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„Derzeit finden viele parallele Debatten über die Zukunft des europäischen Regierens statt. Diese Diskussionsfäden zusammenzuführen wird eine zentrale Herausforderung der kommenden Jahre.“
Als der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, endete für die Europäische Union eine Epoche der Reformen. Über zwei Jahrzehnte hinweg war das europäische Vertragswerk in mehreren Runden grundlegend überarbeitet worden. Einher ging diese Vertiefungsdynamik mit einer enormen Erweiterung der Union, die zwischen 1995 und 2007 von 12 auf 27 Mitgliedstaaten wuchs.
Ganz mühelos waren die Reformen allerdings nie, und mit der Zeit nahmen die Ermüdungserscheinungen zu. Zum Knackpunkt entwickelten sich vor allem die Ratifikationsverfahren: Mehrmals waren nationale Volksabstimmungen über die Reformen erst beim zweiten Anlauf erfolgreich. 2005 scheiterte der Verfassungsvertrag sogar vollständig, auch wenn seine Kerninhalte später im Vertrag von Lissabon wieder aufgegriffen und doch noch umgesetzt wurden.
Rückblick: Ein Jahrzehnt ohne Vertragsreformen
Für die europäischen Regierungen wurden weitere institutionelle Reformen dadurch immer mehr zu einem politischen Risiko – zumal Änderungen des EU-Vertrags nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten möglich sind und sich mit den erfolgreichen Erweiterungsrunden die Zahl der Vetoakteure mehr als verdoppelt hatte. Eine neue Generation europapolitischer ‚Pragmatiker:innen‘ war immer weniger bereit, politisches Kapital in ein solches Wagnis zu investieren.
Nach dem Vertrag von Lissabon herrschte jedenfalls die Stimmung vor, dass es mit der europapolitischen „Nabelschau“ nun endlich einmal genug sein müsse. War es nach all den Reformjahren nicht an der Zeit, die neuen EU-Strukturen erst einmal in der Praxis wirken zu lassen, ehe man neue Vertiefungsschritte anging? In der Folge kam nicht nur die Reform-, sondern auch die Beitrittswelle zum Erliegen: Als bislang letzter Mitgliedstaat wurde 2013 Kroatien aufgenommen, während die verbleibenden Kandidatenländer immer weiter vertröstet wurden.
Angst vor der „Büchse der Pandora“
Die Ruhe, die sich die Pragmatiker:innen womöglich erhofft hatten, kehrte jedoch nicht ein. Noch während der Ratifikation des Vertrags von Lissabon brach 2008 die globale Finanzkrise aus, die schon bald Strukturprobleme der europäischen Währungsunion sichtbar machte. Die Eurokrise stürzte die EU in die bis dahin härteste Bewährungsprobe ihrer Geschichte – und bildete doch nur den Auftakt eines Jahrzehnts, in dem eine existenzielle Herausforderung die nächste jagte, Rechtsaußenparteien Rekordergebnisse feierten, ein Mitgliedstaat seinen Austritt erklärte und die EU aus dem Krisenmanagement gar nicht mehr herausfand.
Aber auch wenn in dieser Zeit zahlreiche Unzulänglichkeiten in der institutionellen Struktur der EU deutlich wurden, blieben die europäischen Verträge (abgesehen von einer Miniaturreform im Jahr 2011) unverändert. Je krisenhafter die Lage wurde, desto weniger Lust verspürte man im Europäischen Rat, einen Konvent einzuberufen, um das bestehende Vertragswerk zu öffnen. Sich ausgerechnet jetzt auf grundsätzliche Debatten über die Zukunft der EU einzulassen, galt den meisten nationalen Regierungen als eine „Büchse der Pandora“. Stattdessen wurde das Durchwursteln zum Prinzip erhoben – auch wenn es in vielen Fällen dazu führte, dass demokratische Verantwortungsstrukturen verschwammen, Maßnahmen unvollständig blieben und Probleme nicht gelöst, sondern nur verschoben wurden.
Überblick: Neue Reformdebatten
Und heute? In jüngster Zeit scheint sich die Stimmung erneut zu verändern: Reformideen, die lange ungehört verhallten, finden wieder mehr Beachtung. So hat die Konferenz zur Zukunft Europas, eine Ad-hoc-Versammlung mit Vertreter:innen der EU-Institutionen sowie zufällig ausgelosten Bürger:innen, 2022 einen umfangreichen Abschlussbericht mit zahlreichen Empfehlungen verabschiedet, die auch Vertragsreformen einschließen. Das Europäische Parlament hat daraufhin formell die Einrichtung eines Konvents gefordert und will im Frühjahr konkrete Vorschläge für einen neuen Vertrag vorlegen. Die Kommission unterstützt dieses Ziel. Auch die deutsche und die französische Regierung haben eine gemeinsame Expertengruppe eingesetzt, die bis zum Herbst Reformempfehlungen entwickeln soll.
