14 März 2023

Die angekratzte Rechtsgemeinschaft: Warum sich die Krise um den Vorrang des Europarechts nur politisch lösen lässt

Von Alexander Thiele
Justitia-Statue
„Juristisch wird man dieser Krise kaum beikommen können. Doch letztlich steht bei der Auseinandersetzung mit Polen ohnehin mehr auf dem Spiel als nur der rechtliche Vorrang.“

In einem supranationalen Verbund von 27 Mitgliedstaaten sind Integrationskrisen und ‑rückschläge ebenso erwartbar wie nicht prinzipiell bedrohlich. Rückblickend ist die Europäische Union aus vielen solcher Krisen gestärkt hervorgegangen. Es wäre eher verwunderlich, wenn grundlegende Fragen der europäischen Integration stets harmonisch und ohne größere Konflikte gelöst würden. Wenngleich man sich hier und da also mehr Einigkeit wünschen würde – im Großen und Ganzen erfüllt die Europäische Union gerade dadurch ihren Zweck, dass sie institutionalisierte Foren bereitstellt, um solche Konflikte friedlich beizulegen. Wer, wie Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede, entsprechende Debatten mit einem „Bürgerkrieg“ vergleicht, liegt also falsch: Demokratie darf nicht mit der Abwesenheit diskursiver Zumutungen verwechselt werden.

Ein fundamentales Prinzip europäischer Integration

Mit dem Vorrang des Europarechts betrafen diese Auseinandersetzungen in den letzten Jahren jedoch gleich mehrfach ein fundamentales Prinzip europäischer Integration, das zentral zum Erfolg der Europäischen Union als „Rechtsgemeinschaft“ beigetragen, ihn eigentlich erst begründet hat. Die polnische und ungarische Regierung fühlten sich an gemeinsame Beschlüsse nicht gebunden, ignorierten einzelne Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und ließen sich bisweilen nicht einmal durch finanzielle Sanktionen zu einem Einlenken bewegen. Der dahinterstehende Konflikt um fundamentale Werte der Europäischen Union – insbesondere der Rechtsstaatlichkeit – scheint weiterhin festgefahren, zumal die Kommission hier nicht immer ein glückliches Bild abgibt.

Im Mai 2020 gossen dann ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Ende 2021 sodann das polnische Verfassungsgericht zusätzliches Öl in dieses Konfliktfeuer, indem sie nationale Grenzen des Vorrangs nicht nur theoretisch formulierten, sondern – wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise – erstmals praktisch wirksam werden ließen. Warum ist diese Entwicklung für die Integration so bedrohlich? Und wie wird man diese „Vorrangkrise“ mittel- bis langfristig überwinden können?

Die Vorrang-Frage ist theoretisch nicht auflösbar …

Der Vorrang des Europarechts ist nicht primärrechtlich normiert, sondern beruht im Kern auf zwei wegweisenden Urteilen des EuGH (hier und hier) aus den 1960er Jahren, mit denen dieser die Europäische Union von ihren völkerrechtlichen Wurzeln löste und den Weg zu einer supranationalen Integration wies. Wie, so die Ausgangsfrage des EuGH, sollte ein gemeinsamer Binnenmarkt funktionieren, wenn jeder Mitgliedstaat selbst über dessen Reichweite bestimmen kann, indem er die europäischen Vorgaben durch eigenes Recht verdränget? Die Antwort des EuGH war klar: Überhaupt nicht. Die Folge: Das Integrationsprojekt setzt aus europäischer Perspektive voraus, dass das Europarecht Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht genießt und dabei der EuGH abschließend über Inhalt und Reichweite des Europarechts befindet.

