14 Oktober 2016

Doppelte Staatsbürgerschaft, oder: Die Rechte der mobilen Menschen

Wo darf ein Weltbürger Bürger sein?
Am Ende war die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft, die die deutsche Öffentlichkeit vor einigen Monaten beschäftigte, wohl nichts weiter als die übliche Sommerlochdebatte; und wie jede gute Sommerlochdebatte wurde sie um einige Tonlagen aufgeregter geführt, als dem Thema gut tat. Auslöser war Ende Juli ein Artikel des Finanzstaatssekretärs Jens Spahn (CDU/EVP), in dem dieser Sympathiebekundungen von Deutschtürken für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP/AKRE) kritisierte und dabei auch die doppelte Staatsangehörigkeit in Zweifel zog:
Grundsätzlich sind zwei Staatsbürgerschaften nicht per se von Schaden. […] Wenn sich aber die Interessen, Ziele und Prinzipien zweier Staaten immer stärker widersprechen und wenn sich gleichzeitig offensichtlich eine so große Gruppe wie die Deutschtürken nicht so recht entscheiden kann, welchem der beiden Staaten eigentlich ihre Loyalität gilt […], dann muss auch die Bundesrepublik Deutschland ihr Recht einfordern.
Ein Sommerloch-Thema

Wenig später wurde das Thema in einem gemeinsamen Papier der Innenminister der CDU/CSU (EVP) aufgegriffen. Im Entwurf für eine Erklärung zur inneren Sicherheit bezeichneten sie die doppelte Staatsbürgerschaft Anfang August als ein „großes Integrationshindernis“, das es abzuschaffen gelte. Vor allem der zu diesem Zeitpunkt wahlkämpfende Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU/EVP) zeigte sich als Scharfmacher und erhielt dafür Lob von der Rechtsaußenpartei AfD.

In den folgenden Tagen jagte das Thema einmal durch das politische Feuilleton. Die große Mehrheit der Kommentatoren (von der Zeit über den Tagesspiegel bis zur FAZ) kritisierte dabei den Vorstoß der CDU-Innenminister; andere, wie die islamkritische Soziologin Necla Kelek, unterstützten ihn hingegen. Und auch der linke Publizist Jakob Augstein sprach sich dafür aus, die doppelte Staatsbürgerschaft nur EU-Bürgern vorzubehalten. Für alle anderen hingegen sollte gelten: „Wer in Deutschland geboren wird, ist automatisch Deutscher. Und nur das.“

Debatte ohne Folgen, aber mit Aussicht auf Wiederbelebung

Beendet wurde die Debatte schließlich Ende August durch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP), die in einem Interview erklärte, man werde das erst 2014 gelockerte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht nicht jetzt schon wieder ändern. Gleichzeitig wurde der entsprechende Passus in der Endfassung der Erklärung der CDU-Innenminister deutlich abgemildert: Übrig blieben nur die Formulierung, die „Vermeidung von Mehrstaatigkeit“ müsse „prägender Grundsatz im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bleiben“, und eine Forderung, die 2014 beschlossene Lockerung in den nächsten Jahren zu „evaluieren“.

Eine Art Schlusswort sprach schließlich Michael Grosse-Bröhmer, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In einem Interview erklärte er, seine Partei bleibe zwar „Gegnerin eines generellen Rechts auf doppelte Staatsangehörigkeit“, da diese „zu Loyalitätsproblemen“ führe, doch die 2014 mit der SPD (SPE) erzielten Kompromisse würden wenigstens „in dieser Wahlperiode nicht rückgängig gemacht“. Und damit verschwand die Debatte von der Tagesordnung – ohne unmittelbare Folgen, aber mit der Aussicht auf eine Wiederbelebung im Bundestagswahlkampf nächstes Jahr.

Es kann daher nicht schaden, sich der Frage beizeiten noch einmal in Ruhe zu nähern. Was also ist von der Mehrfachstaatsbürgerschaft zu halten, wenn man Sommerloch, Wahlkampf und Recep Tayyip Erdoğan einmal beiseite lässt?

