- Emmanuel Macron ist gegen die Spitzenkandidaten bei der Europawahl 2019. Diesen Kampf wird er verlieren.
Über
die europäischen Spitzenkandidaten wurde schon viel geschrieben,
auch auf diesem Blog. Nachdem die Staats- und Regierungschefs im
Europäischen Rat den Kommissionspräsidenten früher stets im
Alleingang ernannt hatten, nahmen ihnen die europäischen Parteien
die Entscheidung über diese Personalie vor einigen Jahren aus der
Hand, indem sie vor der Europawahl 2014 Spitzenkandidaten
nominierten. Gleichzeitig vereinbarten die größten Fraktionen im
Europäischen Parlament, dass sie ausschließlich den
Spitzenkandidaten der stärksten Partei zum Kommissionspräsidenten
wählen würden.
Nachdem bei der Europawahl die Europäische
Volkspartei die meisten Sitze gewonnen hatte, stellte sich die
Parlamentsmehrheit deshalb geschlossen hinter deren Kandidaten
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP). Die nationalen Staats- und
Regierungschefs grummelten
zwar, gaben aber nach und nominierten den vom Parlament
gewünschten Präsidenten.
Neuer
Widerstand im Europäischen Rat
Ende
gut, alles gut also? Leider noch nicht: Auch nach Junckers Wahl hat
sich der Europäische Rat nicht so ganz mit dem neuen Verfahren
abgefunden. Einen Vorstoß des Parlaments, die Spitzenkandidaten auch
formal im Europawahlrecht zu verankern, ließen
die nationalen Regierungen 2016 abprallen. Und im Vorfeld der
Europawahl 2019 formiert sich nun erneut Widerstand: Eine Gruppe von
Mitgliedstaaten, die neben den Regierungen von Polen, Ungarn,
Tschechien und der Slowakei auch den französischen Präsidenten
Emmanuel Macron (LREM/–) umfasst, lehnt
das neue Verfahren ab und wird dabei offenbar auch von
Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) unterstützt.
Die
Motivationen der Spitzenkandidaten-Gegner sind dabei recht
unterschiedlich. Die notorisch europaskeptischen Regierungen der
Visegrád-Gruppe dürften vor allem das Ziel haben, Fortschritte
zur supranationalen Demokratie zu verhindern. Macron hingegen
geht es wohl eher um seinen eigenen Einfluss: Seine Formation La
République en Marche hat sich bis jetzt noch keiner europäischen
Partei angeschlossen und hätte deshalb auch keine
Mitsprachemöglichkeit bei der Nominierung der Spitzenkandidaten.
Auf
der anderen Seite sprach sich die Europäische Kommission vor kurzem
noch einmal ausdrücklich für
das neue Verfahren aus, und das Europäische Parlament kündigte
bereits an, dass es auch 2019 niemanden
als Kommissionspräsidenten akzeptieren wird, der nicht zuvor von
einer europäischen Partei als Spitzenkandidat nominiert wurde.
Insbesondere befürwortet
auch
die Europäische Volkspartei das Verfahren, auf die es in dieser
Angelegenheit besonders ankommt, da sie den Wahlumfragen zufolge
recht sicher auch 2019 wieder die
stärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen wird.
2014
hatten die Spitzenkandidaten wenig Strahlkraft
Das
wichtigste Argument der Spitzenkandidaten-Gegner in dieser neu
entbrannten Diskussion bezieht sich auf die Erfahrungen von 2014:
Anders als erhofft, konnten die Spitzenkandidaten damals in Bezug auf
die sinkende Wahlbeteiligung an Europawahlen keine
Trendwende anleiten.
In
den Herkunftsländern der Spitzenkandidaten, speziell Deutschland
(mit Martin Schulz, SPD/SPE, und Ska Keller, Grüne/EGP) und
Griechenland (mit Alexis Tsipras, Syriza/EL), stieg sie zwar etwas an
(in Luxemburg und Belgien, wo die Spitzenkandidaten von EVP und ALDE
herkamen, herrscht ohnehin Wahlpflicht). Doch offenbar gelang es den
Kandidaten nicht, eine gesamteuropäische Strahlkraft zu entwickeln.
Die Einschaltquoten bei ihren Fernsehduellen blieben niedrig, die
Unterschiede zwischen den Kandidaten blieben blass. An der
europaweiten Green Primary beteiligten
sich weniger als 25.000 Personen. Und auch wenn Juncker
und Schulz 2014 bekannter waren als die meisten Europapolitiker vor
ihnen, dürften nur wenige Wähler bei der Entscheidung in der
Wahlkabine tatsächlich ihre Gesichter vor Augen gehabt haben.
Wenn
nun aber die Spitzenkandidaten tatsächlich kaum etwas zu einer
Belebung der europäischen Demokratie beitragen, so das Argument
ihrer Gegner, warum dann an dem neuen Verfahren festhalten? Warum
den nationalen Regierungen nicht die Handlungsfreiheit zurückgeben,
die sie bei der Ernennung der Kommissionspräsidenten früher
genossen hatten?
