Der deutsch-französische Motor ermöglichte viele wichtige Durchbrüche in der Entwicklung der EU, doch in den letzten Jahren scheint er etwas an Zugkraft verloren zu haben. Kann ein neuer Élysée-Vertrag die Partnerschaft wiederbeleben? In einer Serie von Gastartikeln antworten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und
Wissenschaft hier auf die Frage, welche Rolle die deutsch-französische Zusammenarbeit in der EU künftig spielen kann. Heute: Stefan Seidendorf. (Zum Anfang der Serie.)
Im
Vergleich zu den Hochphasen des Integrationsprozesses in den
fünfziger und achtziger Jahren wurde in den vergangenen Jahren von
einer abnehmenden Bedeutung des „deutsch-französischen Motors“
gesprochen. Obwohl auf der Verwaltungsebene die vertraglich
vorgeschriebenen Kooperationsmechanismen weiter funktionieren, schien
es am politischen Gestaltungswillen des Paares im Hinblick auf eine
weitere Ausgestaltung und Vertiefung der EU zu fehlen.
Das
in den letzten Jahren wahrgenommene Stottern des Motors ergibt sich
dabei jedoch als Kombination mehrerer Faktoren. Auf der strukturellen
Ebene sind Situationen seltener, in denen ein deutsch-französischer
Konflikt gleichzeitig die gesamte EU politisch strukturiert (gerade
im Konflikt um die Ausgestaltung der Euro-Finanz- und Fiskalpolitik
gibt es diese Konstellation jedoch wieder). Und der langsam
fortschreitenden Politisierung europäischer Entscheidungen (auf
europäischer und v.a. nationaler Ebene) entspricht eine zunehmende
Zurückhaltung aller Spitzenpolitiker, zu Hause um Zustimmung zu
scheinbar unpopulären europäischen Lösungen zu kämpfen.
Zuletzt
fehlte Respekt für Differenz
So
waren die Regierenden beiderseits des Rheins sehr zögerlich, wenn es
darum ging, die wahrgenommenen Kosten für weitergehende europäische
Lösungen – im Sinne einer Selbstbindung des eigenen Landes im
Rahmen der EU – aufzubringen. Das mag einerseits an der
innenpolitischen Opposition gelegen haben (Marine Le Pen und Jean-Luc
Mélenchon in Frankreich, die AfD, die Eurogegner und
innerparteiliche Opposition in der CDU in Deutschland), andererseits
aber auch an einer Selbstüberschätzung der eigenen Rolle und
Möglichkeiten.
Gerade
in Deutschland kam dazu bisweilen noch eine von Schadenfreude nicht
freie Wahrnehmung Frankreichs als „krankem Mann“ Europas. Auf
französischer Seite entsprach dem eine neue Virulenz
deutschlandfeindlicher Haltungen und dem alten Stereotyp vom „ewigen
Deutschen“ mit seinem Streben nach Hegemonie und Dominanz. Hier
fehlte auf beiden Seiten die europäische Kardinaltugend des
„Respekts von Differenz“.
Deutschland
wäre so z.B. gut beraten zu akzeptieren, dass Frankreich andere
Akzente bei seinen Struktur- und Wirtschaftsreformen setzt als
Deutschland zu Beginn des Jahrtausends. Und Frankreich müsste bei
allen Schwierigkeiten Verständnis für die legitimen Entscheidungen
Deutschlands im Hinblick auf seine Finanz- und Fiskalpolitik
aufbringen. Beides sind demokratisch zustande gekommene politische
Entscheidungen, die es zu respektieren gilt.
„France
is back“
Mit
Emmanuel Macron erleben wir gerade, wie schnell sich diese Situation
ändern kann. Er setzt bisher sein angekündigtes, radikales
Reformprogramm entschlossen durch. Dabei profitiert er von den
bereits von Präsident François Hollande angestoßenen Neuerungen
und kann „in den Aufschwung hinein“ regieren. Seit mindestens
einem Jahrzehnt sahen alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Kennzahlen in Frankreich nicht mehr so positiv aus wie im Moment.
Dazu kommt ein politisches System, das seinen Präsidenten mit großer
Machtfülle ausstattet, und Macron weiß sich dieser Instrumente zu
bedienen.
Gerade
in Deutschland scheint mancher Beobachter überrascht davon, dass
Frankreich nicht nur „zurück“ ist („France
is back“),
sondern dass das Land immer noch über die Ressourcen verfügt, um
als europäische Führungsmacht aufzutreten und dabei sogar
Instrumente besitzt, die Deutschland fehlen. Das letztlich
entscheidende Element, um die Führungsrolle in Europa erneut
einzunehmen, bleibt dabei ein offensiv vorgetragener politischer
Wille dazu.