Es war erwartbar, dass diese Antwort bei den mitgliedstaatlichen Höchstgerichten nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) akzeptierte zwar schnell den Vorrang vor einfachem Recht, machte aber Vorbehalte, soweit es um das Grundgesetz ging. Dahinter stand die aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffende Erkenntnis, dass der Europäischen Union ihre Kompetenzen von den Mitgliedstaaten übertragen worden waren. Über die Reichweite dieser Übertragung können daher letztverbindlich nur die Mitgliedstaaten – also deren Höchstgerichte und nicht der EuGH – befinden.

… aber in der Praxis durch Kooperation zu bewältigen

Rechtlich gesehen sind beide Perspektiven ebenso plausibel wie miteinander unvereinbar. Gleichwohl wurde der juristische Alltag durch diesen theoretischen Konflikt praktisch nicht beeinträchtigt. In den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist der Vorrang gelebte und erfolgreiche Praxis und damit zugleich Garant erfolgreicher Integration – es ist dieser praktische Vorrang, der die EU zu dem macht, was sie ist.

Dieser Zustand hängt freilich davon ab, dass die Vorrangfrage nicht endgültig in die eine oder andere Richtung entschieden wird. Der theoretische Konflikt wird solange und soweit nicht praktisch wirksam, als die Vorrangfrage von allen Beteiligten in der Schwebe gehalten wird. Das heißt: Keine Seite darf ohne Not versuchen, den Konflikt in ihrem Sinne endgültig aufzulösen. Es geht darum zu kooperieren, ohne zu insistieren.

Mit dem PSPP-Urteil suchte das BVerfG den offenen Konflikt

Damit sind wir beim Bundesverfassungsgericht. In seinem PSPP-Urteil vom 5. Mai 2020 verließ es erstmals diesen Kooperationspfad und erklärte das Handeln der Europäischen Zentralbank (EZB) und des EuGH explizit für kompetenzwidrig („ultra vires“), verweigerte sich mithin in einem Einzelfall explizit dem europäischen Vorranganspruch. Der Konflikt war damit erstmals offen ausgebrochen, was unweigerlich ein beachtliches Beben in der gesamten EU nach sich zog – wie würde es mit dem Vorrang und damit der Integration jetzt weitergehen? Der EuGH würde das kaum akzeptieren können.

Nun mag man einwenden: Welchen Wert haben verfassungsrechtliche Vorbehalte, wenn sie nicht aktiviert werden können? Wo die Kompetenzordnung durch den EuGH unterhöhlt wird, muss das BVerfG einschreiten können – und zwar unabhängig davon, wie das nach außen wirkt oder welche sonstigen Folgen für die Integration damit verknüpft sind. Wer die Vorbehalte prinzipiell für richtig hält, wird dem zwar zustimmen müssen. Aber gerade, weil die europaweiten Auswirkungen so gravierend sein können und mit einer solchen Entscheidung das Fundament der europäischen Rechtsgemeinschaft angegriffen wird, wird man verlangen müssen, dass es sich um einen eindeutigen Fall handelt. Genau das war hier nicht der Fall.

Der Vorwurf des BVerfG war nicht berechtigt

Das BVerfG betont seit jeher, dass die Aktivierung der Vorbehalte nur unter engen Voraussetzungen erfolgen darf. Um in diesem konkreten Fall der Bindung an das Urteil des EuGH zu entgehen – der EuGH hatte das Handeln der EZB als rechtmäßig eingestuft –, hätte dieses deshalb aus methodischer Sicht als nicht mehr vertretbar und damit willkürlich anzusehen sein müssen. Gegenüber einem mit 15 renommierten Richter:innen besetzten Gericht ist das ein scharfer Vorwurf. Er war hier denn auch nicht berechtigt (dazu auch hier und hier).

Denn: Das Urteil des EuGH war in der Rechtswissenschaft zuvor selbstverständlich analysiert und von einem beträchtlichen Teil der Währungsrechtler:innen als überzeugend angesehen worden. Schon das spricht gegen ein willkürliches Vorgehen des EuGH. Aber selbst die Kritiker:innen des EuGH waren vor dem Urteil des BVerfG weit davon entfernt, diesem pauschal methodische Unfähigkeit zu unterstellen.

