- Kaum eine Maßnahme wäre für die Stärkung der europäischen Parteien so nützlich wie gesamteuropäische Listen.
Die Reform des Europawahlrechts ist ein besonders dickes Brett bei der Demokratisierung der Europäischen Union. Nach Art. 223 AEUV hat das Europäische Parlament das Recht, Entwürfe für eine solche Reform vorzulegen. In Kraft tritt sie jedoch nur, wenn ihr auch der Rat einstimmig zustimmt und dann die Parlamente aller Mitgliedstaaten sie ratifizieren – die rechtlichen Hürden sind also kaum niedriger als für eine Änderung der EU-Verträge selbst. Die letzte Wahlrechtsreform wurde 2015 vom Europäischen Parlament in Gang gesetzt und 2018 stark verwässert vom Rat angenommen, aber bis heute nicht von allen nationalen Parlamenten ratifiziert.
Für 2021 plant das Europäische Parlament nun einen neuen Anlauf. Ein zentrales Thema dieser neuen Reform wird auch der Vorschlag sein, einen Teil der Europaabgeordneten künftig über gesamteuropäische Listen wählen zu lassen. Bislang bestehen die Wahlen zum Europäischen Parlament bekanntlich aus 27 nationalen Teilwahlen: Jeder Mitgliedstaat besitzt ein eigenes festes Sitzkontingent, um das sich nur die jeweiligen nationalen Parteien bewerben. Auch die Kandidatenlisten werden deshalb von den nationalen Parteien aufgestellt, und wenig überraschend ist auch der Wahlkampf oft sehr national geprägt.
Für die gesamteuropäischen (im Brüsseler Jargon: „transnationalen“) Listen sollen die nationalen Sitzkontingente um ein gesamteuropäisches ergänzt werden. Nach einer gängigen Version des Vorschlags hätte jede Bürger:in bei der Europawahl zwei Stimmen: Die erste ginge wie bisher an die Liste einer nationalen Partei für das nationale Sitzkontingent. Mit der zweiten Stimme hingegen könnte man eine Liste wählen, die von einer der europäischen Parteien aufgestellt würde. Auf dem zweiten Wahlzettel stünden also nicht CDU, SPD und FDP, sondern EVP, SPE und ALDE. Die gesamteuropäischen Listen wären in jedem europäischen Mitgliedstaat identisch, und auch bei ihrer Auszählung hätte natürlich die Stimme jeder Unionsbürger:in dasselbe Gewicht.
EVP und Rechte blockieren bislang
Wie auf diesem Blog bereits verschiedentlich zu lesen war, halte ich selbst gesamteuropäische Listen für einen wichtigen Hebel zur Demokratisierung der EU – vielleicht den wichtigsten Hebel, der derzeit zur Verfügung steht.
Die Idee dazu wurde erstmals in den 1990er Jahren von der Europäischen Bewegung lanciert und seitdem wiederholt im Europäischen Parlament aufgegriffen. 2012 und 2018 gab es konkrete Vorstöße zu einer entsprechenden Reform. Allerdings fand der Vorschlag bislang noch nie eine Mehrheit: Während Liberale, Grüne und Sozialdemokrat:innen ihn mehrheitlich unterstützen, lehnten EVP und Rechte ihn mehrheitlich ab; die Linke war gespalten. Unter den nationalen Regierungen sprachen sich in den letzten Jahren insbesondere Frankreich, Italien und Spanien für gesamteuropäische Listen aus, während vor allem einige kleinere Mitgliedstaaten eher skeptisch sind.
Mit dem Rückenwind der Konferenz zur Zukunft Europas soll sich das nun ändern. Dieser Artikel bietet einen Überblick über die wichtigsten Argumente.
1. Starke Symbolik
Zunächst einmal haben gesamteuropäische Listen einen starken symbolischen Aspekt. Sie würden verdeutlichen, dass die Europäer:innen ein gemeinsames Wahlvolk bilden, nicht nur eine Summe nationaler Staatsvölker. Und auch die europäischen Spitzenkandidat:innen hätten damit nicht mehr nur eine informelle Position inne, sondern wären konkret in allen Mitgliedstaaten wählbar.
