„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Gustav Spät. (Zum Anfang der Serie.)
- „Die Konferenz zur Zukunft Europas sollte sicherstellen, dass alle Bevölkerungsgruppen, EU-BefürworterInnen und auch EU-SkeptikerInnen, an den Gesprächen partizipieren.“
Eine zwei Jahre andauernde Konferenz zur Zukunft Europas. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt, sie wünsche sich, dass die Menschen im Mittelpunkt der gesamten Politik stehen. Da hat sie recht – wenn das Versprechen denn eingelöst wird.
Meine große Hoffnung als überzeugter Europäer ist, dass es wirklich so kommt. Zumindest sollte es maßgebliche Schritte in diese Richtung geben. Für die gesamte Konferenz muss gelten: Europa steht ab jetzt an erster Stelle vor den Nationalstaaten. Die sich andeutenden Verschiebungen und Unsicherheiten im globalen Kräfteverhältnis in Richtung China, Rechtssicherheit, gemeinsame Werte und ein gemeinsames Verständnis von Freiheit sowie der Klimawandel und das Coronavirus machen die Notwendigkeit eines starken, demokratischen und für die Zukunft gerüsteten Europas noch deutlicher als bisher erkennbar.
Die
Konferenz
Zwei
Jahre sind eine lange Zeit für eine Konferenz. Sie bedarf deshalb
einer klaren Grundstruktur,
um nicht undurchsichtig für Teilnehmende und Mitverfolgende zu sein.
Ein gelungenes Konzept für die Konferenz sollte einen klaren Weg
vorgeben und einen Rahmen bieten, an dem man sich orientieren kann.
Wie
eine grobe Struktur aussehen könnte, hat eine Mitteilung
der EU-Kommission
gezeigt.
Sie schlägt vor, zwei große Themenbereiche vorzugeben: Ziele der EU
in Sachfragen und institutionelle Fragen zur weiteren
Demokratisierung
der EU. Ich denke, dass durch einen solch offenen Rahmen genug
Freiraum, aber auch Halt gegeben ist. Auch ist es sinnvoll, dass die
geplanten Bürgerkonferenzen jeweils einen thematischen Schwerpunkt
haben sollen. So können sich Teilnehmende gezielter
vorbereiten.
Ein
dritter konferenzübergreifender Schwerpunkt sollte das
Beteiligungskonzept an sich sein. Die Entwicklung eines Konzepts,
welches den Rückhalt europäischer Entscheidungen in der
Bevölkerung erhöht, ist eine grundlegende Notwendigkeit, eine
enorme Herausforderung und eine große Chance.
Der
Name der Konferenz muss durch das Resultat gerechtfertigt werden. Es
sollte diskutiert werden, wie wir die EU in Zukunft gestalten wollen,
welche gemeinsamen Grundlagen wir haben, nicht
wie das System möglichst unverändert erhalten werden kann. Ich
wünsche mir, dass die aktuelle Krise als Chance begriffen wird und
die Themenschwerpunkte dementsprechend gesetzt werden. Nach der
Finanz- und Staatsschuldenkrise ist dies die nächste Möglichkeit,
unser System neu auszurichten und Mechanismen anzupassen.
Bürgerbeteiligung
Eine
der größten Fragen der Konferenz ist die Ausgestaltung sowie das
Ausmaß an Bürgerbeteiligung. Wie
von der Kommission vorgeschlagen, sollten die BürgerInnen selbst,
mit ihren Interessen
und Bedürfnissen, maßgeblich für den Verlauf und das Ergebnis der
Konferenz sein. Es darf nicht passieren, dass die Bürgerbeteiligung
gelobt wird, am Ende aber Forderungen aus der Zivilgesellschaft
ungehört
bleiben und nicht politisch umgesetzt
werden. Die Europaverdrossenheit der EU-BürgerInnen bewältigt man
so nicht.
Aber
welche BürgerInnen sollen sich beteiligen? Klar ist, dass, abgesehen
von Online-Beteiligungsverfahren, eine Auswahl für die
Bürgerkonferenzen getroffen werden muss. Hier hoffe ich, dass gerade
junge Menschen eine gewichtige Stimme erhalten. Schließlich geht es
um ihre Zukunft. Man könnte über eine Jugendquote in einem
ansonsten zufälligen Auswahlverfahren nachdenken, die die
Altersverteilung der Teilnehmenden im Voraus festlegt.
