Im
Februar 2012 war Paul Magnette (PS/SPE) belgischer Minister für
öffentliche Unternehmen, Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit
– und überhaupt nicht gut auf den europäischen Währungskommissar
Olli Rehn (Kesk./ALDE) zu sprechen, der das Land mitten in der
Wirtschaftskrise zum Abbau der Staatsausgaben drängte. In einem
Interview
erklärte Magnette, Haushaltsdisziplin seit zwar notwendig, die
Europäische Kommission habe aber kein Recht, sich in die Details der
belgischen Wirtschaftspolitik einzumischen. (Ich habe damals
ausführlich
über diesen Konflikt geschrieben.) Das Interview gipfelte in den
Worten:
Wer kennt Olli Rehn? Wer hat jemals das Gesicht von Olli Rehn gesehen? Wer weiß, wo er herkommt und was er getan hat? Niemand. Und dabei sagt er uns, wie wir unsere Wirtschaftspolitik führen sollen. Europa hat keine demokratische Legitimation, dies zu tun.
Viereinhalb
Jahre später ist Paul Magnette Präsident der Region Wallonie, und
auf einmal scheinen seine Worte auf ihn selbst zuzutreffen. Denn
natürlich ist auch er für den größten Teil der europäischen
Bevölkerung ein völlig Unbekannter – oder war es wenigstens bis
vor einigen Tagen. Sein Mandat verdankt er jedenfalls allein den rund
3,6 Millionen Wallonen, von denen rund 2,2 Millionen an der letzten Regionalwahl teilgenommen haben. Und dass Magnette vor seiner Zeit als aktiver
Politiker Universitätsprofessor war und einige
lesenswerte Bücher über die EU-Bürgerschaft und die europäische
Demokratie geschrieben hat, wissen außerhalb akademischer
Fachkreise wohl ebenfalls nur die wenigsten Europäer.
Kurz:
Kaum jemand in Europa hat jemals das Gesicht von Paul Magnette
gesehen. Und dennoch sagt er uns, ob wir mit Kanada ein
Freihandelsabkommen abschließen dürfen oder nicht. Hat das
wallonische Regionalparlament die demokratische Legitimation, dies zu
tun?
Langjähriger
Widerstand gegen CETA
Die
Hintergründe sind rasch erzählt (und dieser Tage ohnehin in allen
Zeitungen zu lesen): Seit Jahren haben die Europäische Kommission
und die kanadische Regierung über das Freihandelsabkommen CETA
verhandelt, das die wirtschaftliche Integration zwischen der EU und
Kanada voranbringen soll. Da CETA nicht nur Zölle abbaut und
bestimmte technische Standards harmonisiert, sondern auch umstrittene
Regelungen zum Investitionsschutz und zur Marktliberalisierung
enthält, regte sich auch schon früh Widerstand dagegen – etwa
durch den Verein Campact,
aber auch durch die Europäische
Linke und die
Grünen.
Aber
auch bei den europäischen Sozialdemokraten, etwa der
deutschen SPD, hatte CETA nicht nur Freunde. Und nicht zuletzt
erklärte das wallonische Regionalparlament (mit einer Mehrheit aus
Sozialisten, Christdemokraten und Grünen und gegen die Stimmen der
Liberalen) bereits im vergangenen April, dass
es das Abkommen ablehne und alles rechtlich in seiner Macht
Stehende tun werde, um es zu stoppen.
Streit
um die Beteiligung der nationalen Parlamente
Zum
Knackpunkt wurde im Juli schließlich die Frage, welche Parlamente an
der Ratifikation des Abkommens beteiligt werden sollen. Nach Art.
207 AEUV besitzt die Europäische Union nämlich die alleinige
Zuständigkeit für die Außenhandelspolitik. Um in Kraft zu treten,
müssen Freihandelsabkommen deshalb nur vom Europäischen Parlament
und vom EU-Ministerrat ratifiziert werden – wobei im Ministerrat
Einstimmigkeit erforderlich ist, wenn es in dem Abkommen (wie bei
CETA) auch um Direktinvestitionen geht.