Macron
hat mit dem emotionalen Bekenntnis zu Europa und zur
deutsch-französischen Partnerschaft nicht nur die Wahl gewonnen. Er
versteht es auch, durch seine Umarmungsstrategie die Partner in
Berlin einzubinden oder zumindest dazu zu zwingen, Farbe zu bekennen
– wie halten wir es mit dem Bekenntnis zur europäischen Einigung
und zum deutsch-französischen Sonderverhältnis? Macrons Frankreich
strebt ja ausdrücklich keine
französische Hegemonie oder Dominanz in Europa an, sondern die
Entwicklung politischer Führung durch deutsch-französische
Kooperation. So vorgetragen, und umgesetzt, hat der
deutsch-französische Motor immer noch das Potential, den
europäischen Leviathan fortzubewegen.
Das
politische Berlin reagiert auf Macron
Die
Stichhaltigkeit dieses Arguments zeigt sich in den Reaktionen, die im
politischen Berlin zu beobachten sind. Macrons Kalkül ging zunächst
auf. Kein deutscher Politiker in Regierungsverantwortung konnte sich
dem französischen Appell an die Partnerschaft für Europa offen
entziehen. Der vorsichtigen Sympathie für Macrons Europarede an der
Sorbonne entspricht das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zwischen
CDU und SPD.
Das
Europakapitel enthält ein sehr weitgehendes Mandat, um gemeinsam mit
Präsident Macron die europäische Krise zu überwinden und die
Eurozone zu stabilisieren, ohne jedoch bereits rote Linien
festzulegen oder Macrons Vorschläge bedingungslos zu akzeptieren.
Und entsprechend finden sich nun auch die Kritiker einer
weitergehenden Integration, denen der Leerlauf des Motors ein
Jahrzehnt lang ermöglicht hatte, in Deckung zu bleiben – sie
reichen von einflussreichen Journalisten (etwa im Wirtschaftsteil der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung) über die Vertreter des bekannten
ordoliberalen Dogmas (etwa Ottmar Issing), die aus ihren
wirtschaftswissenschaftlichen Analysen etwas vorschnell ableiten,
dass eine politikwissenschaftliche Analyse zum gleichen Ergebnis
kommen müsste, bis in den Bundestag, in dem sich die Fronten nun
klären.
Die
FDP hatte in den Sondierungsgesprächen nicht nur ein wesentlich
zurückhaltenderes Europakapitel verhandelt, sie kritisiert nun auch
lautstark die Bundeskanzlerin für das mit der SPD hier erreichte
Verhandlungsergebnis. Sie verhehlt dabei kaum, dass es ihr ganz offen
darum geht, der AfD das Feld der Europakritik und -skepsis nicht
alleine zu überlassen und die entsprechenden Wähler für sich zu
gewinnen.
Eine
neue Zusammenarbeit der Parlamente
Drittens
zeigt sich aber, dass neben dem pflichtschuldigen Bekenntnis zum
Bündnis im Bündnis einerseits und der offenen Infragestellung der
Grundlagen deutscher Außenpolitik andererseits auch eine weitere
Position immer noch auf eine große, parteiübergreifende Zustimmung
setzen kann und dabei sogar politikfähig ist. Anlässlich des 55.
Jahrestags der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags (22. Januar 2018)
nutzten die beiden Parlamente die Gunst der Stunde angesichts einer
nur geschäftsführend tätigen Bundesregierung. Die Volksvertreter
einigten sich in einem überraschenden Akt deutsch-französischer und
parteienübergreifender Kooperation auf eine gemeinsame
Resolution,
die in vielen Punkten eine Weiterentwicklung und Fortschreibung des
etablierten deutsch-französischen Modells einer immer engeren
Kooperation darstellt, bei Wahrung und Respektierung der
Unterschiedlichkeiten.
Neben
erstaunlich weitreichenden Forderungen im Hinblick auf die Delegation
von Hoheitsrechten an die grenzüberschreitenden Körperschaften der
Eurodistrikte sowie einem expliziten Bekenntnis zur Bedeutung der
transnationalen Zivilgesellschaft, einhergehend mit ihrer Anerkennung
als politischem Akteur, ist es die verabredete engere Zusammenarbeit
der beiden Legislativorgane, die aufhorchen lässt.