Eine
Entscheidung im Hinterzimmer der EVP?
Dieses
Argument gewinnt durch die gegenwärtige Konstellation, bei der die
Europäische Volkspartei in den Wahlumfragen klar dominiert, noch
weiter an Gewicht. Gewiss, auch die Personalentscheidungen des
Europäischen Rates vor 2014 lassen sich mit gutem Grund kritisieren:
Junckers Vorgänger Jacques
Santer (CSV/EVP, 1995-1999), Romano
Prodi (Dem/ELDR, 1999-2004) und José
Manuel Durão Barroso
(PSD/EVP, 2004-2014) waren allesamt schwache, uncharismatische
Präsidenten. Aber immerhin war ihre Ernennung eine
Kompromissentscheidung, an der die Regierungen aller Mitgliedstaaten
beteiligt waren.
Hingegen
wird das Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl 2019 dazu
führen, dass sich die Wahl von Junckers Nachfolger de facto
bereits auf dem Nominierungsparteitag
der Europäischen Volkspartei am 7./8. November 2018 entscheidet.
Dagegen wäre aus demokratischer Sicht grundsätzlich nichts
einzuwenden: Schließlich liegt das letzte Wort weiterhin bei den
Wählern, die sich bei einem unpopulären Kandidaten der EVP ja immer
noch bei der Europawahl für eine andere Partei entscheiden könnten.
Nur was, wenn die Kandidaten weiterhin so unsichtbar und unbekannt
bleiben wie 2014? Am Ende, so die Kritiker, verschöbe das
Spitzenkandidaten-Verfahren die politische Macht nur vom Hinterzimmer
des Europäischen Rates in das Hinterzimmer einer einzelnen
europäischen Partei.
2014
unterschätzten die Medien die Relevanz der Kandidaten
Doch
dieses Argument verkennt, dass
die Erfahrungen von 2014 kaum aussagekräftig für künftige
Europawahlen sind. Damals war das gesamte Verfahren neu und
unvertraut – für Parteien, Medien und Wähler gleichermaßen. Neue
grenzüberschreitende Formate wie die Green
Primary wurden
zum ersten Mal erprobt, mit
allen
damit verbundenen Kinderkrankheiten. Der Widerstand der
nationalen Regierungen im Europäischen Rat tat ein Übriges: Selbst
renommierte Europapolitik-Experten zweifelten an den Erfolgsaussichten des neuen Verfahrens. In
der Süddeutschen
Zeitung hieß
es dementsprechend einige
Wochen vor der Wahl, die Spitzenkandidaten seien „zum
Scheitern verurteilt“, im
Tagesspiegel war
von
einer „Farce“ die Rede.
Angesichts
dessen ist es nicht verwunderlich, dass die mediale Resonanz auf
die Spitzenkandidaten zunächst gering lieb. Die
meisten Journalisten unterschätzten schlicht die Relevanz des neuen Verfahrens und gaben deshalb Juncker und Schulz in der
Berichterstattung weniger Sichtbarkeit, als sie das unter anderen
Umständen getan hätten. Und
das bedeutet
im Umkehrschluss: Wenn das Spitzenkandidaten-Verfahren in
Zukunft erst
einmal fest etabliert sein wird, kann
es die öffentliche Wahrnehmung des Europawahlkampfs sehr viel
stärker prägen und damit auch mehr zu einer echten Demokratisierung beitragen, als das 2014 der Fall war.
Ob
es schon 2019 so weit sein wird, ist allerdings fraglich. Der neue
Widerstand der nationalen Regierungen lässt jedenfalls befürchten,
dass sich die Unsicherheit über das Ernennungsverfahren auch diesmal
bis zur Europawahl hinzieht. Selbst
wenn es den Gegnern des Verfahrens nicht gelingt, die
Spitzenkandidaten selbst zu verhindern, könnten sie auf diese Weise
die öffentliche Auseinandersetzung damit sabotieren.
Im schlimmsten Fall wird erneut nur der institutionelle Machtkampf
zwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament im
Vordergrund stehen – und nicht die Kandidaten selbst.
Das
Parlament hat auch diesmal die besseren Karten
Für
die Befürworter der
Spitzenkandidaten geht
es jetzt deshalb darum, möglichst wenig Zweifel an der Wiederholung
des neuen Verfahrens aufkommen zu lassen. Die
Voraussetzungen
dafür sind durchaus gut,
denn das Europäische
Parlament hat in dieser Auseinandersetzung nach wie vor die besseren
Karten. An den Faktoren,
die 2014 zur Durchsetzung von Jean-Claude Juncker führten,
hat sich wenig geändert.