Schlüsselbegriff Loyalität

Das größte Problem an der jüngsten Debatte scheint mir zu sein, dass sie ein übermäßiges Gewicht auf Fragen der politischen Kultur und Mentalität legte. Der zentrale Schlüsselbegriff sowohl für die CDU-Innenpolitiker als auch für ihre Kritiker war „Loyalität“. Dabei lautet das zentrale Argument der Doppelpass-Gegner, dass Menschen sich entscheiden müssten, welchem Staat gegenüber sie loyal sein wollen, und dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck dieser Loyalität sein solle.

Dieses Argument allerdings ist gleich auf zwei Ebenen zweifelhaft. Erstens ist schon die Vorstellung einer alles dominierenden nationalen Loyalität ein weltanschauliches Relikt aus der schlechten alten Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der man die Nation als eine Art Kampfgemeinschaft verstand, die sich notfalls mit Gewalt gegenüber anderen durchsetzen musste. In Zeiten einer immer enger verflochtenen und immer pluralistischeren Weltgesellschaft sollte klar sein, dass politische Loyalitäten in Wirklichkeit weitaus komplexer gestrickt sind.

Politische Überzeugungen hängen nicht am Pass

So verlaufen viele soziale Gegensätze völlig quer zu nationalen Grenzen – sodass es rationaler wäre, seine Loyalität auf transnationale Parteien zu richten als auf nationale Regierungen. Aber auch wenn man den Loyalitätsbegriff offener fasst und damit nur die Zustimmung zu einem bestimmten politischen System meint, ist der Nationalstaat kein besonders überzeugender Bezugspunkt dafür: Denn Demokratie, Menschenrechte und sozialer Frieden werden längst nicht mehr nur durch den nationalen Verfassungsrahmen geschützt, sondern auch und gerade durch überstaatliche Regime wie die EU, die Europäische Menschenrechtskonvention oder das UN-System.

Noch absurder ist es, zweitens, die Frage der Loyalität mit dem Besitz einer Staatsbürgerschaft zu verbinden. Denn weder die politischen Überzeugungen noch die kulturellen Verhaltensweisen eines Menschen hängen davon ab, welchen Pass er in der Schublade liegen hat: Es gibt deutsche IS-Apologeten und chinesische Demokraten, saudische Feministen und Franzosen, die gerne Schwarzbrot essen. Und wer eine Staatsbürgerschaft annimmt oder auf eine andere verzichtet, wechselt deshalb noch längst nicht seine Denkweise.

Staatsbürgerschaft ist ein Rechtsstatus

Das Einzige, was sich für einen Menschen durch die Annahme oder den Verlust einer Staatsbürgerschaft tatsächlich ändert, ist sein Rechtsstatus. Denn nichts anderes ist die Staatsangehörigkeit: ein Konvolut von Rechten und Pflichten, die ein Mensch gegenüber einem bestimmten Staat besitzt.

Über welche Rechte wir dabei genau sprechen, unterscheidet sich freilich bis heute je nach Land. Die Einteilung der Menschheit in Angehörige verschiedener Staaten hat sich zwar weltweit durchgesetzt und ist auch im Völkerrecht verankert. Was daraus folgt, bleibt den Staaten aber weitgehend selbst überlassen: So gestehen Demokratien ihren Bürgern mehr Rechte zu als Diktaturen, und manche Staaten lassen bestimmte Rechte für alle Einwohner (also auch Ausländer) gelten, die andere nur ihren eigenen Angehörigen zukommen lassen.

Welche Menschen sollten welche Rechte wo besitzen?

Dennoch lassen sich einige typische Rechte identifizieren, die meistens mit der Staatsbürgerschaft einhergehen:

● ein uneingeschränktes Einreise- und Aufenthaltsrecht,
● Schutz vor Auslieferung an andere Staaten und konsularischer Schutz im Ausland,
● das Recht zur politischen Teilhabe, insbesondere das Wahlrecht,
● bestimmte politische Freiheiten (in Deutschland etwa die Versammlungsfreiheit, die nach Art. 8 Grundgesetz nur für Deutsche gilt),
● bestimmte soziale Rechte, besonders der Anspruch auf Sozialhilfe.

