29 August 2019

Das Wahljahr ist noch nicht zu Ende: In welchen großen EU-Mitgliedstaaten demnächst Neuwahlen anstehen könnten

In mehreren großen EU-Ländern könnten sich bald wieder die Wahlurnen füllen.
Das Europäische Parlament hat sich konstituiert, die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission steht weitgehend fest – aber das europäische Wahljahr 2019 ist noch lange nicht vorbei. In gleich mehreren EU-Ländern rumort und kriselt es, und es sieht sehr danach aus, dass die bevorstehenden Wahlen in Österreich (29. September) und Portugal (6. Oktober) und Polen (13. Oktober) nicht die letzten in diesem Jahr bleiben werden.

Insbesondere in den größten Mitgliedstaaten herrschte in den letzten Wochen einige Unruhe. Werfen wir also einen Blick in die Glaskugel: Hier eine Übersicht über die sieben einwohnerreichsten EU-Länder in der Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit, dass in ihnen in den nächsten Monaten Neuwahlen stattfinden.

Polen: Vielleicht ein Endspiel um die nationale Demokratie

Das einzige große Mitgliedsland, in dem mit Sicherheit noch in diesem Jahr gewählt wird, ist Polen. Am 13. Oktober werden beide Kammern des polnischen Parlaments, der Sejm und der Senat, neu gewählt. Und es steht einiges auf dem Spiel: Die Angriffe der rechtskonservativen polnischen Regierung auf die gemeinsamen Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren in den letzten fünf Jahren eine permanente Herausforderung für die EU und führten zu einer massiven Schwächung einiger polnischer Verfassungsinstitutionen, insbesondere des Verfassungsgerichts. Nun bietet sich für die polnische Bevölkerung die Chance, einen Regierungswechsel herbeizuführen, ehe die Lage weiter eskaliert.

Wie die Wahl ausgeht, ist indessen völlig offen; die (in Polen üblicherweise stark schwankenden) Umfragen sagen ein knappes Rennen zwischen Regierung und Opposition voraus. Es könnte ein Endspiel um die nationale Demokratie werden. Mitte August bot PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński jedenfalls schon einmal einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf, als er in einem Atemzug die Demonstrationsfreiheit von LGBT-Aktivisten, die EU und das polnische Gerichtswesen angriff.

Vereinigtes Königreich: Ausweg aus der Verfassungskrise?

Das Vereinigte Königreich steuert nicht nur auf den härtest möglichen Brexit, sondern auch auf eine veritable Verfassungskrise zu: Premierminister Boris Johnson (Cons./EKR) scheint entschlossen, zum 31. Oktober aus der EU auszutreten – obwohl das von seiner Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Abkommen, das die schlimmsten Folgen dieser Trennung abfedern könnte, keine Mehrheit im britischen Parlament gefunden hat, und eine Alternativlösung nicht in Sicht ist. Allerdings ist dieser No-Deal-Austritt auch unter den regierenden Conservatives umstritten, und ohnehin ist die Regierungsmehrheit nach einer Nachwahlniederlage Anfang August auf einen einzigen Sitz zusammengeschmolzen. Um nicht vom Parlament bei seinen Brexit-Plänen gehindert zu werden, hat Johnson deshalb eine lange Tagungspause vom 12. September bis 14. Oktober angesetzt. Bei vielen Abgeordneten stößt dieser Schritt auf heftige Ablehnung.

Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb hoch, dass es entweder vor oder nach der Parlamentsschließung zu einem Misstrauensantrag gegen Johnson kommen wird. Sollte dieser erfolgreich sein, würde nach der britischen Verfassung eine Vierzehn-Tage-Frist zu laufen beginnen, in der eine neue Regierung gebildet werden kann. In dieser Zeit würde voraussichtlich der Chef der oppositionellen Labour Party (SPE), Jeremy Corbyn, eine Übergangsregierung zu bilden versuchen, die mit der EU eine Verlängerung der Austrittsfrist vereinbart und dann möglichst schnell Neuwahlen herbeiführt. (Statt Corbyn könnte auch ein zentristischer Kompromisskandidat zum Zug kommen, der allerdings im Grundsatz dieselbe Agenda verfolgen würde.) Sollte während der Vierzehn-Tage-Frist niemand eine Mehrheit im Parlament erreichen, käme es automatisch zu Neuwahlen.

