- Als Helmut Kohl und François Mitterrand sich die Hände reichten, hatten es Deutschland und Frankreich in Europa noch leichter.
In
ihrem neuen
Koalitionsvertrag lassen CDU/CSU (EVP) und SPD (SPE) keinen
Zweifel daran, welches Land sie als den wichtigsten Partner der
Bundesregierung in Europa ansehen. „Die Erneuerung der EU“, so
heißt es darin, „wird nur gelingen, wenn Deutschland und
Frankreich mit ganzer Kraft gemeinsam dafür arbeiten.“ Die beiden
Regierungen sollen „gemeinsame Positionen möglichst zu allen
wichtigen Fragen der europäischen und internationalen Politik
entwickeln“. Wenn darüber keine gesamteuropäische Einigkeit zu
erzielen ist, sollen sie in kleinem Kreis „vorangehen“. Und um
diese enge Partnerschaft auch institutionell zu untermauern, ist ein
„neuer Élysée-Vertrag“ geplant, der auf das bis
heute gültige Freundschaftsabkommen von 1963 aufbaut und
„insbesondere auch die europapolitische Zusammenarbeit weiter
stärken sollte“.
Die
Botschaft hinter diesen Ankündigungen ist klar: Der
deutsch-französische Motor soll zu alter Hochform
auflaufen. Wenn im Westen der Brexit naht, im Osten über die
Rechtsstaatlichkeit gestritten werden muss und der Süden bis heute
mit den politischen Folgeschäden der Eurokrise zu kämpfen hat, dann
soll wenigstens das Duo in der Mitte des Kontinents für Stabilität
sorgen und das Schiff der Europäischen Union auf Kurs halten – so
wie es das auch in der Vergangenheit noch in jeder Krise der
europäischen Integration getan hat.
Kein
anderes Länderpaar hat die EU so stark geprägt
Tatsächlich
gibt es kein anderes Länderpaar, das die Entwicklung des
europäischen Einigungsprozesses so stark geprägt hat wie
Deutschland und Frankreich. Beispielhaft lässt sich das an einer
Reihe von Politikern verdeutlichen, die sich paarweise in das
öffentliche Gedächtnis eingeschrieben haben: Aristide Briand und
Gustav Stresemann, die 1926 gemeinsam den Nobelpreis gewannen. Konrad
Adenauer und Charles de Gaulle, die den ersten Jahren der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ihren Stempel aufdrückten.
Valéry Giscard dʼEstaing
und Helmut Schmidt, die 1974 die regelmäßigen Gipfeltreffen der
europäischen Staats- und Regierungschefs initiierten. Helmut Kohl
und François Mitterrand, die 1991 den Vertrag von Maastricht
aushandelten. Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die sich 2004/05
am EU-Verfassungsvertrag versuchten. Angela Merkel und Nicolas
Sarkozy, die dessen Überreste 2007 in den Vertrag von Lissabon
überführten.
Dass
das deutsch-französische Verhältnis für die Europäische Union
seit jeher so wichtig ist, liegt zum Teil einfach daran, dass es sich
dabei um die beiden einwohnerreichsten Mitgliedstaaten handelt, die
zudem wirtschaftlich und diplomatisch besonders großen Einfluss
besitzen. Und auch die geografische Lage leistet ihren Beitrag, dass
in der EU ganz wörtlich kaum ein Weg an Deutschland und Frankreich
vorbeiführt.
In
deutsch-französischen Kompromissen finden sich andere wieder
Hinzu
kommt aber noch ein weiterer, weniger offensichtlicher Umstand –
nämlich dass Deutschland und Frankreich in vielen Schlüsselfragen
der europäischen Integration eigentlich als Antagonisten auftraten.
So setzte sich Frankreich in der Nachbarschafts-
und Erweiterungspolitik stets für eine Südorientierung ein,
Deutschland eher für ein Wachstum nach Norden und Osten.
Wirtschaftspolitisch dominieren in Deutschland traditionell
ordoliberale Vorstellungen, während Frankreich eher auf staatliche
Steuerung mit einem starken öffentlichen Sektor baut. Und die große
Vertragsreform von Maastricht war 1991 nicht
zuletzt ein Kompromiss zwischen dem französischen Wunsch nach
einer Währungsunion und der deutschen Forderung nach einem stärkeren
Europäischen Parlament.
Was
die deutsch-französische Partnerschaft für die EU so bedeutend
machte, war die Entschlossenheit der Regierungen beider Länder, ihre
eigentlich entgegengesetzten Positionen in einem friedlichen
Interessenausgleich zu einer gemeinsamen Linie zu vereinen. Sie
setzten damit nicht nur neue Standards für die Aussöhnung
ehemaliger Kriegsgegner. Gerade weil Deutschland und Frankreich in
wichtigen Richtungsstreitigkeiten als Vertreter unterschiedlicher
politischer Lager gesehen wurden, konnten sich in den Kompromissen,
zu denen sie auf bilateraler Ebene gelangten, später meist auch die
anderen Mitgliedstaaten wiederfinden. Die deutsch-französische Linie
wurde deshalb oft zur Grundlage eines breiten, gesamteuropäischen
Konsenses – und die deutsch-französische Zusammenarbeit damit zu
dem viel zitierten „Motor“ der europäischen Integration.