Dagegen
wurde jedoch bald die Kritik laut, dass CETA inhaltlich weit über
die bloße Handelspolitik hinausgehe. Es müsse deshalb als
„gemischtes Abkommen“ behandelt werden, bei dem nicht nur Kanada
und die EU, sondern auch alle 28 Mitgliedstaaten Vertragspartner sind
und ein Ratifikationsrecht haben. Die Europäische Kommission
widersetzte
sich dieser Sichtweise zunächst und wurde dabei auch von der
italienischen Regierung unterstützt. Verschiedene andere
Regierungen, unter anderem die deutsche, beharrten jedoch auf einer
Behandlung als gemischtes Abkommen.
Die
Kommission gab dem Druck der Regierungen nach
Am
Ende gab
die Kommission nach und erklärte,
sie betrachte CETA rechtlich zwar weiterhin als ein Abkommen, das
unter die alleinige Zuständigkeit der EU falle. Angesichts der
„politischen Lage im Ministerrat“ werde sie es jedoch als
gemischtes Abkommen behandeln und damit den nationalen Parlamenten
zur Ratifikation vorlegen.
Ich
habe im Juli auf
diesem Blog darüber geschrieben, weshalb ich diese Entscheidung
der Kommission für einen Fehler halte. Tatsächlich hätte die
Kommission (nach Art.
218 Abs. 11 AEUV) die Möglichkeit gehabt, zunächst ein
Gutachten des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, in dem dieser
die Frage nach der alleinigen oder gemischten Zuständigkeit
verbindlich geklärt hätte. Indem sie dem politischen Druck der
Regierungen nachgab, zeigte sie sich in der Wahl des Verfahrens offen
opportunistisch und schwächte damit das langfristige Vertrauen in
die europäischen Institutionen.
Belgien
kann nicht unterschreiben
Was
aber brachte die Kommission zu ihrer Entscheidung? Ein wesentlicher
Grund dürfte wohl der Zeitfaktor gewesen sein: Ein Verfahren vor dem
Europäischen Gerichtshof kann sich leicht über einige Jahre
hinziehen, und währenddessen wäre die gesamte CETA-Ratifikation in
der Schwebe geblieben.
Stattdessen
setzte
die Kommission offenbar darauf, dass die nationalen Regierungen
CETA als gemischtes Abkommen rasch unterschreiben und jenen Teil
davon, der auch in ihren Augen unter die alleinige Zuständigkeit der
EU fällt, zur „vorläufigen Anwendung“ freigeben würden. Dieser
Teil wäre dann gleich nach der Ratifikation durch das Europäische
Parlament in Kraft getreten; nur für den Rest des Abkommens wäre
auch die Ratifikation der nationalen Parlamente nötig gewesen.
Was
die Kommission dabei offenbar nicht bedacht (oder nicht erwartet)
hat, ist, dass die belgische Regierung schon ihre Unterschrift für
CETA nur leisten kann, wenn
sie dafür auch die
Unterstützung der Regionen des Landes hat. Und
so wurde die Wallonie zum
Stolperstein, über den nun
das
gesamte Abkommen scheitern könnte. Dass
der Vertrag wie
vorgesehen in den nächsten
Tagen unterschrieben wird,
erscheint derzeit jedenfalls
ziemlich
unwahrscheinlich.
Die Legitimation von Paul Magnette
Wie
aber steht es nun um die demokratische
Legitimation
von Paul Magnette und seiner
Wallonen? Auf den ersten Blick sieht ihr Vorgehen nicht
allzu gut aus: Schließlich geht
CETA nicht nur die Wallonen
an,
sondern alle
510 Millionen
Europäer
und 35 Millionen Kanadier;
und eine
Entscheidung, die alle
betrifft, sollte von allen gemeinsam getroffen
und nicht von einer kleinen Minderheit blockiert werden können.
Selbst der grüne
Europaabgeordnete Sven Giegold – alles andere als ein Freund des
Abkommens –
beklagte jüngst, das wallonische
Veto sei „ein
Sieg für die CETA-Kritiker, aber eine Niederlage für Europas
Handlungsfähigkeit“, und
forderte „effizientere Entscheidungsprozesse“ für die EU.
