- Weber oder Stubb: Für die EVP ist das auch eine Richtungsentscheidung über den Umgang mit den europäischen Werten.
An
diesem Sonntag sind es noch genau 33 Wochen bis zur Europawahl, und
die Vorwahl-Saison ist bereits in vollem Gange. Am 8. November wird
die Europäische Volkspartei ihren Spitzenkandidaten ernennen –
angesichts des
kaum
noch einholbaren Vorsprungs, den die EVP in den Umfragen genießt,
dürfte das bereits eine Schlüsselentscheidung für die Nachfolge
des jetzigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP)
sein. Aber auch bei den anderen europäischen Parteien stehen in den
nächsten Wochen Nominierungsparteitage an. Wer sind die Bewerber,
wie stehen ihre Chancen, und was ist von ihnen zu erwarten?
EVP:
Weber vs. Stubb
Das
herausragende und auch in der Öffentlichkeit bereits am meisten
diskutierte Vorwahl-Duell wird sich am 8. November auf dem
Kongress
der Europäischen Volkspartei in Helsinki entscheiden. Um die
Position als Spitzenkandidat bewerben sich Manfred Weber (CSU/EVP),
EVP-Fraktionsvorsitzender im Europäischen Parlament, und Alexander
Stubb (Kok./EVP), früherer finnischer Premierminister und derzeit
Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank. Michel Barnier
(LR/EVP), Brexit-Chefverhandler der Europäischen Kommission, hat
hingegen seinen
Verzicht
auf eine Kandidatur erklärt, nachdem sich die Gespräche über
den britischen Austritt als langwieriger und komplizierter erwiesen
haben als erhofft.
Als
Favorit im Rennen gilt Weber, der sich selbst als „Brückenbauer“
inszeniert, der die Vielzahl politischer Meinungen in der EU zu einer
gemeinsamen Politik zusammenbringen könne. Tatsächlich gilt das
allerdings vor allem für die Meinungen innerhalb seiner eigenen
Partei: Webers wichtigste Stärke ist, dass er sowohl von der
liberalen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) als auch
vom
einflussreichen
rechten Flügel um den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán
(Fidesz/EVP) unterstützt wird.
Der
Streit um Viktor Orbán
Alex
Stubb hätte dieses Problem nicht: Als
Vertreter
eines pro-europäischen Modernisierungskurses und
ausdrücklicher Gegner von Viktor Orbán wäre er
sicher auch für Sozialdemokraten, Liberale und Grüne akzeptabel.
Innerhalb der EVP ist er damit jedoch nur ein Außenseiter: Der
Anti-Orbán-Flügel der Partei ist vor allem in den kleinen
nordischen und Benelux-Ländern sowie in Irland stark. Die meisten
großen Mitgliedsverbände (die deutsche CDU/CSU, die französischen
LR, die spanische PP, die italienische FI) dürften hingegen eher zu
Weber neigen – und in Kauf nehmen, dass dieser nach der Wahl im
Europäischen Parlament scheitern und der Europäische Rat einen ganz
anderen Kommissionspräsidenten nominieren könnte.
SPE:
Šefčovič vs. Kern
- Das Gesicht von Maroš Šefčovič erkennen außerhalb von Brüssel nur wenige.
Einen
Monat nach der EVP werden am 7./8. Dezember die europäischen
Sozialdemokraten ihren Spitzenkandidaten auf einem Parteikongress in
Lissabon offiziell nominieren. Zuvor will die SPE gemäß ihrem
parteiinternen
Wahlverfahren jedoch am 1. Dezember einen „European Election
Day“ durchführen, um die einzelnen Mitglieder der nationalen
Mitgliedsparteien an der Vorwahl zu beteiligen.
Wie
diese Beteiligung aussieht, lässt die SPE allerdings offen: Das
beschlossene Wahlverfahren stellt ausdrücklich die Möglichkeit
nationaler Vorwahlen in den Raum, was der Nominierung des
Spitzenkandidaten ein wenig den Charakter einer US-amerikanischen
Präsidentschafts-
Primary
geben würde. Ob sie solche Vorwahlen tatsächlich durchführen,
überließ
die SPE jedoch ihren nationalen Mitgliedsparteien – und die sind
eher
nicht dafür bekannt,
gerne Ressourcen
in Europawahlen zu investieren.