Der
Motor ist ins Stottern geraten
Zuletzt
scheint dieser Motor jedoch etwas ins Stottern geraten zu sein: In
der „Polykrise“,
die die Europäische Union seit etwa zehn Jahren umtreibt, legten
Deutschland und Frankreich zwar zuweilen gemeinsame Positionspapiere
vor – doch zu einem wirklichen Durchbruch führte keines von ihnen.
Weder bei der Überwindung der Eurokrise noch in der Asylpolitik,
weder bei institutionellen Streitfragen wie den Spitzenkandidaten und
den gesamteuropäischen Listen zur Europawahl noch im Umgang mit
autoritären Regierungen wie in Ungarn oder Polen spielte die
deutsch-französische Partnerschaft eine entscheidende Rolle.
Die
schönen Worte im deutschen Koalitionsvertrag (und die nicht
weniger freundlichen Worte des französischen Präsidenten Emmanuel
Macron) sind deshalb mindestens zum Teil auch als Versuch einer
Beschwörung zu verstehen: als Hoffnung, dass eine früher sehr
erfolgreiche Zusammenarbeit in Zukunft wieder bessere Früchte tragen
möge. Aber woran liegt es eigentlich, dass der deutsch-französische
Motor in den letzten Jahren so unrund lief? Wenigstens zwei mögliche
Erklärungen springen ins Auge.
Deutsch-französisches Machtgefälle
Zum
einen bestand ein Teil des früheren Erfolgsrezepts darin, dass sich
Deutschland und Frankreich stets auf Augenhöhe begegneten. Bis 1990
waren beide Länder etwa gleich groß und in den europäischen
Institutionen gleich stark vertreten. Beide hatten ein vergleichbares
Wirtschaftswachstum, und wenn Deutschland die stabilere Währung und
bessere Beziehungen zu den USA besaß, so verfügte Frankreich über
das stärkere Militär und einen Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Nach
1990 begann dieses Gleichgewicht jedoch ins Rutschen zu geraten –
zunächst nur allmählich, aber bald immer deutlicher. Das
wiedervereinigte Deutschland stellt aufgrund der höheren
Einwohnerzahl mehr Abgeordnete im Europäischen Parlament und hat bei
Abstimmungen im Rat ein größeres Gewicht. Vor allem aber setzte es
sich seit 2010 wirtschaftlich
von Frankreich ab, und auch politisch hielten die
krisengeschüttelten Präsidenten Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) und
François Hollande (PS/SPE) nicht mit der fest im Sattel sitzenden
Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) mit.
Die
Folgen dieses Ungleichgewichts wurden vor allem während
der Eurokrise deutlich. Im Streit
über die Sparpolitik zeigten sich zunächst durchaus vertraute
Muster: Während Angela
Merkel das Lager der
Austeritätsbefürworter anführte, forderte François Hollande einen
Wachstumspakt, der die Konjunktur in Südeuropa ankurbeln sollte.
Doch auch wenn beide
Regierungen sich rhetorisch
aufeinander zubewegten, blieb von Hollandes Wünschen letztlich
wenig übrig. Frankreich,
selbst von den Strudeln der Krise erfasst, war schlicht zu schwach,
um sich im Europäischen Rat der zunehmend
dominanten deutschen Politik entgegenzustellen.
Neuer Frühling mit Macron
Könnte
sich das in Zukunft wieder ändern? Wenigstens einige Indizien
sprechen dafür, dass Frankreich
in den nächsten Jahren wieder eine etwas stärkere Rolle spielen
wird. Zum einen hat in
Frankreich das Wirtschaftswachstum wieder eingesetzt. Zum anderen
hat die Flüchtlingskrise auch Deutschland nun in eine Lage gebracht,
in der es auf die Unterstützung anderer EU-Staaten hoffen muss.
Zudem profitiert
der französische
Präsident Emmanuel Macron
(LREM/–) derzeit von
seinem Image als junger,
entschlossener Kosmopolit, das
ihm
unter Proeuropäern
länderübergreifend viele
Sympathien
einbrachte.
Auch in der deutschen
Politik sehen ihn viele als letzten Hoffnungsträger, den man
europapolitisch schon wegen der drohenden
Alternative des Front
National (BENF) nicht scheitern lassen darf.
Wie
lange dieser Macron-Frühling noch andauern wird, weiß allerdings
niemand, und die strukturellen Gründe für das deutsch-französische
Machtgefälle
werden sich nicht einfach auflösen. Ob
die beiden Regierungen
in Zukunft tatsächlich
wieder in eine politische
Balance gelangen werden,
bleibt deshalb eine offene Frage.
