19 Juni 2020

Gesamteuropäische Listen – aber wie? Einige Ausgestaltungsoptionen und ihre Vor- und Nachteile

Europawahl-Stimmzettel
Transnationale Listen zur Europawahl sind wünschenswert. Aber wie genau sollen sie ausgestaltet sein?
Die öffentliche Debatte über gesamteuropäische (oder, im Brüsseler Jargon: „transnationale“) Europawahllisten ist im letzten Jahr etwas leiser geworden. Nach der Ablehnung durch eine Mehrheit im Europäischen Parlament Anfang 2018 verschwand der Vorschlag zunächst von der unmittelbaren Agenda. Allerdings dürfte damit noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Die meisten europafreundlichen Parteien im Parlament – Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – sind recht klar für gesamteuropäische Listen, und auch die bisher skeptische Europäische Volkspartei könnte ihre Position anpassen, um damit das Spitzenkandidaten-Verfahren zu retten.

Zugleich wächst auch im Rat die Zustimmung für transnationale Listen: Nachdem der Vorschlag zunächst vor allem von Frankreich, Italien und Spanien getragen wurde, erklärte im Juni 2018 auch die deutsche Bundesregierung ihre Unterstützung dafür. Und auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) sprach sich in ihren politischen Leitlinien 2019 für eine solche Wahlrechtsreform aus. Die Chancen stehen also gut, dass gesamteuropäische Listen noch vor der nächsten Europawahl wieder auf die politische Agenda zurückkehren – sei es im Rahmen der Konferenz über die Zukunft Europas oder, falls diese sich weiter verzögert, in einem davon getrennten Verfahren.

Wie genau sähen gesamteuropäische Listen aus?

Warum ich selbst sehr für europäische Listen bin, habe ich an anderer Stelle mehrfach beschrieben, etwa hier, hier und hier (S. 15). Europäische Listen würden die strukturelle Loyalität der Abgeordneten zur europäischen (statt zur nationalen) Partei erhöhen und den europäischen Parteien mehr öffentliche Sichtbarkeit geben. Beides würde transnationale Meinungsbildungsprozesse befördern und helfen, nationale Gegensätze zu überwinden. Durch die bessere Vertrautheit der Wähler mit den zentralen Figuren im Europäischen Parlament würde zudem die Europapolitik bürgernäher. Und schließlich könnten gesamteuropäische Listen helfen, die derzeit noch fehlende transnationale Wahlgleichheit herzustellen.

Wie aber würden europäische Listen genau aussehen? Das Grundprinzip ist klar: Die europäischen Parteien stellen vor der Europawahl gesamteuropäische Listen auf, die dann in der ganzen EU wählbar sind – wobei jede Wählerstimme, egal aus welchem Land, gleich viel zählt. Im Einzelnen aber gibt es für diesen Ansatz eine Vielzahl von Ausgestaltungsmöglichkeiten und Modellen. Dieser Artikel soll eine Übersicht über die wichtigsten Optionen und ihre wesentlichen Vor- und Nachteile geben.

1. Wie viele Sitze?

Die erste, offensichtlichste Frage ist natürlich, wie viele Sitze über die gesamteuropäischen Listen verteilt werden sollten. Die Vorschläge hierzu variieren massiv:
Die Zahl der gesamteuropäischen Sitze beeinflusst die Stärke ihrer Wirkung. Ist die Zahl sehr niedrig, wäre der Effekt nur eher symbolischer Art: Bei 25 Sitzen etwa würden selbst die größten europäischen Parteien wie die konservative EVP und die sozialdemokratische SPE nur vier bis fünf Mandate über die gesamteuropäische Liste erhalten. Für die grüne EGP oder die linke EL wären es sogar nur ein bis zwei. Die Listenaufstellung wäre für diese Parteien damit kaum mehr als eine formalisierte Version der jetzigen Nominierung europäischer Spitzenkandidaten.