Alternativ könnte das Parlament auch versuchen, in der verbleibenden Zeit bis zur Tagungspause noch ein Gesetz zu verabschieden, das einen No-Deal-Brexit verhindert und die Regierung zwingt, bei der EU um eine Fristverlängerung zu bitten. In diesem Fall dürfte allerdings Johnson selbst Neuwahlen suchen, um die Stimmen von harten Austrittsbefürwortern und Sympathisanten der Brexit Party zu gewinnen, während das proeuropäische Lager zwischen Labour Party und LibDems (ALDE) zersplittert ist. Zuletzt sahen die derzeitigen Umfragewerte für die Conservative Party jedenfalls gar nicht so schlecht aus.

Und selbst wenn Johnson sich jetzt gegen das Parlament durchsetzt und das Vereinigte Königreich wirklich am 31. Oktober aus der EU ausscheidet, hätte er ein Interesse daran, rasch an die Urnen zu gehen: Die verbliebene Ein-Sitz-Mehrheit der Regierung ist viel zu knapp, um damit zuverlässig den Rest der regulären Wahlperiode bis 2022 zu überstehen – und die patriotische Begeisterung über seine rücksichtslose Brexit-Strategie könnte bald vorüber sein, wenn nach dem Austritt die erwartbare Rezession einsetzt. Seine beste Chance dürfte deshalb darin liegen, sich möglichst bald in den Wahlkampf zu stürzen, solange ein nennenswerter Teil der britischen Bevölkerung noch die EU und nicht die eigene Regierung für die Probleme des Brexits verantwortlich macht.

Spanien: Der Zeitplan für Neuwahlen steht bereits …

Im Vergleich zu der britischen Krise stößt die politische Situation in Spanien in der europäischen Öffentlichkeit auf deutlich weniger Aufmerksamkeit. Aber auch hier bereiten sich die Parteien auf Neuwahlen vor, die noch in diesem Jahr bevorstehen könnten. Es wären (nach 2015, 2016 und April 2019) die vierten spanischen Parlamentswahlen in vier Jahren. Und anders als im Vereinigten Königreich gibt es in Spanien bereits einen klaren Zeitplan: Wenn bis zum 23. September keine neue Regierung steht, wird es automatisch zu Neuwahlen am 10. November kommen.

Dass die Regierungsbildung in Spanien so schwer fällt, hat viel mit der Veränderung des Parteiensystems zu tun, die das Land in den letzten Jahren erlebt hat. Seit der Wiederherstellung der Demokratie in den 1970er Jahren gab es in Spanien auf nationaler Ebene niemals eine Koalition. Vielmehr bildeten die großen Parteien (seit den 1980er Jahren der sozialdemokratische PSOE/SPE und der konservative PP/EVP) jeweils Alleinregierungen – sei es mit einer absoluten Mehrheit im Parlament oder mit externer Unterstützung durch kleine, meist regionalistische Parteien.

… aber noch ist eine Einigung möglich

In den letzten Jahren hat sich die Parteienlandschaft jedoch stark geändert: Seit der Eurokrise haben PSOE und PP massiv an Wählern verloren, während mit Ciudadanos (ALDE), Unidas Podemos (UP/EL-nah) und Vox (EKR) inzwischen drei neue Parteien landesweit einen nennenswerten Stimmenanteil erreichen. Eine absolute Mehrheit für eine der großen Parteien ist in weite Ferne gerückt. Die PSOE-Minderheitsregierung unter Pedro Sánchez, die 2018 mit Unterstützung von UP (und weiteren Kleinparteien) die Regierung übernahm, verfügte gerade einmal über ein Viertel der Sitze im Parlament. Auch bei der Parlamentswahl im April 2019 wurde der PSOE zwar stärkste Kraft, blieb für eine Mehrheit jedoch auf UP angewiesen.