In
der Tat kann argumentiert werden, dass die vertraglich fixierte
deutsch-französische Kooperation bisher eine „exekutive Unwucht“
hatte, dass sie fast ausschließlich die Kooperation der beiden
Regierungen und ihrer Apparate organisierte. Aus Verwaltungssicht
hatte dies u.a. den Vorteil, dass man sich auf weitgehende Beschlüsse
einigen konnte, auf deren Umsetzung jedoch teilweise verzichten
konnte, weil es keine parlamentarische Kontrollinstanz gab, die ihre
Existenz in Erinnerung gerufen hätte.
Gleichzeitige
Parlamentsdebatten, europäische Öffentlichkeit
Mit
der nun vereinbarten engeren Kooperation der Parlamente verändert
sich das Gleichgewicht. Vor allem die vorgesehene zeitgleiche Debatte
zur Umsetzung europäischer Richtlinien in nationale Gesetze bietet
einen Einstieg in die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit.
Wenn sich französische und deutsche Parlamentarier, und mit ihnen
Medien und Bürger, zeitgleich und öffentlich über ein europäisches
Thema beugen, dann gibt es hier die Möglichkeit, die
unterschiedlichen Standpunkte gegenseitig wahrzunehmen, sich der
Aspekte bewusst zu werden, die (zunächst für den Nachbarn)
problematisch sind oder besondere Beachtung verdienen, kurz, in einen
strukturierten Prozess der Entwicklung einer politischen
Öffentlichkeit in Europa – zunächst auf bilateraler Ebene –
einzutreten.
Würde
dieser Prozess auch auf der Ebene des Europäischen Parlaments
begleitet, so böte sich hier eine echte Chance, die
Parteienkooperation – zwischen Frankreich und Deutschland, und im
Europäischen Parlament – zu vertiefen und den Parteien, wie im
nationalen Rahmen, eine wichtige Rolle bei der Meinungsbildung und
Schaffung von Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Damit käme der
deutsch-französischen Kooperation einmal mehr eine Vorreiterrolle
bei einem Prozess zu, der derzeit die gesamte europäische Union
durchzieht. Die von Präsident Macron vorgeschlagenen transnationalen
Listen zur Europawahl wären dazu eine sinnvolle Ergänzung.
Jetzt
ist die Bundesregierung gefragt
Um
die skizzierte deutsch-französische Dynamik weiter zu befeuern und
ihr wieder zu einer konstruktiven Rolle in Europa zu verhelfen, muss
die neue Bundesregierung jetzt jedoch endlich die Arbeit aufnehmen.
Bringt sie auch öffentlich den politischen Willen auf, ähnlich
offensiv wie der französische Präsident und in Kooperation mit
diesem (was Konflikte eben nicht ausschließt) die Europäische Union
und in ihrem Kern die Eurozone weiterzuentwickeln, sind alle
Voraussetzungen für eine neue deutsch-französische Ära in Europa
vorhanden.
Die
konkreten Themen (Bankenunion, Einlagensicherung, „Investivhaushalt“,
gemeinsame Bemessungsgrundlage bei Unternehmensbesteuerung,
Finanztransaktionssteuer, europäische Regulierung des digitalen
Binnenmarkts, Asyl- und Einwanderungspolitik mit gemeinsamer
Grenzsicherung, Sicherheits- und Verteidigungskooperation …)
liegen auf dem Tisch. Zu den meisten dieser Themen gibt es bereits
konkret verhandelte und weit fortgeschrittene Vorschläge, die seit
Jahren auf den politischen Impuls zu ihrer Verwirklichung warten.
Dafür braucht es Politiker, die ihrer Verantwortung als
„europäisches Führungsduo“ gerecht werden, im Sinne der hier
skizzierten Grundlagen deutsch-französischer Kooperation in und für
Europa.
Die Zukunft des „deutsch-französischen Motors“ in der EU
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
1: Serienauftakt
2: Deutschland und Frankreich: Gemeinsam in die Zukunft ● Christophe Arend
3: Raus aus der Komfortzone: Deutschland und Frankreich in der Pflicht ● Claire Demesmay
4: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (1) ● Stefan Seidendorf
5: Frankreich, Deutschland und Europa: Über einige Konstanten deutscher Außenpolitik und ihre Bedeutung heute (2) ● Stefan Seidendorf
6: Europa neu denken: Wir brauchen einen deutsch-französischen Impuls für die europäische Erneuerung ● Sabine Thillaye
7: Die deutsch-französische Allianz ist nichts Unvergleichliches ● Christel Zunneberg [DE | EN]
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