Auch mit langen Listen ist die Zahl sicherer Sitze überschaubar

Umgekehrt würde eine sehr große Zahl an gesamteuropäischen Sitzen zu langen Listen führen – mit vielen Kandidaten, die auch bei einem unterdurchschnittlichen Wahlergebnis ihrer Partei noch ins Parlament einziehen, zugleich aber so weit von der Spitze entfernt sind, dass sie nur wenig Medienaufmerksamkeit erhalten. Solche sicheren Sitze schwächen die politische Verantwortung, sodass man lange Wahllisten üblicherweise zu vermeiden sucht.

Ganz ohne Beispiel sind sie aber nicht: Auch das nationale deutsche Sitzkontingent bei der Europawahl umfasst derzeit immerhin 96 Sitze, die großteils über Bundeslisten vergeben werden. Hinzu kommt, dass das europäische Parteiensystem recht fragmentiert ist: Bei 100 gesamteuropäischen Sitzen entfielen deshalb selbst auf die EVP als größte Partei nur rund 20 Mandate. Mehrere nationale Parteiendelegationen im Europäischen Parlament haben mehr sichere Sitze zu vergeben.

2. Vorzugsstimmen: Offene oder geschlossene Listen?

Eine zweite Grundsatzfrage ist die Entscheidung zwischen offenen und geschlossenen (bzw. „starren“) Listen. In vielen Ländern besteht die Möglichkeit, nicht nur die Liste einer Partei anzukreuzen, sondern auch einzelnen Kandidaten sogenannte Vorzugsstimmen zu geben. Ins Parlament ziehen dann nicht unbedingt die Kandidaten an der Spitze der Liste ein, sondern diejenigen mit den meisten Vorzugsstimmen. Durch ein solches System offener Listen verschiebt sich politischer Einfluss von den Parteien auf die Wähler, die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste verliert an Bedeutung und das Problem der sicheren Sitze wird reduziert. Unter anderem in Italien hat das nationale Verfassungsgericht deshalb Vorzugsstimmen bei nationalen Wahlen für verbindlich erklärt, sobald Wahllisten mehr als nur eine Handvoll Kandidaten umfassen.

Speziell für gesamteuropäische Listen gibt es allerdings auch gute Gründe, die gegen offene Listen sprechen. Zunächst einmal ist das Kernproblem hier ja gerade nicht der übermäßige Einfluss der europäischen Parteien auf die Kandidatenauswahl. Ganz im Gegenteil sollen gesamteuropäische Listen dazu dienen, die Relevanz der europäischen Parteien zu stärken, indem die nationalen Mitgliedsparteien dazu gezwungen werden, sich in transnationalen Verhandlungen auf eine gemeinsame Liste zu einigen. Durch Vorzugsstimmen würden diese Listenverhandlungen an Bedeutung verlieren: Nationale Parteien müssten nur noch versuchen, ihre eigenen Kandidaten irgendwo auf der Liste unterzubringen, und sich dann auf einen Vorzugsstimmenwahlkampf konzentrieren.

Vorzugsstimmen wären für kleinere Staaten zum Nachteil

Hinzu kommt die nationale Fragmentierung der europäischen Öffentlichkeit und damit das Risiko, dass Wähler Vorzugsstimmen vor allem an Kandidaten aus ihrem eigenen Land geben, einfach weil diese ihnen vertrauter sind. Kandidaten aus kleineren Mitgliedstaaten hätten dadurch einen strukturellen Nachteil. Einige von ihnen würden das womöglich zu kompensieren versuchen, indem sie außer in ihrem eigenen Herkunftsland auch in großen Ländern einen Vorzugsstimmenwahlkampf betreiben – ähnlich wie schon die Spitzenkandidaten bei den letzten Europawahlen neben den europaweiten englischsprachigen Fernsehdebatten noch spezielle TV-Duelle eigens für den deutschsprachiger Raum durchführten.