Diese Symbolik kann erklären, weshalb der Vorschlag seit so vielen Jahren so stark umkämpft ist: Seine erfolgreiche Umsetzung würde das gängige europaskeptische Argument widerlegen, dass echte Demokratie nur auf nationaler Ebene möglich sei.
2. Sichtbarkeit für die europäischen Parteien
Allerdings beschränkt sich der Nutzen gesamteuropäischer Listen nicht auf die symbolische Ebene. Darüber hinaus hätten sie auch eine Reihe konkreter Vorteile für die europäische parlamentarische Demokratie.
Einen wichtigen Hebel bieten sie insbesondere für die bessere Sichtbarkeit der europäischen Parteien, die derzeit einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Im Europawahlkampf stehen die nationalen Parteien im Mittelpunkt, und mit dem heutigen Wahlrecht haben diese wenig Anreize, ihre Zugehörigkeit zu europäischen Parteien erkennbar zu machen. Warum die Wähler:innen mit neuen Parteinamen und -logos irritieren, wenn diese bei der Wahl ohnehin keine Rolle spielen?
Veränderte Anreizstrukturen
Durch gesamteuropäische Listen würden die Namen der europäischen Parteien jedoch auf den Stimmzetteln selbst erscheinen. Damit ändert sich für die nationalen Parteien die Anreizstruktur: Im Wahlkampf nicht über die europäischen Parteien zu sprechen, wäre nun mit dem Risiko verbunden, dass die Verwirrung der Wähler:innen erst in der Wahlkabine einsetzt. Stattdessen wäre den nationalen Parteien nun daran gelegen, ihre Wähler:innen über die Bedeutung der europäischen Parteien aufzuklären und ihr eigene Rolle darin sichtbar zu machen.
Und das wiederum könnte sich auch abseits der Wahlen auf die öffentliche Wahrnehmung der europäischen Parteien auswirken. Deren Nachrichtenwert ist derzeit nicht zuletzt deshalb gering, weil die Medien bei ihrem Publikum kaum Vorwissen über sie annehmen können. Mit steigendem Bekanntheitsgrad würde es für die Medien hingegen interessanter, auch bei anderen Gelegenheiten über die europäischen Parteien zu berichten – etwa Parteikongressen. Die transnationalen Listen könnten so zum Katalysator werden, um in der europapolitischen Öffentlichkeit allgemein europäisch-innenpolitische gegenüber mitgliedstaatlich-außenpolitischen Perspektiven zu stärken.
3. Strukturelle Loyalität zu den europäischen Parteien
Gesamteuropäische Listen würden sich aber nicht nur auf die öffentliche Wahrnehmung der europäischen Parteien auswirken, sondern auch auf deren interne Dynamiken. Wahlverfahren schaffen grundsätzlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Abgeordneten und ihren Parteien: Um als Abgeordnete:r (wieder)gewählt zu werden, ist es nötig, die Unterstützung des Parteigremiums zu gewinnen, das die Wahllisten aufstellt. Daraus entsteht eine strukturelle Loyalität der Abgeordneten zu ihren Parteien. Innerhalb der eigenen Partei Netzwerke zu knüpfen und Überzeugungsarbeit zu leisten, ist ein wichtiger Bestandteil der Abgeordnetenarbeit – und ein Motor für die Herausbildung der politischen Positionen einer Partei.
Im heutigen Wahlsystem sind Europaabgeordnete für ihre (Wieder-)Wahl jedoch nur von ihren nationalen Parteien abhängig. Damit fehlt Europapolitiker:innen ein wichtiger struktureller Anreiz, sich überstaatlich parteipolitisch zu engagieren. Machtstrategisch zahlt es sich für sie eher aus, Zeit in die nationale Parteiarbeit zu investieren als in transnationale Netzwerke. In der Folge ist das Parteileben auf europäischer Ebene insgesamt weniger intensiv, parteiinterne Debatten bleiben oberflächlicher und es kommt zu weniger gemeinsamen Meinungsbildungsprozessen.
Stärkung transnationaler Parteinetzwerke
Gesamteuropäische Listen würden auch hier die Anreizstrukturen verändern: Kandidat:innen, die darauf antreten wollen, könnten sich nicht allein auf die Unterstützung ihrer nationalen Partei verlassen, sondern müssten europaweit um Zustimmung werben. Sie müssten stärker als bisher das Gespräch mit Parteifreund:innen aus anderen europäischen Ländern suchen und deren Interessen und Sichtweisen in ihrem Reden und Handeln miteinbeziehen.