Der EuGH wählte im Hinblick auf die anzulegende Kontrolldichte einen anderen, zurückhaltenderen Weg als das BVerfG. Dieser war aber in den Besonderheiten des geldpolitischen Mandats und der Stellung der EZB begründet bzw. ließ sich damit begründen. In diesem Bereich tun sich Gerichte mit der Kontrolle generell schwer, ein einheitliches methodisches Vorgehen hat sich noch nicht etabliert. Immerhin prüfte der EuGH die Frage der Verhältnismäßigkeit des EZB-Handelns in 29 Randnummern – erscheint das wirklich so unzulänglich, wie es das BVerfG den Kolleg:innen vorwarf?

Kein sinnvoller Anlass für die Souveränitätsfrage 

Das höchste deutsche Gericht bemängelte zudem, der EuGH habe die Auswirkungen der Ankaufprogramme auf die Wirtschaft nicht angemessen hinterfragt. Gerade für eine solche Zurückhaltung ließen sich aber erneut gute Gründe anführen (dazu erneut hier). Eine Zentralbank soll Preisstabilität ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Auswirkungen verfolgen, nicht zuletzt deshalb ist sie in die Unabhängigkeit entlassen worden. Man mag das für unzweckmäßig halten, aber willkürlich wird eine solche Überlegung dadurch sicher nicht.

Anders gewendet: Ausgerechnet dieser Fall bot keinen sinnvollen Anlass dazu, die bewusst ungeklärte Souveränitätsfrage in eine Richtung zu beantworten. Zwar waren die Auswirkungen der BVerfG-Entscheidung (wie zu erwarten) überschaubar: Die EZB schob einige Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nach, hielt im Übrigen aber an allen Ankaufprogrammen fest. Also Causa finita? Leider nicht.

Größerer integrationspolitischer Schaden

Denn der größere integrationspolitische Schaden war nicht mehr zu vermeiden. Das Urteil befeuerte erwartungsgemäß EuGH-feindselige Bestrebungen in anderen Mitgliedstaaten, insbesondere in Polen und Ungarn, die mit dem Vorrang des Europarechts ohnehin haderten. Jetzt konnten sich diese Regierungen in ihrer EU-Kritik zusätzlich auf das renommierte BVerfG berufen. Dass dieses den Vorrang im Grundsatz anerkannte und nur im Einzelfall in Frage stellte, waren dogmatische Details, die der politisch aufgeheizten Stimmung schnell zum Opfer fielen.

Auch das polnische Verfassungsgericht konnte seine Entscheidung vom 7. Oktober 2021 daher zumindest scheinbar mit dem Karlsruher Diktum nobilitieren. Darin hatte es die Vorgaben des EuGH im Hinblick auf die nationale Gerichtsorganisation als verfassungswidrig eingestuft. Bei näherer Betrachtung waren die beiden Entscheidungen allerdings kaum ernsthaft miteinander zu vergleichen – und insoweit wird man das BVerfG denn auch in Schutz nehmen müssen (dazu auch hier): Während das BVerfG lediglich eine bestimmte Praxis der EZB anprangerte, erklärte das polnische Gericht gleich mehrere Bestimmungen der Unionsverträge für verfassungswidrig – so weit war noch kein Verfassungsgericht gegangen.

Das polnische Gericht stellt den Vorrang insgesamt in Frage

Zudem stellte es den Vorrang des Europarechts im Hinblick auf die polnische Verfassung grundsätzlich in Frage, knüpfte an keine etablierte Vorbehaltsjudikatur an und wandte sich deutlich gegen jegliche Kontrolle durch den EuGH. Während der Disput im Fall des BVerfG formal schnell aus der Welt geschaffen werden konnte, ist es in Polen seitdem unklar, wie es mit dem Vorrang des Europarechts in der Praxis überhaupt weitergehen soll.

