformen. Wie also den Vizepräsidenten benennen, der ihre Arbeit koordiniert? Jean-Claude Juncker entschied sich 2014 für Titelungetüme wie „Vizepräsident für den Euro und den sozialen Dialog“ oder „Vizepräsident für Arbeitsplätze, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit“.

Ein Vizepräsident für „Schützen, was Europa ausmacht“?

Von der Leyen hingegen wurde hier kreativer und benannte die Ressorts der Vizepräsidenten nicht nach Politikbereichen, sondern nach Politikzielen – die freilich ausgesprochen luftig formuliert sind. Der Zuständigkeitsbereich des für Wirtschaft zuständigen Vizepräsidenten Dombrovskis wird deshalb künftig „Wirtschaft im Dienste der Menschen“ heißen. Timmermans wird nicht für Umwelt, sondern für „einen europäischen Green Deal“ zuständig sein, Vestager für „ein Europa für das digitale Zeitalter“. Und selbst das Ressort von Josep Borrell (PSOE/SPE), dessen Amtsbezeichnung als Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik ja eigentlich aus Art. 18 EUV hervorgeht, ist mit „ein stärkeres Europa in der Welt“ überschrieben. Ob diese neuen Namen dazu beitragen werden, die Tätigkeiten der Kommission in der Bevölkerung verständlicher zu machen, darf man getrost bezweifeln. Die erste Reaktion bei vielen Beobachtern war wohl eher ein verwirrtes oder amüsiertes Kopfschütteln.

Für größeren Ärger sorgte allerdings die Ressortbezeichnung von Margaritis Schinas (ND/EVP), der künftig als Vizepräsident für Inneres zuständig ist. Geht es nach von der Leyen, soll sein Ressort künftig „Schützen, was Europa ausmacht“ heißen (auf Englisch „Protecting the European Way of Life“). Insbesondere bei Europaabgeordneten aus dem Mitte-Links-Spektrum löste dies starke Irritationen aus: Immerhin wird Schinas auch für Migrationsfragen zuständig sein, und in diesem Kontext klingt seine Ressortbezeichnung wie eine Formulierung aus dem rechtsextrem-identitären Baukasten. Ähnlich äußerte sich auch Jean-Claude Juncker, und sogar Schinas selbst vermied den neuen Titel in seiner Twitter-Selbstbeschreibung. Es dürfte deshalb nur noch eine Frage der Zeit sein, bis von der Leyen hier nachbessert – auch wenn sie damit vielleicht wartet, bis das Europäische Parlament das ausdrücklich verlangt, sodass sie die Veränderung als ein Zugeständnis an die Abgeordneten präsentieren kann.

Kritik an der personellen Besetzung

Und wie nicht anders zu erwarten, sorgen natürlich auch einige personelle Besetzungen für Kritik bei den Abgeordneten. In einigen Fällen liegt das an den Personen selbst: So soll der designierte Landwirtschaftskommissar Janusz Wojciechowski (PiS/EKR) während seiner Zeit als Europaabgeordneter bis 2014 in großem Umfang Reisekosten falsch abgerechnet haben und befindet sich deshalb im Fokus der europäischen Antibetrugsbehörde OLAF – ebenso wie die designierte Binnenmarkt-Kommissarin Sylvie Goulard (LREM/ALDE-nah), die 2014/15 als Europaabgeordnete einen Assistenten nur zum Schein beschäftigt haben soll. Die designierte Verkehrskommissarin Rovana Plumb (PSD/SPE) wiederum war 2017 als rumänische Umweltministerin Korruptionsvorwürfen ausgesetzt, die nur wegen ihrer Amtsimmunität nicht weiter verfolgt wurden.

In anderen Fällen ist es hingegen die Kombination aus Person und Ressort, die auf Ablehnung stößt: László Trócsányi (Fidesz/EVP) war als ungarische Justizminister für Reformen verantwortlich, die die meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament als Angriff auf den nationalen Rechtsstaat ansehen – und wäre künftig als Erweiterungskommissar unter anderem für die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in den Beitrittsländern zuständig.

Und in wieder anderen Fällen steht die nationale Herkunft im Vordergrund: Dass mit dem designierten Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni (PD/SPE) ein Italiener für die Einhaltung der Euro-Defizitregeln verantwortlich sein soll, obwohl die italienische Regierung diese Regeln in den letzten Jahren immer wieder kritisiert hat und derzeit wieder mit neuen Schulden plant, stößt vor allem in konservativen Kreisen auf Kritik. Umgekehrt hat beispielsweise der Luxemburger Journalist Diego Velazquez darauf hingewiesen, dass alle drei exekutiven Vizepräsidenten einem der nördlichen Mitgliedstaaten entstammen, die seit einiger Zeit als „neue Hanse“ für eine wirtschaftsliberale und eher integrationsskeptische Politik zusammenarbeiten.