Nicht
nur die Europabegeisterten erreichen
Für
die ansonsten zufällige Auswahl der Teilnehmenden spricht noch ein
weiterer Aspekt: Bei den meisten Bürgerdialogen ist es so, dass die
ohnehin Politikinteressierten und
Europabegeisterten
zusammenkommen. Dadurch sind immer die gleichen Personenkreise unter
den Teilnehmenden vertreten und große Bevölkerungsteile nicht
repräsentiert.
Die
Konferenz zur Zukunft Europas sollte demgegenüber sicherstellen,
dass alle Bevölkerungsgruppen, EU-BefürworterInnen und auch
EU-SkeptikerInnen, an den Gesprächen partizipieren. Dafür muss ein
niedrigschwelliges Beteiligungskonzept her, das die Frage
beantwortet, wie eine alle Gesellschaftsschichten umfassende
Partizipation gelingen kann. Natürlich kann niemand zur Teilnahme
gezwungen werden. Der glaubhafte Versuch, alle Gruppen zu erreichen,
muss jedoch erkennbar sein.
Breite
Partizipation erschwert spätere Blockaden
Der
Effekt könnte groß sein: Wenn Entscheidungen gemeinsam mit
BürgerInnen aus allen Ländern und Schichten
diskutiert und erarbeitet werden,
bietet sich im Nachhinein weniger Angriffsfläche für national
orientierte
Regierungschefs.
Schließlich hat eine europäische Mehrheit aus BürgerInnen und
PolitikerInnen sich gemeinsam für eine Entscheidung ausgesprochen.
Solche Mehrheiten unterstützen auch das Europäische Parlament in
seiner Rolle als einziges direkt gewähltes Organ der EU. Vetostimmen
im Europäischen Rat oder das schlichte
und gesetzeswidrige Ignorieren von Beschlüssen
sind dann schwieriger zu rechtfertigen. Das Argument, eine
Entscheidung im Interesse der BürgerInnen zu blockieren oder nicht
umzusetzen, verlöre an Glaubwürdigkeit.
Neben
der aktiven Bürgerbeteiligung bietet die Konferenz auch die
Möglichkeit, bei allen BürgerInnen einen nachhaltigen Eindruck zu
hinterlassen – im Positiven wie im Negativen. Sichtbare Präsenz in
den Medien oder gut durchdachte Online-Beteiligungsverfahren bieten
eine Chance, um Bürgernähe und Interesse seitens der Politik zu
demonstrieren. Denn dass eine solche Konferenz ins
Leben gerufen wird,
ist toll
– und das sollen
alle BürgerInnen auch sehen können.
Beteiligung
von WissenschaftlerInnen
Eine
Gruppe darf unter keinen Umständen vergessen werden, wenn es um
zukunftsweisende Entscheidungen geht: WissenschaftlerInnen.
Sie sind GarantInnen für überparteiliche Sachbezogenheit.
Dafür müssen sie
über die gesamte Konferenz beteiligt sein und ihre Expertise in die
Diskussionen einbringen können. Dies kann während der
Bürgerkonferenzen passieren, aber auch im Folgeprozess, wenn es
unter EntscheidungsträgerInnen um die Umsetzung von Ideen geht.
Die
letzten Wochen und Monate haben gezeigt, wie wichtig und richtig es
ist, auf sie zu hören. Gerade beim Thema Umweltschutz ist eine
andere Priorisierung unumgänglich. Der klare Unterscheid zwischen
Anti-Corona-Maßnahmen und Klimapolitik ist mit Sicherheit der
zeitliche Rahmen von Interessen, Kosten und Nutzen. Während die
ergriffenen Maßnahmen in der Coronakrise kurzfristigen Nutzen
gebracht haben, sind Klimaschutzmaßnahmen auf lange Sicht nützlich,
kosten aber heute schon viel Geld.
Das heißt aber nicht, dass wir
mit dem Klimaschutz warten können. Dann wird
es zu spät sein. Die Priorisierung von kurzfristigen Interessen gegenüber langfristigen mag menschlich oder wahltaktisch verständlich sein, ist aber aus
der Sicht von zukünftigen Generationen verantwortungslos. Die
enormen Folgekosten von verschobenen Maßnahmen müssen in die
Debatten um den Klimaschutz mit einbezogen werden. In
dieser Diskussion ist die Stimme der Wissenschaft von grundlegender
Wichtigkeit.