Im Ergebnis ging es also bei beiden Urteilen um den Vorrang des Europarechts, das polnische Urteil hat indes eine völlig andere Qualität als dasjenige des BVerfG. Gleichwohl war die Signalwirkung des Karlsruher Urteils auf andere Verfassungsgerichte ebenso unnötig wie ärgerlich.

Vorrang setzt Legitimität voraus

Wie kann es weitergehen? Die erste Forderung liegt auf der Hand: Das BVerfG sollte zu einer kooperativeren Umgangsform zurückfinden und nicht ohne Not offene Konfrontationen mit dem EuGH suchen. Diesen Weg scheint es mit seiner Entscheidung zum Corona-Fonds denn auch eingeschlagen zu haben. Trotz offenkundiger juristischer Bauchschmerzen sah es hier davon ab, den Ultra-vires-Vorwurf (erneut) zu erheben. Vom polnischen Verfassungsgericht wird man in seiner aktuellen prekären Besetzung eine solche Zurücknahme allerdings nicht erwarten können. Juristisch wird man dieser Krise deshalb kaum vollständig beikommen können.

Doch letztlich steht bei der Auseinandersetzung mit Polen (und Ungarn) ohnehin mehr auf dem Spiel als nur die rechtliche Vorrangfrage. Es geht um fundamentale Konflikte über Sinn, Zweck und Reichweite der Integration, die sich daher nur politisch werden lösen lassen. Gerade deshalb wäre es aus Sicht der Europäischen Union zu einfach, die Schuld für diese Misere allein in den betreffenden Ländern oder bei den beiden Gerichten zu suchen. Denn in diesen Entwicklungen äußert sich jenseits ideologischer Verhärtungen auch ein gewisses Unbehagen über den Zustand der europäischen Integration insgesamt, das man nicht leichtfertig vom Tisch wischen sollte.

Der so bedeutende Vorrang des Europarechts wird nur in dem Rahmen wirken können, in dem die Europäische Union als politische Herrschaftsorganisation auf Anerkennung in den Mitgliedstaaten trifft. Je mehr die Unionsgewalt in Bereiche vordringt, die politisch umstritten sind und in denen daher keine Bereitschaft besteht, sich den europäischen Vorgaben zu unterwerfen, desto weniger wird das der Fall sein können.

Verbundlegitimität von EU und Mitgliedstaaten maximieren

Insofern ist die Europäische Union gemeinsam mit den Mitgliedstaaten dazu angehalten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie diese prinzipielle Akzeptanz mittel- bis langfristig in allen Mitgliedstaaten steigern kann. Die bisherige Finalitätsdebatte folgt hier – das hat auch die im letzten Jahr abgeschlossene Konferenz zur Zukunft Europas gezeigt – noch zu sehr einer funktionalen Integrationsphilosophie, nach der jede europäische Kompetenz eine gute Kompetenz ist. Dass gerade jüngere Mitgliedstaaten mit dieser Idealisierung der Integration wenig anfangen können, ist kaum verwunderlich.

Es geht also nicht nur darum, Polen und Ungarn zur Einhaltung der fundamentalen Werte zu bewegen, sondern auch durch die eigene Organisation dazu beizutragen, dass das in allen Mitgliedstaaten weiterhin gelingen kann. Das mittelfristige Ziel wäre dann nicht das Aufgehen der Mitgliedstaaten in einem europäischen Superstaat, sondern die Maximierung der Verbundlegitimität von Mitgliedstaaten und Europäischer Union. Wenn das gelingt, könnte der Vorrang des Europarechts wieder umfänglich wirken und die europäische Rechtgemeinschaft mit ein paar Kratzern davonkommen.

Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der universitären Fakultät Rechtswissenschaften der BSP Business and Law School in Berlin.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Bild: Justizia: Mylius [GFDL 1.2 or FAL], cropped by Andrew Sherman, via Wikimedia Commons; Porträt Alexander Thiele: Bogdan Hinrichs [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

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