Denn
auch 2019 wird das
Europäische Parlament bei dem Konflikt mehr zu verlieren als die
nationalen Regierungen haben,
sodass es bei einer Machtprobe entschlossener agieren würde. Auch
2019 wird der erfolgreiche Spitzenkandidat nach der Europawahl
wenigstens eine gewisse öffentliche Bekanntheit besitzen,
während der Europäische Rat sich erst einmal auf eine andere Person
einigen und deren bessere Eignung plausibel machen müsste. Und
auch 2019 wird es auch
innerhalb des Europäischen Rats Akteure geben,
die sich für das neue
Verfahren einsetzen – unter
anderem der irische
Premierminister Leo Varadkar (FG/EVP), der
kroatische
Ministerpräsident Andrej Plenković (HDZ/EVP) und
der luxemburgische
Premier Xavier Bettel (DP/ALDE) –,
sodass es den
Spitzenkandidaten-Gegnern schwerfallen wird, hier eine geschlossene
Front zu bilden.
Macron
hat keinen Nutzen von seinem Widerstand
Alles
spricht also dafür, dass die europäischen Parteien das neue
Verfahren auch dieses Mal erfolgreich durchziehen werden. Die Gegner
einer supranationalen Demokratie wird das nicht hindern, bis zuletzt
Zweifel zu säen. Für
Emmanuel Macron aber wird
eine ablehnende Haltung, mit
der er nichts zu gewinnen hat, kaum
politischen Nutzen bringen – umso mehr, als er damit seinen Ruf als
aktivster Europafreund im Europäischen Rat in Frage stellt.
Tatsächlich
spekulierten bereits in den letzten Wochen manche Beobachter, dass es
sich bei Macrons Kritik an den Spitzenkandidaten lediglich um eine
strategische Position handeln könnte, um seiner Forderung nach
gesamteuropäischen Listen bei der Europawahl größeren Nachdruck zu
verleihen. Diese gesamteuropäischen Listen werden von der
Europäischen Volkspartei, die in diesem Jahr ein besonders großes
Interesse am Spitzenkandidaten-Verfahren hat, mehrheitlich abgelehnt.
Wenigstens theoretisch wäre deshalb ein pro-europäisches
Verhandlungspaket zur Wahlrechtsreform denkbar gewesen, bei dem
Macron die Spitzenkandidaten und die EVP die gesamteuropäischen
Listen akzeptiert.
Doch
nachdem vor zwei Wochen eine Allianz aus EVP, Nationalkonservativen,
Rechtspopulisten und Linken im Europäischen Parlament die
gesamteuropäischen Listen wenigstens für die nächste Europawahl
begraben hat, ist dieses
Paket vom Tisch. Damit hat Macrons
Widerstand gegen die
Spitzenkandidaten jeden praktischen Sinn verloren – und wird
zunehmend zum
Hindernis auch
für Macrons
eigenes Interesse an einer Vertiefung der EU,
weil er dazu beiträgt, dass
die Debatte über
institutionelle Reformen in einer
Auseinandersetzung der Vergangenheit gefangen
bleibt.
Es
wird Zeit, diese Debatte hinter uns zu lassen
Und
auch die europäischen Föderalisten sollten
sich jetzt nicht in dem Kampf
um die europäischen Spitzenkandidaten verzetteln, den
sie eigentlich schon gewonnen haben. Natürlich ist es wichtig, dass
die europäischen Parteien
und das Europäische
Parlament fest bei ihrer
Linie bleiben. Aber man tut
den Skeptikern
im Europäischen Rat zu viel der Ehre, wenn man diesen Konflikt nun
in den Mittelpunkt der Diskussion
über die EU-Reform rückt.
Denn
so
sinnvoll die Spitzenkandidaten auch sind, so klar ist auch, dass
sie auf dem Weg zu einer demokratischen EU nur ein einzelner Schritt
sein können. Viele weitere
Schritte sind nötig: Wir brauchen, um nur ein paar Beispiele zu
nennen, gesamteuropäische
Listen, um die europäischen Parteien weiter zu stärken. Wir
brauchen eine Wahl
der Europäischen Kommission allein durch das Parlament, damit
sich auch auf europäischer Ebene eine Regierungs-Oppositions-Dynamik
entfaltet. Und wir brauchen eine Reduzierung
der Mehrheitsanforderungen bei EU-Entscheidungen, damit die
permanente Große Koalition enden und die Europawahl zu einer echten
politischen Richtungsentscheidung werden kann.
All
das sind dicke Bretter, an denen wir wohl noch einige Jahre bohren
werden. Zugleich sind es aber auch die Zukunftsthemen für die
Demokratisierung der EU, über die es sich ernsthaft zu diskutieren
lohnt. Zu den Spitzenkandidaten bleibt hingegen nicht viel mehr zu
sagen, als dass es sie auch 2019 wieder geben wird und
niemand den Fehler begehen sollte, sie nicht ernst zu nehmen.
Bild: Jeso Carneiro [CC BY-NC 2.0], via Flickr.
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