Eine solche Entwicklung könnte einerseits dem Wahlkampf in den großen Mitgliedstaaten einen stärker transnationalen Charakter geben. Für die kleineren Mitgliedstaaten, die europäischen Listen ohnehin oft skeptischer gegenüberstehen, wäre es aber ein zusätzlicher Nachteil. Alles in allem scheinen mir deshalb die Nachteile von Vorzugsstimmen für gesamteuropäische Listen (noch) zu überwiegen. Eine Öffnung der Listen sollte allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, wenn die europäische Öffentlichkeit noch stärker ausgeprägt ist und es für Wähler nichts Ungewöhnliches mehr ist, ihr Kreuzchen auch an Kandidaten mit anderer nationaler Herkunft zu geben.

3. Vorschlagsrecht: Wer darf Listen aufstellen?

Eine weiter Entscheidung bei der Ausgestaltung gesamteuropäischer Listen betrifft das Vorschlagsrecht. Die Grundidee besteht natürlich darin, dass die europäischen Parteien die Listen vorschlagen sollen. Allerdings sind die Kriterien für eine Anerkennung als europäische Partei derzeit sehr restriktiv. Die Europäische Piratenpartei, das Tierschutzbündnis APEU oder Volt Europa, allesamt eher kleine, aber recht stabile transnationale Organisationen mit klarer politischer Ausrichtung, genießen derzeit nicht diesen Status.

Um die Europawahl nicht schon im Voraus unnötig restriktiv zu gestalten, spricht vieles dafür, das Aufstellungsrecht breiter zu fassen. Kriterien könnten etwa eine bestimmte Anzahl an Unterstützungsunterschriften oder an Kandidaten aus unterschiedlichen Ländern sein; im Duff-Bericht von 2012 wurden „Kandidaten aus mindestens einem Drittel der Staaten“ gefordert.

Das Recht zur Listenaufstellung so breit zu fassen, erhöht zwar das Risiko reiner Zweckallianzen ohne gemeinsame weltanschauliche Basis, bei denen dann jede nationale Mitgliedspartei jeweils im eigenen Land Wahlkampf betreibt. Immerhin müssten sich aber auch solche Zweckallianzen immer noch über eine gemeinsame Liste einigen – und im Wahlkampf gegenüber der jeweiligen nationalen Öffentlichkeit verantworten, warum sie sich ausgerechnet diese Partner entschieden haben.

4. Wahlmechanismus: Eine oder zwei Stimmen?

Ausgestaltbar ist auch der Wahlmechanismus selbst. Nach dem Modell des Duff-Berichts hätte jeder Wähler künftig zwei Stimmen: Mit einer würde er wie bisher eine nationale Liste wählen, mit der zweiten eine gesamteuropäische Liste. Beide Stimmen würden unabhängig voneinander vergeben. Insbesondere in Deutschland ist das ein vertrautes Modell: Auch bei der Bundestagswahl hat jeder Wähler schließlich eine Erst- und eine Zweitstimme, die nicht unbedingt an dieselbe Partei gehen müssen.

Ein Blick in andere Länder zeigt allerdings, dass das nicht das einzige mögliche Modell ist. Bei der österreichischen Nationalratswahl etwa stellt jede Partei Listen für drei unterschiedliche Ebenen auf. Dennoch hat jeder Wähler nur eine Stimme: Er muss also für Regional-, Landes- und Bundesebene jeweils dieselbe Partei wählen, ohne durch Stimmensplitting differenzieren zu können.

In Bezug auf gesamteuropäische Listen hat die Entscheidung zwischen Ein- oder Zwei-Stimmen-Modell besondere Bedeutung, da die nationalen und europäischen Parteien nicht dieselben Namen tragen. Vor diesem Hintergrund würde ein Ein-Stimmen-Modell den Zusammenhang zwischen nationaler und europäischer Ebene stärker verdeutlichen: Jeder Wähler könnte auf dem Wahlzettel sehen, dass er beispielsweise mit der CDU automatisch auch die EVP wählt, mit der FDP auch die ALDE.