Das heißt natürlich noch nicht, dass ein neuer Europäischer Konvent tatsächlich vor der Tür stünde: Noch immer sehen viele nationale Regierungen Vertragsänderungen mit großer Skepsis. Doch auch sie scheinen sich zunehmend mit dem Gedanken abzufinden, dass wenigstens eine ernsthafte Auseinandersetzung damit unvermeidlich ist.
Woher kommt diese neue Dynamik? Auffällig ist, dass sie sich nicht nur aus einer einzelnen Quelle speist. Vielmehr finden mehrere Reformdebatten zur selben Zeit statt, die von unterschiedlichen Akteur:innen in unterschiedlichen Politikbereichen und mit unterschiedlichen Motiven vorangetrieben werden, aber miteinander verflochten sind und sich wechselseitig beeinflussen und verstärken. Mindestens drei unterschiedliche Diskursstränge lassen sich derzeit beobachten.
Erstens: Mehr europäische Demokratie
Da ist, zum Ersten, die alte Debatte um die Demokratisierung der Europäischen Union. Vor allem im Umfeld des Europäischen Parlaments gibt es viele Akteur:innen, die den Vertrag von Lissabon niemals für einen ausreichenden Schlusspunkt auf dem Weg zu einer handlungsfähigen und demokratischen EU hielten.
So legte die Spinelli-Gruppe, ein Netzwerk föderalistischer Europaabgeordneter, schon 2013 einen Entwurf für ein „Grundgesetz der Europäischen Union“ vor. 2017 verabschiedete das Parlament mit dem Verhofstadt- und dem Brok/Bresso-Bericht zwei ausführliche Wunschlisten für die institutionelle Weiterentwicklung der EU – mit oder ohne Vertragsänderungen. Parallel dazu setzte sich das Parlament für das Spitzenkandidatenverfahren zur Europawahl, für ein neues Europawahlrecht sowie für eine bessere finanzielle Ausstattung der europäischen Parteien ein.
Die Zukunftskonferenz erhöht den Erwartungsdruck
Die meisten dieser Reformbemühungen stießen bei den Regierungen der Mitgliedstaaten zunächst auf taube Ohren. Nach der Europawahl 2019 machte sich das Parlament jedoch erfolgreich für die Einrichtung der Konferenz zur Zukunft Europas stark. Die Konferenz löste nicht nur eine verstärkte Diskussion über partizipativ-demokratische Verfahren auf europäischer Ebene aus, sondern unterstützte auch die meisten anderen institutionellen Reformideen des Parlaments und ging teils noch darüber hinaus.
Zwar erreichte die Konferenz nicht das erhoffte Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Doch da sich im Vorfeld nicht nur Parlament und Kommission, sondern auch die Regierungen im Rat dazu bekannt hatten, ihre Vorschläge weiterzuverfolgen, stehen die EU-Institutionen nun unter erhöhtem Erwartungsdruck. Die Reformforderungen einfach zu ignorieren, würde die Glaubwürdigkeit des Beteiligungsverfahrens insgesamt beschädigen – und eine konstruktive Einbeziehung der Bürger:innen in die Europapolitik in Zukunft noch weiter erschweren.
Zweitens: Verändertes Krisenbewusstsein
Eine zweite, schleichende Veränderung der letzten Zeit betrifft das Krisenbewusstsein in der EU. In den 2010er Jahren herrschte die Wahrnehmung vor, dass sich die EU in einer außergewöhnlich komplizierten Phase befand, die jedoch irgendwann einmal enden würde. In dieser Situation schien es politisch Sinn zu ergeben, vorsichtig zu agieren und umfassende Reformprojekte zurückzustellen, bis sich die Verhältnisse beruhigt hätten.
Inzwischen hat sich die europäische „Polykrise“ jedoch zur „Permakrise“ gewandelt. Viele Probleme des europäischen Regierens sind chronisch geworden und dürften sich mittelfristig eher noch weiter verschärfen. Mit diesem Blickwinkel verliert das Argument von „Pandoras Büchse“ seine Überzeugungskraft: Wenn die Krise nicht vorübergeht, ist der bestmögliche Zeitpunkt für institutionelle Reformen nicht irgendwann in der Zukunft, sondern so bald wie möglich.
Erosionsgefahren
Tatsächlich machten die Krisen der letzten Jahre in vielen Bereichen Defizite deutlich, die durch die unmittelbaren Rettungsmaßnahmen nur unvollständig behoben wurden. So blieb die in der Eurokrise angestrebte Bankenunion lückenhaft, und die neue economic governance in Form des Europäischen Semesters ließ das Europäische Parlament weitgehend außen vor. Die Defizitregeln des Stabilitätspakts gelten seit langem als überarbeitungsbedürftig und sind seit Beginn der Corona-Pandemie ausgesetzt. Der kreditfinanzierte Wiederaufbaufonds NextGenerationEU verschaffte dem EU-Haushalt eine Art „Hamilton-Moment“, ist bislang jedoch nur als Einmalmaßnahme konzipiert.