Aus dieser engeren Verflechtung entstünden dichtere gemeinsame Diskurse und letztlich auch eine schärfere gemeinsame Programmatik. Wie kaum eine andere Maßnahme haben gesamteuropäische Listen damit das Potenzial, europaweite Parteienidentitäten zu stärken und dazu beizutragen, dass die europäischen Parteien von relativ losen Dachverbänden zu echten politischen Einheiten zusammenwachsen.
4. Transparenz über Parteizugehörigkeiten
Und noch in anderer Weise würden gesamteuropäische Listen das europäische Parteiensystem stärken. Heute kommt es häufig vor, dass neu gegründete nationale Parteien ihre Fraktionsmitgliedschaft im Europäischen Parlament bis nach der Europawahl offen halten und dass sie nach der Europawahl nur einer Fraktion, nicht aber der dazugehörigen europäischen Partei beitreten. Der lange und bis heute andauernde Tanz zwischen der französischen Regierungspartei LREM und der europäischen liberalen Partei ALDE ist ein prominentes Beispiel dafür.
Gesamteuropäische Listen schaffen einen Anreiz für die nationalen Parteien, rechtzeitig vor der Europawahl die Mitgliedschaft in einer europäischen Partei zu beantragen, um bei deren Listenaufstellung berücksichtigt zu werden. Das würde nicht nur das europäische Parteiensystem stabilisieren, sondern auch dessen Transparenz für die Wähler:innen erhöhen.
5. Mehr Wahlgleichheit
Einen unmittelbaren Effekt hätten gesamteuropäische Listen zudem für die demokratische Gleichheit der Europawahl, die im heutigen System nur begrenzt gegeben ist. Nach dem Prinzip „one person, one vote“ hat zwar schon jetzt jede Wähler:in genau eine Stimme. Allerdings sind die nationalen Sitzkontingente degressiv proportional zur Größe der Mitgliedstaaten – größere Staaten haben weniger Sitze pro Einwohner:in als kleinere Staaten. Dadurch haben Stimmen, die in größeren Staaten abgegeben werden, einen geringeren Erfolgswert als Stimmen in kleineren Staaten.
Das ist nicht nur an sich ein Problem für die formale Legitimität des Europäischen Parlaments, sondern auch ein konkretes rechtliches Hindernis für weitere demokratische Fortschritte. So hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil von 2009 (Abs. 279ff.) recht explizit festgehalten, dass wegen der degressiven Proportionalität eine volle parlamentarische Demokratie auf EU-Ebene („insbesondere die Bildung einer eigenständigen und mit den in Staaten üblichen Machtbefugnissen ausgestatteten Regierung aus dem [Europäischen] Parlament heraus“) nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Wer hier vorankommen will, muss also Lösungen für das Problem der degressiven Proportionalität finden.
Möglichkeit eines europaweiten Verhältnisausgleichs
Mit gesamteuropäischen Listen würde das Prinzip, dass jede Stimme dasselbe Gewicht hat, erstmals auch staatenübergreifend angewandt. Dies wäre schon für sich allein ein Gewinn für die europäische Wahlgleichheit. Noch größer wäre der Nutzen der gesamteuropäischen Listen, wenn man die darüber besetzten Sitze nicht unabhängig von den nationalen Sitzkontingenten besetzt, sondern für einen europäischen Verhältnisausgleich nutzt – das heißt, wenn man die gesamteuropäischen Sitze so verteilt, dass unter Berücksichtigung der schon über die nationalen Sitzkontingente gewonnenen Mandate der Sitzanteil der europäischen Parteien im Europäischen Parlament dem europaweiten Stimmenanteil für ihre jeweiligen gesamteuropäischen Listen entspricht. (Wie das genau funktionieren könnte, habe ich hier ausführlicher dargestellt.)
Gesamteuropäische Listen könnten damit das europäische Wahlgleichheitsdilemma lösen: Die nationalen Sitzkontingente wären zwar weiterhin degressiv-proportional, sodass auch die kleinen Staaten mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten blieben. Auf die Gesamtverteilung der Sitze zwischen den Fraktionen hätte jedoch europaweit jede Wähler:in denselben Einfluss.
Und was spricht gegen gesamteuropäische Listen?