Sachthemen
Ob
Umweltschutz, Digitalisierung oder Steuer- und Finanzpolitik, nach
einer Krise bieten sich viele neue Möglichkeiten der Gestaltung an.
Diese Möglichkeiten müssen wir nutzen, und eine Zukunftskonferenz
schafft den Rahmen für die notwendigen Diskussionen. Die
französische Regierung macht es vor: Air France soll im
Gegenzug für staatliche Hilfen Inlandsflüge, die mit der Bahn in
unter 2,5 Stunden erreicht werden können, streichen.
Auf europäischer Ebene könnten vergleichbare Vorgaben entwickelt
werden.
Sollte
es zu einem großen Wiederaufbauprogramm
im Sinne des Vorschlages von Angela Merkel und Emmanuel Macron
kommen, muss klar sein, wer Hilfen und Fördergelder zu welchen
Bedingungen bekommen kann und soll. Der Prozess zu diesen
Entscheidungen muss durch Transparenz geprägt sein. Die
langfristigen Prioritäten sollten gemeinsam bestimmt werden. Auch
hier gilt: Sollten sich gesellschaftliche Mehrheiten im Zuge der
Bürgerkonferenzen herausbilden, so ist es schwieriger für die
politischen EntscheidungsträgerInnen, Forderungen zu ignorieren oder
zu blockieren. Daher ist neben dem Ergebnis vor allem auch die
ergebnisrelevante
Beteiligung der EuropäerInnen
so wichtig.
Europäische Institutionen
Vertragsänderungen, die das langfristige Zusammenwirken der Institutionen bestimmen, dürfen in der Diskussion neben aktuell dringenden Sachthemen nicht vernachlässigt werden. Ohne Veränderungen, denen einige Regierungschefs kritisch gegenüberstehen, ist die Handlungsfähigkeit der EU weiterhin eingeschränkt.
Deshalb muss mit den BürgerInnen auch über das Institutionengefüge diskutiert werden: In welche Richtung möchten wir die EU entwickeln? Ist ein föderales, supranationales System gefordert, in dem gerade das Europäische Parlament eine wichtige Rolle einnimmt, oder doch ein intergouvernementales System mit einer starken Position der nationalen Regierungen? Wie lassen sich gescheiterte Demokratisierungsversuche, Stichwort Spitzenkandidatenprinzip, verhindern? Ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten eine Lösung? Was ist notwendig, um zukünftige Aufgaben erfüllen zu können?
Diese Fragen sollten mit den BürgerInnen diskutiert werden und nicht lediglich unter den Regierungschefs, die viel zu oft nur im nationalen Interesse handeln. Ein konkretes Beispiel, das ich für mit am dringlichsten halte, ist das Ersetzen des Einstimmigkeitsprinzips im Europäischen Rat durch eine alternative Beschlussform wie der qualifizierten Mehrheit. Ich hoffe, dass es ein wichtiger Bestandteil der Konferenz wird. Aus einer europäischen Perspektive ist das Vetorecht vor allem hinderlich, wenn es darum geht, Entscheidungen zu
treffen.
Wir
sollten uns diese Chance nicht entgehen lassen
Die Konferenz zur Zukunft der EU kann einen entscheidenden Beitrag zur politischen und institutionellen Weiterentwicklung der EU leisten. Richtig angegangen, kann Bürgerbeteiligung die Legitimität richtungsweisender Entscheidungen erhöhen.
Wir sollten uns diese erneute Chance zur Veränderung nicht entgehen lassen. Der Zeitpunkt ist angesichts der globalen Lage, des Klimawandels und des Coronavirus zwingend und gut.
Gustav Spät studiert seit September 2019 im Master Economics an der KU Leuven. Er hat an dem europaweiten Jugendbeteiligungsprojekt #EngagEU teilgenommen und ist Co-Autor des Manifests „Junge Ideen für die Zukunft Europas“.
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Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
- Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
- Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
- Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
- Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
- Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
- Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
- Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
- Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
- Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
- Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
- Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller
Bilder: Kinder mit Europaflaggen und Luftballons: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Gustav Spät: privat [alle Rechte vorbehalten].
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