Statt der Basismitglieder
werden deshalb nun in den
meisten Fällen wohl doch
nationale Parteigremien über
die Nominierung des SPE-Spitzenkandidaten entscheiden.
Zwei
blasse Kandidaten
Und
auch sonst versprüht der SPE-Vorwahlkampf bislang nur wenig
Enthusiasmus. Die beiden Bewerber, die bislang ihr Interesse für die
Spitzenkandidatur bekundet haben, sind beide eher blass. Maroš Šefčovič (Smer/SPE) begann
seiner Karriere als slowakischer Diplomat und ist seit 2009 Mitglied,
seit 2010 einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, wo
er nacheinander für die Ressorts Bildung und Kultur, institutionelle
Beziehungen sowie Energie zuständig war. Durch diese langjährige
Erfahrung ist Šefčovič in
Brüssel gut vernetzt und auch im Europäischen Parlament
durchaus
beliebt. In der breiten Öffentlichkeit ist er bis heute jedoch
so gut wie unbekannt.
Der zweite Bewerber ist Christian Kern (SPÖ/SPE), der von
2010 bis 2016 Vorstandsvorsitzender der Österreichischen
Bundesbahnen, dann für anderthalb Jahre
österreichischer
Bundeskanzler
und
seit
2017 nationaler Oppositionsführer
war. Als
ehemaliger Regierungschef ist Kern zwar etwas prominenter als
Šefčovič,
einen
erfolgreichen Wahlkampf hat jedoch auch er noch nie bestritten. Seit
der
Wahlniederlage
von 2017 war er zudem auch in seiner eigenen Partei
zunehmend
unter Druck geraten, sodass
viele in Österreich seine Bewerbung als SPE-Spitzenkandidat eher als
eine Flucht denn als Aufstieg deuten.
Mogherini
und Moscovici verzichten
Trotz
des eher unscheinbaren Profils der beiden Bewerber hat aber
auch
die SPE-Vorwahl einen scharfen Beigeschmack:
Unter
den neun nationalen SPE-Mitgliedsparteien, die Šefčovič
als
Erste
ihre
Unterstützung ausgesprochen haben, ist keine einzige aus
Westeuropa – dafür aber gleich drei nationale Regierungsparteien
(die slowakische Smer, die rumänische PSD und die maltesische PL),
die in den letzten Jahren wegen verschiedenen Skandalen und
Angriffen
auf die Rechtsstaatlichkeit
in
die Kritik geraten sind. Bei
manchen westeuropäischen Sozialdemokraten löst das ein gewisses
Misstrauen aus.
Auch
wenn die Wellen in
der SPE bis jetzt weniger hoch
schlagen als in
der
EVP, könnte
der
Vorwahlkampf
im äußersten Fall zum
Aufbrechen
latenter parteiinterner West-Ost-Konflikte
führen.
Bis
jetzt ist auch noch nicht ganz ausgeschlossen, dass Šefčovič und
Kern noch weitere Konkurrenz erhalten.
Zwei
prominente mögliche Bewerber, die
EU-Außenbeauftragte
Federica Mogherini (PD/SPE) und der
Währungskommissar
Pierre Moscovici (PS/SPE), haben allerdings bereits ihren
Verzicht auf eine Kandidatur erklärt.
Unklar ist, ob Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE)
einen Anlauf macht.
Die
SPE-interne
Bewerbungsfrist
läuft noch bis zum 18. Oktober.
Nachtrag, 6.10.: Wie heute bekannt wurde, wird Christian Kern nach anhaltender Kritik aus der SPÖ auf seine Kandidatur bei der Europawahl verzichten und sich vollständig aus der Politik zurückziehen.
Nachtrag, 11.10.: Am gestrigen Mittwoch erklärte Frans Timmermans, dass er sich um die Position des SPE-Spitzenkandidaten bewerben wird.
EGP:
Keller, Sutter,
Eickhout
- Ska Keller gewann 2014 eine europaweite Online-Vorwahl. Dieses Jahr gibt es stattdessen nur einen Parteikongress.
Bereits
beendet ist die Bewerbungsphase hingegen bei der Europäischen Grünen
Partei, bei
denen die
Entscheidung
am
24. November
auf einem
Parteikongress in Berlin fallen
wird.