Gesamteuropäische Listen würden also in mehrerer Hinsicht dazu beitragen, das europäische Parteiensystem und die parlamentarische Demokratie auf EU-Ebene zu stärken. Gleichzeitig finden sich in der politischen Debatte dazu natürlich auch Gegenargumente, von denen die wichtigsten hier skizziert werden sollen.
1. Kein Vorbild in nationalen Föderalsystemen?
Häufig wird gegen gesamteuropäische Listen angeführt, dass diese keine Vorbilder in anderen Föderalsystemen hätten und deshalb auch in der EU unnötig seien. So gebe es zum Beispiel auch in Deutschland starke nationale Parteien, obwohl die Bundestagswahl nach regionalen Listen erfolgt. Dies zeige, dass gesamteuropäische Listen unnötig seien.
Blickt man genauer hin, ist dieses Argument allerdings nicht ganz richtig: Das Modell eines Nebeneinander von regionalen und nationalen Wahllisten gibt es sowohl in Österreich als auch im bis 2001 gültigen polnischen Wahlrecht. (In beiden Fällen haben Wähler:innen allerdings nur eine einzelne Stimme, mit der sie sowohl die regionale als auch die nationale Parteiliste wählen.)
Der Vergleich mit Deutschland hinkt
Vor allem aber hinkt der Vergleich mit Deutschland, da hier auch die Öffentlichkeit national ist. Da sich die wichtigsten deutschen Leitmedien alle an ein nationales Publikum richten, dominieren auch in der Berichterstattung über die Parteien nationale, nicht regionale Spitzenpolitiker:innen. Ein von nationalen Diskursen weitgehend losgekoppelter regionaler Bundestagswahlkampf ist deshalb in Deutschland praktisch nicht möglich; die nationale Öffentlichkeit wirkt als Klammer, die den Wahlkampf auch ohne nationale Wahllisten zusammenhält.
In der EU hingegen gibt es kein gemeinsames europäisches Mediensystem, das diese Funktion übernehmen könnte – sodass es umso wichtiger wird, die europäischen Parteien auf institutionellem Weg zu stärken. Und auch das zuweilen vorgebrachte Argument, anstelle von gesamteuropäischen Listen gebe es andere Wege zur Stärkung der Parteien, ist nicht überzeugend. So wichtig etwa eine bessere finanzielle Ausstattung der europäischen Parteien wäre, würde sie die Anreizstrukturen der nationalen Parteien und Politiker:innen sehr viel weniger verändern als gesamteuropäische Listen und hätte deshalb auch deutlich weniger Durchschlagskraft.
2. Bürgerferne?
Ein zweites Argument gegen gesamteuropäische Listen lautet, dass diese „bürgerferner“ seien als nationale oder gar regionale Listen: Die in einem gesamteuropäischen Wahlkreis gewählten Abgeordneten wären nirgendwo „vor Ort“ verankert und hätten kaum Kontakt mit einzelnen Wähler:innen.
Hinter diesem Einwand steckt allerdings ein allgemein zweifelhaftes Konzept von „Bürgernähe“, das wiederum die Rolle der Medien unterschätzt. Die persönliche Verbindung zur „eigenen“ Abgeordnete:n spielt bei der Meinungsbildung schon heute nur noch für wenige Bürger:innen eine wichtige Rolle. Damit sich die europäischen Bürger:innen mit den Parteien im Europäischen Parlament vertraut fühlen, ist es vielmehr wichtig, dass deren Spitzenpolitiker:innen medial sichtbar sind – was durch gesamteuropäische Listen eher ermöglicht wird als durch das heutige Wahlsystem.
3. Fehlende interne Meinungsbildungsprozesse?
Ein drittes Gegenargument zielt darauf ab, dass die europäischen Parteien in ihrer heutigen Struktur nicht geeignet seien, einen sinnvollen Listenaufstellungsprozess zu gewährleisten. Zum einen seien sie intern zu heterogen und zu wenig transnational verflochten, zum anderen sei die Parteibasis an ihren Tätigkeiten oft zu uninteressiert, sodass Entscheidungen oft von wenigen Einzelpersonen durchgedrückt würden. Insgesamt seien die internen Meinungsbildungsprozesse der europäischen Parteien nicht demokratisch genug, um ihnen nicht die Aufstellung von Wahllisten zu überlassen.