Zwei-Stimmen-Modell zwingt Parteien zu Überzeugungsarbeit

Das bedeutet allerdings auch, dass Wähler weniger Anreiz haben, sich mit den „neuen“ europäischen Listen auseinanderzusetzen – und die nationalen Parteien weniger Anreiz, die europäischen Listen im Wahlkampf sichtbar zu machen. Wenn die europäische Liste einfach „mitgewählt“ wird, könnten Parteien sich weiterhin auf einen rein nationalen Wahlkampf beschränken. Bei zwei getrennte Stimmen müssten die Parteien hingegen mehr Überzeugungsarbeit leisten, um ihre Wähler dazu zu bringen, ihr Kreuz eben nicht nur bei der CDU, sondern auch bei der EVP zu setzen.

Hinzu kommt, dass die politische Linie der nationalen und der europäischen Parteien nicht immer genau übereinstimmt. So steht etwa die EVP im Durchschnitt etwas weiter rechts als die CDU, die ALDE etwas weiter links als die FDP. Besonders für gut informierte Wähler kann deshalb ein Stimmensplitting zwischen nationaler und europäischer Liste durchaus attraktiv sein. Ein Ein-Stimmen-Modell nimmt ihnen diese Möglichkeit.

Insgesamt spricht deshalb wohl etwas mehr für ein Zwei-Stimmen-Modell – jedenfalls sofern nationale und europäische Listen als getrennte Kontingente behandelt werden

5. Sitzzuteilung: separates Kontingent oder Verhältnisausgleich?

Das derzeitige Europawahlsystem unterteilt die EU in 27 nationale Wahlkreise mit jeweils eigenen, voneinander getrennten Sitzkontingenten mit fester Größe. Im Duff-Bericht war vorgesehen, zusätzlich dazu ein weiteres Sitzkontingent für die gesamteuropäischen Listen zu schaffen – ebenfalls mit fester Größe und getrennt von den übrigen, nationalen Kontingenten. Demnach würde also die Verteilung der Stimmen für die nationalen Listen über die Zusammensetzung der jeweiligen nationalen Sitzkontingente entscheiden, die Verteilung der Stimmen für die gesamteuropäischen Listen über die Zusammensetzung des gesamteuropäischen Kontingents.

Dieses Modell eines separaten Sitzkontingents wäre recht einfach umzusetzen, würde jedoch ein demokratisches Potenzial der gesamteuropäischen Listen verschenken – nämlich die Möglichkeit zu einem gesamteuropäischen Verhältnisausgleich. Um den Sinn dieses Vorschlags zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich das Problem der fehlenden transnationalen Wahlgleichheit bei der Europawahl zu vergegenwärtigen: Aufgrund der degressiven Proportionalität der nationalen Sitzkontingente entspricht der Sitzanteil der europäischen Fraktionen heute insgesamt nicht unbedingt der gesamteuropäischen Stimmverteilung.

Fraktionen, die vor allem in kleinen Mitgliedstaaten (und in Mitgliedstaaten mit geringer Wahlbeteiligung) stark sind, benötigen weniger Stimmen für dieselbe Sitzzahl als Fraktionen, die besonders in größeren Mitgliedstaaten (und Mitgliedstaaten mit hoher Wahlbeteiligung) gewählt werden. Wähler in kleinen Mitgliedstaaten haben also größeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments als Wähler in größeren Mitgliedstaaten. Diese fehlende Wahlgleichheit ist ein demokratisches Problem, das EU-Gegnern besonders in größeren Mitgliedstaaten Anlass zur öffentlichen Diskreditierung des Parlaments bietet. Nach dem Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (Rn. 284ff.) ist sie zudem ein verfassungsrechtliches Hindernis, das einer weiteren Stärkung des Parlaments entgegensteht.

Verhältnisausgleich schafft für Fraktionen europaweite Wahlgleichheit

Gesamteuropäische Listen könnten helfen, dieses Problem über einen gesamteuropäischen Verhältnisausgleich zu lösen. Statt das gesamteuropäische Sitzkontingent von den nationalen Kontingenten getrennt zu behandeln, würden nach diesem Modell jeder gesamteuropäischen Liste so viele Sitze zugeteilt, dass zuletzt die Gesamtsitzzahl jeder Fraktion (einschließlich der Sitze aus den nationalen Kontingenten) dem Verhältnis der Stimmen entspricht, die diese Fraktion europaweit über die transnationale Liste erhalten hat.