UP aber wollte sich nicht noch einmal darauf einlassen, bloßer Mehrheitsbeschaffer für den PSOE zu sein, und bestand darauf, in einer Koalition mit eigenen Ministern vertreten zu sein. Sánchez lehnte dies jedoch ab, und so scheiterten die Verhandlungen trotz weitreichender inhaltlicher Gemeinsamkeiten. In der Folge verpasste Sánchez im Juli die Parlamentsmehrheit für seine Wiederwahl als Ministerpräsident – wodurch die genannten Fristen zu laufen begannen, die zur Neuwahl im November führen könnten.

Ob PSOE und UP doch noch rechtzeitig zueinander finden, um diese Wahl zu vermeiden, erscheint derzeit sehr fraglich. Bislang ist keine der beiden Parteien bereit, sich auf die andere zuzubewegen. Allerdings haben PSOE und UP den Umfragen zufolge von Neuwahlen auch nicht viel zu gewinnen: Beide kämen etwa auf dasselbe Ergebnis wie im April, sodass sich die Koalitionsfrage nach der Wahl sofort erneut stellen würde. Es ist deshalb durchaus möglich, dass es doch noch zu einer Einigung kommt. Eine andere Möglichkeit ist aber auch, dass sich die liberalen Ciudadanos in letzter Minute umbesinnen, die Sánchez bislang kategorisch ihre Unterstützung versagen. Bei Neuwahlen würden die Ciudadanos stark an den PP verlieren – sie haben deshalb das geringste Interesse daran, schon im November wieder an die Urnen zu gehen.

Rumänien: Parlamentsauflösung erst nach der Präsidentenwahl

Im siebtgrößten EU-Mitgliedstaat wird im November auf jeden Fall gewählt – allerdings nicht das Parlament, sondern der Staatspräsident. Als klarer Favorit gilt der Amtsinhaber Klaus Iohannis (PNL/EVP), der in Umfragen auf rund 40 Prozent kommt und damit beste Chancen auf eine zweite Amtszeit hat.

Doch die Präsidentschaftswahlen haben aber noch weitere Wellen geschlagen und zuletzt zum Bruch der Regierungskoalition aus PSD (SPE) und ALDE (–) geführt: Nachdem sich die beiden Parteien nicht auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten für Iohannis hatten einigen können, erklärte die ALDE Ende August ihren Austritt aus der Regierung, sodass der PSD nun ohne Mehrheit im Parlament dasteht.

Sollte es dabei bleiben und keine andere Koalition gebildet werden, könnte dies grundsätzlich dazu führen, dass der Staatspräsident das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt. Allerdings verbietet Art. 89 Abs. 3 der rumänischen Verfassung eine Auflösung des Parlaments in den letzten sechs Monaten der Amtszeit des Präsidenten. Eine Neuwahl könnte also frühestens Anfang 2020 stattfinden; bis dahin kommt es möglicherweise zu einer Übergangsregierung.

Italien: Salvini hat sich verschätzt

Noch Anfang August sah es in Italien so aus, als ob ein Urnengang unmittelbar bevorstünde. Mitten in der Urlaubszeit ließ Innenminister und Vizepremierminister Matteo Salvini das Bündnis zwischen seiner rechtsextremen Lega (ID) und dem populistischen Movimento Cinque Stelle (M5S/–) platzen und forderte sofortige Neuwahlen. Der Hintergrund dieses Schritts war offensichtlich: Die Lega, bei der Parlamentswahl 2018 mit 17,3 Prozent der Stimmen noch drittstärkste Kraft, hatte bei der Europawahl im Mai 2019 triumphiert und erreichte Umfragewerte von 38 Prozent und mehr. Salvini konnte deshalb hoffen, den Koalitionspartner M5S bei Neuwahlen abzuschütteln, selbst Premierminister zu werden und freie Hand („pieni poteri“) zur Umsetzung seiner europaskeptischen und migrationsfeindlichen Agenda zu bekommen.