Allzu große Änderungen sind nicht zu erwarten

Bei den Anhörungen in den nächsten Wochen werden sich die designierten Kommissionsmitglieder also einigen kritischen Fragen der Europaabgeordneten stellen müssen. Dass das Europäische Parlament tatsächlich in ganz großem Stil Änderungen an der Besetzung der Kommission verlangt, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Das legt jedenfalls das Beispiel von 2014 nahe, als ebenfalls eine ganze Reihe von Kommissaren im Parlament kritisiert wurde, aber nur eine von ihnen tatsächlich durchfiel.

Der Grund dafür ist zum einen schlicht Zeitdruck. Je mehr Umstellungen von der Leyen an der Kommission vornehmen muss, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese ihr Amt nicht wie geplant zum 1. November antreten kann. Das hätte zwar unmittelbar keine katastrophalen Folgen, würde aber zu Verzögerungen an anderen Stellen führen: etwa der Ausarbeitung des neuen mehrjährigen Finanzrahmens, der bis Ende 2020 stehen soll. Viele Abgeordnete werden deshalb dem Druck ausgesetzt sein, die Beschäftigung mit personellen Fragen endlich zu beenden und wieder zur Sacharbeit überzugehen.

Auch Parteipolitik spielt eine Rolle

Und zum anderen zeigt das Beispiel von 2014, dass auch Parteipolitik in den Anhörungen eine wichtige Rolle spielt, da die Abgeordneten der großen Fraktionen üblicherweise die designierten Kommissare ihrer jeweils eigenen Partei schützen. Sollten die Sozialdemokraten deshalb gegen einen EVP-Kandidaten stimmen, so müssten sie damit rechnen, dass die EVP ihrerseits auch einen Sozialdemokraten durchfallen lässt. Solange Kandidaten nicht allzu skandalösen Vorwürfen ausgesetzt sind, ist es am Ende deshalb für alle Seiten einfacher, eine Eskalation zu vermeiden und das Gesamtpaket zu akzeptieren.

Unter den designierten Kommissaren dürfte deshalb Wojciechowski diesmal am stärksten gefährdet sein, da seine EKR-Fraktion für eine Mehrheit im Europäischen Parlament nicht notwendig ist. In anderen Fällen, etwa bei Trócsányi oder Plumb, deren jeweilige nationale Parteien derzeit in EVP und SPE keinen allzu guten Stand haben, könnten die Abgeordneten eine Verkleinerung des Zuständigkeitsbereichs oder die Versetzung auf ein anderes Ressort verlangen – so wie im Fall des Bildungskomissars Tibor Navracsics (Fidesz/EVP) 2014.

So unwahrscheinlich es also ist, dass die neue Kommission genau in der jetzt präsentierten Form ihr Amt antritt, dürfte sie doch auch kein völlig anderes Bild mehr annehmen. Es lohnt sich deshalb, sich jetzt schon einmal mit den Namen und Zuständigkeitsbereichen der neuen Mitglieder vertraut zu machen, bevor dann in Kürze die Anhörungen beginnen. Hier ist die Übersicht:

Name Land Partei Zuständigkeit
Ursula von der Leyen DE CDU EVP Präsidentin
Frans Timmermans NL PvdA SPE Exekutiver Vizepräsident „Ein europäischer Green Deal“
Margrethe Vestager DK RV ALDE Exekutive Vizepräsidentin „Ein Europa für das digitale Zeitalter“
Valdis Dombrovskis LV V EVP Exekutiver Vizepräsident „Eine Wirtschaft im Dienste der Menschen“
Josep Borrell ES PSOE SPE Vizepräsident „Ein stärkeres Europa in der Welt“,
Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik
Maroš Šefčovič SK SMER SPE Vizepräsident „Interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau“
Věra Jourová CZ ANO ALDE Vizepräsidentin „Werte und Transparenz“
Dubravka Šuica HR HDZ EVP Vizepräsidentin „Demokratie und Demografie“
Margaritis Schinas EL ND EVP Vizepräsident „Schützen, was Europa ausmacht“
Johannes Hahn AT ÖVP EVP Haushalt und Verwaltung
Phil Hogan IE FG EVP Handel
Mariya Gabriel BG GERB EVP Innovation und Jugend
Nicolas Schmit LU LSAP SPE Arbeitsplätze
Paolo Gentiloni IT PD SPE Wirtschaft
Janusz Wojciechowski PL PiS EKR Landwirtschaft
Elisa Ferreira PT PS SPE Kohäsion und Reformen
László Trócsányi HU Fidesz EVP Nachbarschaft und Erweiterung
Stella Kyriakides CY DISY EVP Gesundheit
Didier Reynders BE MR ALDE Justiz
Rovana Plumb RO PSD SPE Verkehr
Helena Dalli MT PL SPE Gleichstellung
Sylvie Goulard FR LREM ALDE-nah Binnenmarkt
Ylva Johansson SE S SPE Inneres
Janez Lenarčič SI parteilos ALDE-nah Krisenmanagement
Jutta Urpilainen FI SDP SPE Internationale Partnerschaften
Kadri Simson EE KE ALDE Energie
Virginijus Sinkevičius LT LVŽS EGP-nah Umwelt und Ozeane

Bild: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.