Mit diesem Modell bliebe es also bei einer degressiv-proportionalen Repräsentation der Mitgliedstaaten im Parlament, die vor allem für die Akzeptanz in den kleineren Mitgliedstaaten notwendig ist. Auf die Stärke der Fraktionen aber hätte jeder Wähler europaweit den gleichen Einfluss. Auch hierfür können die österreichischen Nationalratswahlen als Beispiel dienen, wo ebenfalls die Bundesliste für einen bundesweiten Verhältnisausgleich genutzt wird.

Voraussetzungen für ein Modell mit Verhältnisausgleich

Ein solches Modell mit Verhältnisausgleich hätte also wesentliche Vorteile. Allerdings geht es auch mit einigen Voraussetzungen einher, die bei der Ausgestaltung berücksichtigt werden müssten. Zum einen ist ein vollständiger Verhältnisausgleich nur möglich, wenn auch ein nennenswerter Anteil der Sitze über die europäische Liste vergeben wird – andernfalls ist die Gefahr zu groß, dass eine Fraktion bereits über die nationalen Sitzkontingente mehr Mandate erzielt, als ihr nach ihrem europaweiten Stimmenanteil zustehen. In Österreich etwa sind derzeit rund ein Sechstel der Nationalratsabgeordneten über die Bundesliste gewählt. Für die EU wäre vermutlich ein ähnlicher Anteil erforderlich, was auf immerhin 125 gesamteuropäische Sitze hinausliefe.

Zum anderen ist muss für den Verhältnisausgleich von vornherein feststehen, welche nationalen Parteien mit welcher europäischen Liste verrechnet werden. Es müsste also schon vor der Wahl eine eindeutig Zuordnung zwischen nationalen und europäischen Parteien möglich sein. Am einfachsten ist das – wie in Österreich – über ein Ein-Stimmen-Modell zu erreichen, bei dem die nationale und die europäische Partei schon auf dem Wahlzettel miteinander verbunden sind.

Option europaweite Sperrklausel

Will man ein Ein-Stimmen-Modell vermeiden, wäre als Alternative ein Modell denkbar, bei dem die nationalen Parteien vor der Wahl eine offizielle Zuordnungserklärung abgeben. Allerdings böte das Wahlsystem selbst den Parteien wenig Anreiz, sich auf diese Weise zu einer europäischen Partei zu bekennen – schließlich würde die europäische Liste desto mehr Sitze aus dem Verhältnisausgleich erhalten, je weniger Sitze aus nationalen Kontingenten auf sie angerechnet werden.

Es müsste deshalb ein zusätzlicher Anreiz für nationale Parteien geschaffen werden, sich schon vor der Wahl zu ihrer europäischen Partei zu bekennen. Eine Lösung hierfür könnte eine gesamteuropäische Sperrklausel sein, durch die Parteien – auch für die nationalen Sitzkontingente – nur dann berücksichtigt werden, wenn ihre europäische Partei mindestens 3 Prozent der europaweiten Stimmen erreicht. Ein solches Modell würde nationale Parteien ohne europäische Liste faktisch von der Europawahl ausschließen (und wäre deshalb nur legitim, wenn das Recht zur Aufstellung einer europäischen Liste entsprechend breit gefasst ist). Sie würde aber zugleich sicherstellen, dass jede Partei einer europäischen Liste zugeordnet ist, sodass ein Verhältnisausgleich auch mit einem Zwei-Stimmen-Modell möglich wird.