Dieses Argument stellt freilich nur ein Henne-Ei-Problem dar: Dass die europäischen Parteien intern nicht besser verflochten sind und von der Basis nicht besser kontrolliert werden, liegt insbesondere daran, dass sie bislang politisch eher unbedeutend sind. Das Recht zur Aufstellung europäischer Wahllisten würde ihre Rolle aufwerten – und könnte dadurch, siehe oben, genau die jene demokratischen Meinungsbildungsprozesse in Gang setzen, die von den Kritiker:innen gefordert werden.
Richtig ist allerdings, dass bei der Ausgestaltung gesamteuropäischer Listen die Frage, wer genau das Recht zur Kandidatenaufstellung hat, eine wichtige Rolle spielen muss. Um das europäische Parteiensystem zu stärken und Mindeststandards bei den Nominierungsverfahren zu sichern, sollte dieses Recht möglichst nur institutionalisierten transnationalen Parteien zustehen. Andererseits ist die Anerkennung als europäische Partei derzeit sehr voraussetzungsreich – so sind etwa die Europäische Piratenpartei oder Volt Europa bis heute nicht als europäische Partei anerkannt. Sinnvollerweise müsste die Einführung gesamteuropäischer Listen deshalb auch mit einer Reform des europäischen Parteienstatuts einhergehen, die die Anerkennung von Parteien erleichtert.
4. Schwächung der kleineren Staaten?
In der Praxis dürfte das wichtigste Gegenargument gegen gesamteuropäische Listen allerdings sein, dass die damit verbundene Stärkung der europäischen Wahlgleichheit die Balance zwischen den großen und den kleinen EU-Mitgliedstaaten verändern würde. Da die meisten EU-Bürger:innen in den größeren Mitgliedstaaten leben, wird erwartet, dass die europäischen Parteien auch die aussichtsreichsten Sitze auf den gesamteuropäischen Listen vor allem an Kandidat:innen aus größeren Ländern vergeben würden. Selbst wenn die nationalen Sitzkontingente im Parlament unverändert blieben, würden von gesamteuropäischen Listen deshalb vor allem Politiker:innen aus großen Ländern profitieren.
Dieses Argument ist normativ nicht allzu überzeugend – schließlich ist die derzeitige Balance zwischen großen und kleinen Ländern im Europäischen Parlament gerade das Ergebnis fehlender Wahlgleichheit. Die kleineren Länder verteidigen hier also Privilegien, die aus demokratischer Sicht schwer zu rechtfertigen sind. Andererseits besitzt jeder EU-Staat bei der Wahlrechtsreform ein Vetorecht. Die Befürworter:innen gesamteuropäischer Listen kommen also nicht umhin, hier auf die kleineren Staaten zuzugehen.
Bereits jetzt gibt es deshalb verschiedene Modelle, um die nationale Diversität auf den europäischen Listen zu garantieren: etwa dass die ersten sieben Plätze an Kandidat:innen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit gehen müssen oder dass keine zwei aufeinanderfolgenden Listenplätze von Kandidat:innen derselben Staatsangehörigkeit besetzt werden dürfen. Eine andere Option bestünde darin, zeitgleich mit der Einführung gesamteuropäischer Listen die nationalen Sitzkontingente der großen Staaten zu verringern. Mit ausreichend politischem Willen gäbe es also verschiedene Möglichkeiten, hier eine Lösung zu finden.
Einer der wichtigsten Hebel zur Demokratisierung der EU
Die Diskussion über gesamteuropäische Listen, so viel dürfte sicher sein, wird in den nächsten Monaten wieder an Schwung gewinnen. Auf der digitalen Plattform der Konferenz zur Zukunft Europa gehören sie zu den populärsten Vorschlägen zur Demokratisierung der EU – mit gutem Grund, denn sie wären wie kaum eine andere Maßnahme geeignet, nicht nur die formale Legitimität der EU zu erhöhen, sondern auch konkret die europäischen Parteien zu stärken und transnationale Meinungsbildungsprozesse in Gang zu setzen.
Wer auf dem Weg zu einer europäischen parlamentarischen Demokratie vorankommen will, wird wenig Ansatzpunkte finden, mit denen sich eine vergleichbare Hebelwirkung erzielen lässt.
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