Die
EU wird heterogener
Fast
noch gravierender erscheint indessen der andere Grund, aus dem der
deutsch-französische Motor in den letzten Jahren nicht mehr so
erfolgreich war wie zuvor: nämlich
die wachsende Heterogenität der EU, insbesondere
in Folge der Osterweiterungen seit 2004. Durch
die Aufnahme der mittel-
und osteuropäischen Staaten von Polen bis Bulgarien sank das relative Gewicht Deutschlands und Frankreichs. 2004
stellten die beiden Länder zusammen noch über 35% der Bevölkerung
in den damals 15 Mitgliedstaaten; in der heutigen EU der 28 sind es
hingegen weniger als 30%.
Vor
allem aber veränderten sich auch die politischen Konfliktlinien, um die
die europäische Politik kreist. Und dabei ergibt es sich, dass
Deutschland und Frankreich immer häufiger von Anfang an im selben
Lager zu finden sind –
sodass eine gemeinsame Linie zwischen den beiden Ländern zwar
verhältnismäßig einfach zu finden ist, aber eben von einem
bedeutenden Teil der übrigen Länder nicht als Grundlage für einen
gesamteuropäischen Kompromiss anerkannt wird.
Der Versuch des „Weimarer Dreiecks“
So
sind Deutschland
und Frankreich beide Mitgliedstaaten
der Eurozone
und des Schengen-Raums und
deshalb in der Debatte
über die
verschiedenen
Integrationsgeschwindigkeiten
auf der Seite des „harten Kerns“ zu verorten. Haushaltspolitisch
gehören Deutschland und Frankreich beide zu den Nettozahlern.
Migrationspolitisch sind
beide Netto-Einwanderungsländer.
Asylpolitisch vertrat die
französische Regierung in
der Flüchtlingskrise zwar
eine teils
widersprüchliche Linie, ist aber weit davon entfernt, sich zum
Fürsprecher der Abschottungsfalken in Ungarn oder der Slowakei zu
machen. Im Streit um den
polnischen Rechtsstaat stehen
beide Regierungen ohnehin fest auf
der Seite der Europäischen Kommission. Und
abseits der Tagespolitik gehören Deutschland und Frankreich zu jenen
Ländern, in deren
Erinnerungskultur Nationalsozialismus
und Holocaust den wichtigsten negativen Bezugspunkt bilden –
und nicht, wie vielerorts in Mittel-
und Osteuropa, die
kommunistischen
Diktaturen bis 1989.
Um
diese Westeuropa-Lastigkeit des deutsch-französischen Duos
auszugleichen, versuchten die beiden Regierungen schon kurz nach dem
Ende des Kalten Krieges, auch Polen in ihre Zusammenarbeit
einzubinden. Bei einem Treffen im August 1991 wurde das „Weimarer
Dreieck“ gegründet, das in den folgenden Jahren zu einem
festen Gesprächsforum zwischen den drei Regierungen werden sollte.
Doch das Dreieck erreichte niemals auch nur ansatzweise den Grad an
Institutionalisierung, den die deutsch-französische Partnerschaft
durch den Élysée-Vertrag von 1963 besitzt. Und
seitdem Ende 2015 in Polen die nationalkonservative PiS (AKRE) die
Regierung übernahm, gab es nur noch ein einziges Treffen in diesem
Format.
Wie
geht es weiter?
Wie
also steht es um die Zukunft des deutsch-französischen Tandems
in Europa? Kann ein neuer
bilateraler Vertrag die
Probleme der letzten Jahre überwinden und der Partnerschaft neues
Leben einhauchen, oder
sind die europapolitischen Gegensätze zwischen den beiden Ländern zu groß geworden? Kann es ihnen gelingen, auch in einer
gesamteuropäischen Union mit 27 (oder mehr) Mitgliedstaaten wieder
als repräsentative Vorreiter anerkannt zu werden? Müssen
sie weitere Länder in ihre Partnerschaft einbeziehen – und wer
käme dafür in Frage? Sollten
die beiden Regierungen statt
auf eine enge bilaterale Kooperation ganz allgemein besser auf ein
flexibles
Netz wechselnder Allianzen setzen?
Und
ist die Vorstellung eines kleinen zwischenstaatlichen „Motors“
für die europäische Integration heutzutage überhaupt noch
zeitgemäß? Schon der
Élysée-Vertrag von 1963
entstand bekanntlich
aus einem
Versuch der französischen
Regierung unter Charles de Gaulle, die supranationale
Entwicklung der
Europäischen Gemeinschaften zu
hintertreiben. Seitdem
ist der Bedarf an überstaatlichen demokratischen Institutionen nur
größer geworden. Sollte
man deshalb für die
weitere Vertiefung der Europäischen Union nicht statt auf die
deutsche und französische Regierung viel
eher auf die Europäische
Kommission und das Europäische Parlament, die europäischen Parteien
und die gesamteuropäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen
blicken?
Um
diese Fragen soll es auf diesem Blog in den kommenden Wochen in einer
Serie von Gastbeiträgen gehen. Politikerinnen und Politiker sowie
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden darin beschreiben,
wie sie die Zukunft des deutsch-französischen Tandems in der EU
sehen. Den Anfang macht in Kürze Christophe Arend, Vorsitzender der
deutsch-französischen Freundschaftsgruppe in der Assemblée
Nationale.
Die Zukunft des „deutsch-französischen Motors“ in der EU
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F076604-0021 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons.
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