Zahlreiche Modelle mit Vor- und Nachteilen

Gesamteuropäische Listen sind also nicht gleich gesamteuropäische Listen: Es gibt zahlreiche Modelle mir jeweils eigenen Vor- und Nachteilen. Der Streit über die Frage, ob es überhaupt transnationale Listen geben sollte, hat die Debatte über deren genaue Ausgestaltung bislang weitgehend aus der Öffentlichkeit verdrängt. Für eine informierte Auseinandersetzung mit dem Thema ist aber auch diese Debatte notwendig – spätestens wenn die nächste Wahlrechtsreform auf der europäischen Agenda steht.

Bild: Tim Reckmann [CC BY 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Ein Verhältnisausgleich über ein Anrechnungssystem hat immer die Gefahr von Überhangmandaten. Wahrscheinlich würde man hier nicht auf in Deutschland übliche Systeme zurückgreifen, sondern auf externe Kompensation (Additional-Member-System wie etwa in Schottland), aber zumindest hätte Überhang die Folge, dass die transnationale Liste gerade bei den großen Parteien nicht zieht und damit die relevanten Spitzenkandidaten ohne Sitz bleiben (hier wäre noch die Frage, ob Doppelkandidaturen möglich sein sollten).

    Die transnationalen Listen müssten nicht nur die fehlende Proportionalität bezüglich Parteien und Staaten ausgleichen, sondern auch die Tatsache, dass kleinere Parteien aufgrund der faktischen Sperrwirkung auf der Ebene der Staaten und u.U. auch Sperrklauseln oder sonstiger Verzerrung durch Wahlkreise und Sitzverteilungsverfahren systematisch zu wenig Sitze über die nationalen Listen bekommen werden und damit vorrangig vom transnationalen Kontingent bedient werden müssten. Wie relevant das ist, hängt von den Umständen im Detail ab, aber um auf der sicheren Seite zu sein, bräuchte man schon ziemlich viele Sitze für den Verhältnisausgleich. Getrennte Stimmen würden das Risiko deutlich vergrößern.

    Österreich verteilt im Prinzip 100% der Sitze auf den unteren Ebenen. Tatsächlich vergeben werden Sitze aber nur auf volle Quoten, so dass regelmäßig Sitze übrig bleiben. (Überhangmandate sind theoretisch trotzdem möglich, weil verschiedene Quoten auf der Ebene der Bundesländer gebildet werden und weil D'Hondt die Quotenbedingung verletzen kann. Praktisch ist das aber nur bei stark verschiedener Wahlbeteiligung in den Bundesländern relevant.) Das System hat den Nachteil, dass es systematisch die kleineren Bundesländer und Regionalwahlkreise benachteiligt (Osttirol hat praktisch keine Chance, überhaupt einen Sitz zu kriegen). Das ist also gerade das Gegenteil von dem, was man auf europäischer Ebene will.

    Die andere Möglichkeit für einen Verhältnisausgleich ist die Unterverteilung, wobei ein bestimmter Anteil für die jeweilige transnationale Liste reserviert wird. Da sind dann keine Überhangmandate möglich; dafür ist die genaue Sitzzahl für die einzelnen Staaten nicht garantiert und den Mitgliedsstaaten die Kontrolle über das lokale Wahlverfahren notwendigerweise weitgehend entzogen. Auch hier kriegen die kleineren Staaten aufgrund schlechterer Chancen der kleineren Parteien systematisch weniger, als ihnen zusteht, deshalb müsste die Unterverteilung verzerrter sein als das erwünschte Ergebnis insgesamt.

    Feste Sitzkontingente könnte man mit biproportionaler Verteilung wie teils in der Schweiz (etwa im Kanton Zürich) garantieren. Entgegen dem Namen müssen die vorgegebenen Kontingente nicht proportional sein. Hauptnachteil dabei ist, dass dann die Verteilung innerhalb der Mitgliedsstaaten (wie auch unter den transnationalen Listen) nicht mehr unbedingt proportional wäre. Damit es befriedigend funktioniert, müssten die Parteien jeweils in möglichst vielen Mitgliedsstaaten möglichst unterschiedlicher Größe antreten (und auch Stimmen bekommen).

    Allgemein sind getrennte Stimmen genau dann sinnvoll, wenn auch die Sitzverteilung getrennt ist.

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