Die
EGP wird
dort wie 2014 gleich zwei
Spitzenkandidaten nominieren, darunter mindestens eine Frau. Im
Rennen sind dafür
drei
Interessenten:
die derzeitige Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament, Ska
Keller (Grüne/EGP), der Europaabgeordnete Bas Eickhout
(GroenLinks/EGP) sowie
die belgische Senatorin Petra de Sutter (Groen/EGP). Ein
vierter Bewerber, Atanas
Schmidt (ZP/EGP), der als Mitarbeiter eines Software-Unternehmens
arbeitet,
wurde von den kleinen
bulgarischen Grünen
vorgeschlagen. Er
konnte
sich jedoch nicht die notwendige Unterstützung von fünf weiteren
EGP-Mitgliedsparteien
sichern
und
schied deshalb aus
dem Bewerbungsverfahren aus.
Anders
als 2014, als die europäischen
Grünen eine
europaweite
offene Online-Vorwahl
organisierten
und anschließend
von
der geringen
Beteiligung enttäuscht
waren,
verzichtet die EGP diesmal
auf transnationale Demokratieexperimente: Wie bei der EVP wird die
Nominierung durch Delegierte auf einem Parteikongress erfolgen. Ob
das der öffentlichen Sichtbarkeit der europäischen Grünen nützen
wird, darf man bezweifeln. Immerhin aber könnte die EGP mit
Ska Keller eine Frontfrau nominieren, die bereits 2014
Spitzenkandidatin war und damit zu den wenigen zählt, die schon persönliche
Erfahrung mit europaweiten Wahlkämpfen aufweisen können.
AKRE:
Jan Zahradil
- Jan Zahradil glaubt nicht an eine europäische Demokratie, ist im Wahlkampf aber gerne sichtbar.
Einziger
Bewerber ist der tschechische Europaabgeordnete und
AKRE-Parteivorsitzende Jan Zahradil (ODS/AKRE). Daneben hatte auch
der deutsche Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel Interesse an der
Spitzenkandidatur angemeldet, der 2014 für die AfD ins Europäische
Parlament gewählt wurde und seit 2015 der kleinen
AKRE-Mitgliedspartei LKR angehörte. Ende September 2018 verlor
Henkel jedoch beim nationalen Nominierungsparteitag eine
Kampfabstimmung gegen Bernd Lucke um den ersten Listenplatz und trat
daraufhin aus der LKR (und damit auch der AKRE) aus. Damit
steht Zahradil,
der
als Europaskeptiker, aber auch als geschickter
transnationaler Netzwerker bekannt ist, schon jetzt als
AKRE-Spitzenkandidat fest.
ALDE:
plötzliche Skepsis
Weit
weniger Klarheit herrscht bei der Allianz der Liberalen und
Demokraten für Europa: 2014
gehörte die ALDE zu den wichtigsten Förderern des
Spitzenkandidaten-Verfahrens, indem sie vor der Europawahl
einen
Pakt mit EVP und SPE schloss, im Europäischen Parlament keinen
Kommissionspräsidenten zu wählen, der nicht zuvor Spitzenkandidat
einer der europäischen Parteien gewesen wäre. Noch
2016 verabschiedete die Partei
eine
Resolution, in der sie das Spitzenkandidaten-Verfahren vehement
verteidigte.
Es wäre deshalb zu erwarten, dass die ALDE auch diesmal wieder einen
Spitzenkandidaten nominiert. Doch im
Programm
für ihren Parteikongress in Madrid am 8.-10. November sucht man
einen entsprechenden Tagesordnungspunkt vergeblich. Mehr
noch: Sowohl
Fraktionschef
Guy Verhofstadt (OpenVLD/ALDE) als auch
Wettbewerbskommissarin
Margrethe Vestager (RV/ALDE) – die beiden Politiker, denen die
besten Aussichten auf die
ALDE-Spitzenkandidatur zugeschrieben
wurden – äußerten sich in den letzten Wochen offen ablehnend
gegenüber dem
gesamten Verfahren:
Es
sei demokratisch unzureichend, gebe
der EVP zu viel Einfluss und
zwinge
Bewerber
durch
den langen zeitlichen Vorlauf dazu,
sich
früh
auf
die
europäische
Kandidatur festzulegen,
obwohl
einige von ihnen parallel auch noch an nationalen Wahlen teilnehmen
wollten.
Die Rolle der LREM
- Christophe Castaner möchte kein Spitzenkandidat sein – und freut sich, wenn das auch sonst niemand wird.