Auf
der anderen Seite sind diese
effizienteren Entscheidungsprozesse im EU-Vertrag
natürlich auch jetzt schon
enthalten: eben
jene Regelungen, die für Handelsverträge
gelten, die unter die
alleinige Zuständigkeit der EU fallen. In
dem Augenblick, in dem die Kommission und
der Ministerrat CETA als
gemischtes Abkommen anerkannten,
akzeptierten sie
das mögliche Veto durch
einen Mitgliedstaat – und
damit auch durch eine Region,
wo die nationale Verfassung des Mitgliedstaats das vorsieht. Das Nein der Wallonie als „anmaßenden Widerstand“ zu bezeichnen (wie jüngst im Spiegel zu lesen), unterschlägt, dass das Regionalparlament nur seine verfassungsmäßigen Rechte ausübte.
War
die Wallonie zu einem Kompromiss verpflichtet?
Daneben
gibt es allerdings noch
ein weiteres Argument, das
der Rechtswissenschaftler Franz
Mayer auf dem
Verfassungsblog
jüngst mit erfreulicher
Klarheit dargelegt hat.
In seinen Augen war es
politisch durchaus wünschenswert, dass
CETA als gemischtes Abkommen behandelt wurde: Schließlich habe die Beteiligung der
nationalen Parlamente in
den letzten Monaten eine „sehr intensive Debatte“ erzeugt und
„das Abkommen mit Kanada an verschiedenen Stellen letztlich
entscheidend verbessert“:
So gesehen war CETA auf einem guten Weg zu einem Beispiel für einen intensiven und gelungenen, wenn auch sehr aufwändigen demokratischen Mehrebenenprozess. Bis die Wallonen kamen. Wenn es nicht mehr um Verbesserung geht, sondern um Blockade, dann ist der besagte demokratische Prozess am Ende und der demokratische Mehrwert gemischter Abkommen verpufft.
Diese
Vorstellung, dass man die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten
an Entscheidungen beteiligen müsse, diese sich der gemeinsamen Linie letztlich aber auch
nicht widersetzen dürften, ist in der EU-Politik weit verbreitet.
Dahinter steht oft ein Ideal deliberativer
Kompromisssuche: der Wunsch, dass alle Akteure
an
einem gemeinsamen Strang
ziehen und daher auch
ihr Vetorecht letztlich nur nutzen
werden, um Entscheidungen zu
„verbessern“. Oder, wie
es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) bereits 2010
in
einer Rede als „neue
Unionsmethode“ formulierte:
„jeder in seiner
Zuständigkeit, alle für das gleiche Ziel“.
Ein
Parlament ist dazu da, Entscheidungen zu treffen
Letztlich aber funktioniert parlamentarische Demokratie so eben nicht. Parlamente sind nicht nur dazu da, in einem deliberativen
Verfahren ihre Meinung zu einem übergeordneten Ziel zu äußern.
Vielmehr sollen sie (im Rahmen ihrer rechtlichen Kompetenzen) ihre
eigenen Entscheidungen treffen, für die sie sich dann allein vor
ihren Wählern verantworten müssen. Eine politische Verantwortung
gegenüber Dritten haben sie allenfalls moralisch, aber nicht
institutionell – und das ist auch gut so, da sonst das besondere
Repräsentationsverhältnis zu ihren Wählern gefährdet wäre.
Eigene Entscheidungen zu treffen, bedeutet aber eben auch: Wenn man
einem Parlament das Recht gibt, ein Abkommen mit einem Veto zu
blockieren, dann muss man damit rechnen, dass es dieses Veto auch
nutzt. Man mag diese Entscheidung für kurzsichtig halten, für
egoistisch oder für dumm. Aber ein Nein ist nicht an sich weniger
demokratisch als ein Ja – und am Ende sind es nur die wallonischen
Bürger, die bei der nächsten Regionalwahl über die Entscheidungen
ihres Parlament das Urteil zu treffen haben.
Paul Magnette und dem wallonischen Parlament ist aus demokratischer
Sicht kein Vorwurf zu machen. Und gerade deshalb sollte es bei
Entscheidungen, die die EU als Ganzes betreffen, keine nationalen Vetorechte geben.
Bild: European Union 2016 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.