Während im Mittelmeer nach wie vor jedes Jahr rund zweitausend Menschen auf der Flucht nach Europa ertrinken, ist die lang angestrebte Reform des EU-Asylsystems bis heute nicht gelungen. Gleichzeitig ist der letzte Zeitpunkt, zu dem es an keiner einzigen Binnengrenze im Schengen-Raum Grenzkontrollen gab, fast acht Jahre her. Und die Klimakrise stellt die Politik nicht nur vor enorme sachpolitische Herausforderungen, sondern wirft auch Fragen grenz- und generationenüberschreitender Gerechtigkeit auf.
An die Grundfesten der europäischen Integration rührt schließlich der Niedergang der nationalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in verschiedenen Mitgliedstaaten, vor allem Polen und Ungarn. Auch die auf den ersten Blick juristisch-technisch anmutende Frage, ob der Vorrang des Europarechts noch von allen nationalen Gerichten anerkannt wird, birgt große Desintegrationsgefahr. All das setzt die EU unter Handlungsdruck: Je länger die Erosion der Rechts- und Wertegemeinschaft andauert, desto schwerer werden auch künftige Reformen ihrer institutionellen Struktur.
Drittens: Rückkehr der Erweiterungsfrage
Eine ganz besondere Rolle spielt schließlich die jüngste der großen europäischen Krisen: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führte nicht nur zu einer intensivierten Debatte über die verteidigungspolitische Rolle der EU und über eine Reform der weitgehend auf Einstimmigkeit angelegten Verfahren der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Der ukrainische Beitrittsantrag vom 28. Februar 2022 brachte auch die Frage der Erweiterung zurück auf die Tagesordnung.
Welche Länder kann und will die EU in den nächsten Jahren aufnehmen? Sind die Beitrittsverfahren noch zeitgemäß? Und vor allem: Wie muss sich die EU verändern, um auch mit 30, 35 oder mehr Ländern funktionsfähig zu sein? Eine mögliche neue Osterweiterung liegt dabei auch vielen nord-, mittel- und osteuropäischen Ländern am Herzen, die ansonsten in Sachen institutioneller Änderungen eher zurückhaltend sind. Die Verknüpfung aus Vertiefungs- und Erweiterungsdebatte ist deshalb der dritte und wohl stärkste Hebel, der die aktuelle europäische Reformdiskussion antreibt.
Zugleich wirft sie aber auch Fragen für die künftigen Machtstrukturen innerhalb der EU auf: Welche Rolle kann der „deutsch-französische Motor“ in einer sich nach Osten verlagernden Union noch spielen? Wie verändert sich das Verhältnis zwischen kleinen und großen Ländern? Braucht eine größere und heterogenere EU mehr differenzierte Integration – oder stärkere supranationale Institutionen, um die wachsenden Gegensätze zwischen den Mitgliedstaaten zu bewältigen?
Ausblick: Diskussionsfäden zusammenführen
Derzeit finden also viele parallele, aber sich gegenseitig beeinflussende Debatten über die Zukunft des europäischen Regierungssystems statt. Die EU sucht eine neue Balance: zwischen Vertiefung und Erweiterung, Einheit und Differenzierung, Handlungsfähigkeit und Konsens, mitgliedstaatlicher Eigenverantwortung und transnationaler Solidarität, supranationalen Parteien und nationalen Regierungen, nationaler Souveränität und gemeinsamem Recht.
So viele offene Fragen zur selben Zeit beantworten zu müssen, kann lähmen, aber auch befreien – wenn es gelingt, themenübergreifende Paketvereinbarungen zu finden, über die sich neue Wege öffnen. Die einzelnen Diskussionsfäden zusammenzuführen, in denen die künftige europäische Governance verhandelt wird, wird deshalb eine zentrale Herausforderung der kommenden Jahre. Ein europäischer Konvent könnte dafür das richtige Forum sein.
Der Themenschwerpunkt „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“ soll in den nächsten Wochen und Monaten die hier skizzierten europäischen Krisen- und Reformdiskurse beleuchten. Expert:innen aus deutschen und internationalen Universitäten und Thinktanks werfen Schlaglichter auf spezifische Fragestellungen und Entwicklungen und reflektieren sie im Kontext der europapolitischen Forschung.
Die Beiträge erscheinen gleichzeitig auf dem Blog „Der (europäische) Föderalist“ und auf Regierungsforschung.de, dem wissenschaftlichen Online-Journal der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Bleiben Sie dran!