Ob
für die
plötzliche Skepsis der
ALDE tatsächlich diese Argumente ausschlaggebend sind, darf man
allerdings bezweifeln. Ein
ebenso wichtiger Faktor dürfte
vielmehr
die französische
Regierungspartei LREM um Emmanuel Macron sein. Die 2016
neu gegründete LREM
steht der ALDE politisch
recht
nahe
und wird von dieser seit längerem offen umworben. Bis jetzt hat sich
die
LREM jedoch nicht zu einem Beitritt entschieden, sondern spielt
stattdessen mit der Idee, im Europäischen Parlament eine eigene,
zentristisch-progressive Fraktion zu gründen.
Für
die ALDE steht dabei viel auf dem Spiel: Mit den rund zwei Dutzend
Europaabgeordneten, mit denen die LREM bei der Europawahl rechnen kann, würde sie im
Europäischen Parlament deutlich an Gewicht gewinnen. Eine
neue Fraktion hingegen würde
die
Liberalen spalten und die Rest-ALDE massiv schwächen. Eine
zentrale institutionenpolitische Position der LREM ist jedoch, dass
sie das Spitzenkandidaten-Verfahren ablehnt, jedenfalls solange es
bei der Europawahl keine gesamteuropäischen Listen gibt. Anfang
September
erklärte
der LREM-Vorsitzende Christophe Castaner sogar, seine Bewegung
wolle „sich mit niemandem zusammentun, der den
Spitzenkandidaten-Ansatz unterstützt“.
Es
ist deshalb denkbar, dass
die ALDE auf die Ernennung eines Spitzenkandidaten verzichtet,
um die Aussichten auf eine gemeinsame Fraktion mit
der LREM zu
erhöhen. Eine
endgültige
Entscheidung
scheint bislang
jedoch
nicht gefallen zu sein.
EL:
noch keine Entscheidung
Und auch bei der Europäischen
Linken ist noch alles offen. Bereits
2014 fremdelte die Partei mit dem Spitzenkandidaten-Verfahren, das
einige ihrer
europaskeptischeren Mitgliedsparteien
ablehnten. Statt eines
Europapolitikers nominierte die
EL damals schließlich
den damaligen griechischen
Oppositionsführer Alexis Tsipras (Syriza/EL) – der die
Europawahldebatten vor allem als Bühne nutzte, um sich für die
nationale
Parlamentswahl wenige Monate später zu profilieren.
Und auch diesmal ist die EL
offenbar unentschieden, wie sie mit
dem Verfahren umgehen soll.
Ein Parteitag
in Brüssel
am 30. September
beschloss
nur, dass die nationalen Mitgliedsparteien bis zum 16. November
mögliche Spitzenkandidaten vorschlagen können,
unter denen sich auch „Persönlichkeiten außerhalb der
Europäischen Linken“ befinden dürfen.
Über diese Vorschläge soll dann der
EL-Parteivorstand bei einem Treffen am 26./27. Januar entscheiden.
Dabei ist jedoch auch
nicht
ausgeschlossen, dass die EL überhaupt keinen Spitzenkandidaten
nominiert.
Und
dann?
Doch auch wenn ALDE und EL noch
zögern: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das
Spitzenkandidaten-Verfahren dieses Jahr auf größeres
Medieninteresse stößt als 2014. Zwar wird der Wahlkampf wohl erneut
von Spekulationen begleitet sein, ob der Europäische Rat am Ende
nicht doch jemand
ganz anderen als
Kommissionspräsidenten
vorschlagen könnte.
Die meisten Kommentatoren
dürften inzwischen aber verstanden haben, dass es sich bei den
Spitzenkandidaten um mehr
als eine demokratische
Scharade handelt. Sofern
die Parteien im Europäischen Parlament sich nach der Wahl hinter
einem der Spitzenkandidaten versammeln, dürfte dieser
vom
Europäischen Rat kaum zu verhindern sein.
Unsicherheit
wird nach der Wahl nur entstehen, wenn der
Spitzenkandidat der stärksten Fraktion (also aller Voraussicht nach
der EVP) für die anderen Parteien nicht hinnehmbar ist. Eine solche
Situation dürfte jedoch
allenfalls dann eintreten,
wenn es zuvor zu einer scharfen Auseinandersetzung gekommen
ist, die deutliche
politische Differenzen zwischen
den europäischen Parteien sichtbar gemacht hat.
Kurz gesagt, zu einem
intensiven Europawahlkampf – und das wäre ja auch schon mal was.