Womit Salvini indessen nicht gerechnet hatte, war die Bereitschaft des M5S und des oppositionellen PD (SPE), nun kurzerhand eine alternative Koalition auf die Beine zu stellen. Nachdem das M5S die früheren PD-Regierungen unter Enrico Letta, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni massiv kritisiert hatte, schienen die Gegensätze zwischen den beiden Parteien zu groß zu sein. Tatsächlich war es jedoch ausgerechnet Renzi selbst, der sich Mitte August als einer der Ersten für ein Anti-Lega-Bündnis zwischen M5S und PD stark machte. Und nach einigem Hin und Her gelang es den beiden Parteien gestern, sich auf die Grundzüge einer solchen Koalition zu einigen. Demnach wird der bisherige, M5S-nahe Regierungschef Giuseppe Conte im Amt bleiben, programmatisch soll es aber einen Neuanfang geben.

Ob die M5S-PD-Koalition tatsächlich zustande kommt, werden jedoch erst die nächsten Tage und Wochen zeigen. In beiden Parteien gibt es weiterhin auch starke Vorbehalte dagegen, und inhaltliche Streitpunkte gäbe es genug. Zudem wird das M5S voraussichtlich noch eine Online-Mitgliederbefragung über das neue Bündnis durchführen. Immerhin: In den Umfragen konnten beide Parteien, vor allem das M5S, seit Anfang August zulegen, während die Lega verloren hat. Ganz unpopulär ist der Kurs, Neuwahlen zu vermeiden, offensichtlich nicht.

Deutschland: Wie weiter mit der Großen Koalition?

Auch in Deutschland wird es 2019 aller Voraussicht nach keine Bundestagswahl geben, aber eine gewisse Fin-de-Règne-Stimmung herrscht dennoch auch hier. Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) hat sich bereits festgelegt, dass sie zur nächsten regulären Wahl 2021 nicht noch einmal antreten wird. Zwar hat Merkel gleichzeitig auch immer wieder betont, dass sie auch nicht vor 2021 zurücktreten will, und auch die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat erklärt, dass sie keine vorzeitige Übernahme der Kanzlerschaft anstrebe. Dennoch liegt der kommende Machtwechsel in der Luft. Und dann steht bis Oktober auch noch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Halbzeitbilanz an, die vor allem die in Umfragen und Landtagswahlen stark gebeutelte SPD (SPE) zum Anlass nehmen könnte, ihren Verbleib in der Großen Koalition zu überdenken.

Sollte es tatsächlich zum Regierungsaustritt der SPD kommen, dürften Neuwahlen unvermeidlich sein: Als größte Umfragegewinner der letzten Monate werden die Grünen (EGP) kaum ein Interesse haben, der Bundesregierung ohne eine vorherige Wahl beizutreten, und ohne sie ist keine plausible Mehrheit jenseits der Großen Koalition in Sicht. Allerdings könnten für die SPD die schlechten Umfragewerte gerade auch ein Grund sein, noch den Rest der Wahlperiode auszuschöpfen – und auf jeden Fall wird der weitere Kurs der Sozialdemokraten in dieser Frage wesentlich davon abhängen, wer im Dezember den Parteivorsitz übernimmt. Selbst wenn es zuletzt Neuwahlen geben sollte, ist damit also nicht vor 2020 zu rechnen.

Frankreich: Weit und breit keine Neuwahlen in Sicht

Das einzige unter den sechs größten EU-Mitgliedsländern, in denen weit und breit keine Neuwahlen in Sicht sind, ist Frankreich. Zwar sind die Umfragewerte von Präsident Emmanuel Macron (LREM/–) alles andere als berauschend – die Popularität des Staatschefs, die während der Gelbwesten-Proteste Ende 2018 ihren Tiefpunkt erreichte, hat sich seitdem nur teilweise erholt. Doch Macron ist immer noch Favorit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2022 für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Und vor allem verfügt LREM im französischen Parlament über eine stabile Mehrheit, und es ist nicht absehbar, dass sich daran in nächster Zeit irgendetwas ändern könnte.

Wenn derzeit wieder vermehrt über eine europapolitische Führungsrolle des französischen Staatspräsidenten gesprochen wird, so liegt das also nicht nur an der geschickten Gipfeldiplomatie, die er in den letzten Tagen gezeigt hat. Emmanuel Macrons Stärke hat auch innenpolitische Gründe: Er ist derzeit der einzige Staats- oder Regierungschef eines großen EU-Mitgliedstaats, der auf nationaler Ebene weitgehend krisenfrei regieren kann.

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