Wenn über den Sinn der doppelten Staatsangehörigkeit diskutiert wird, sollten also nicht diffuse Vorstellungen von „Loyalität“ im Vordergrund stehen. Vielmehr müsste es um die Frage gehen, welche Menschen diese Rechte gerechterweise in welchem Staat besitzen sollten.

Weltbürgerrechte

Um sich einer Antwort anzunähern, kann es nützlich sein, sich diese Frage zunächst in einer idealen Welt vorzustellen – einer föderal geordneten Welt, in der nicht nur jedes Land in sich, sondern auch das globale politische System insgesamt so handlungsfähig und demokratisch wäre, dass es uns bestimmte Menschenrechte effektiv als Weltbürgerrechte garantieren könnte.

In einer solchen idealen Welt läge es nahe, zahlreiche der heutigen Staatsbürgerrechte auf die globale Ebene zu verlegen: Menschen in Bezug auf politische Freiheiten wie das Versammlungsrecht nicht überall gleich zu behandeln, würde in einer freiheitlich-demokratischen Weltordnung keinen Sinn ergeben. Auch ein globales Recht auf Freizügigkeit, mit dem alle Menschen ihren Wohnort frei wählen können, sollte in einem solchen System selbstverständlich sein. Und die Garantie eines sozialen Existenzminimums läge als Menschenrecht am sinnvollsten in der Hand eines globalen Sozialstaats.

An den Wohnsitz gebundene Rechte

Andere Rechte wären hingegen auch in einer idealen Welt weiterhin auf nationaler Ebene angesiedelt: Zum Beispiel gäbe es natürlich weiterhin nationale Parlamente und damit auch ein nationales Wahlrecht. Allerdings läge es in einem föderalen, demokratischen Weltsystem nahe, diese nationalen Rechte nicht an eine angeborene oder auf Lebenszeit erworbene Staatsangehörigkeit zu koppeln – sondern schlicht an den Wohnsitz, so wie das heute schon innerhalb von nationalen Föderalstaaten üblich ist.

Innerhalb Deutschlands etwa verliert ein Bremer, der nach Brandenburg zieht, sein Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft; dafür darf er sich (nach einer Übergangszeit von einem Monat) an der Brandenburger Landtagswahl beteiligen. Das ist aus demokratischer Sicht nur sinnvoll, schließlich ist er nach seinem Umzug nicht mehr von der Bremer, sondern von der Brandenburger Gesetzgebung betroffen.

Nicht-Staatsbürger sind erheblichen Nachteilen ausgesetzt

In einem idealen Weltsystem käme der Staatsangehörigkeit also eine ähnliche Bedeutung zu wie heute der Zugehörigkeit zu einer Region in einem Bundesstaat: Man hätte nur eine, könnte sie aber bei einem Umzug schnell wechseln – und für viele der wichtigsten Rechte würde sie ohnehin keine entscheidende Rolle spielen, da diese auf der höhergelegenen, globalen Ebene garantiert wären. Für das Ziel, Menschen möglichst gleiche politische und soziale Rechte zuzugestehen, wäre das zweifellos die beste Lösung.

In der Realität sind wir davon allerdings noch weit entfernt, und natürlich hat es auch kein Staat in der Hand, eine solche Weltordnung allein herbeizuführen. Kurzfristig stellt sich deshalb vor allem die Frage, wie man auf einzelstaatlicher Ebene eine möglichst gerechte Annäherung an dieses Ziel erreichen kann – in einer Zeit, in der die globale Gesellschaft zusammenwächst und grenzüberschreitende Migration immer mehr zu einer Normalität wird.

In dieser Welt sind Menschen, die in ein Land ziehen, dessen Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen, erheblichen Nachteilen ausgesetzt. Der Wechsel der Staatsbürgerschaft setzt fast immer eine mehrjährige Wartezeit voraus, während derer die Betroffenen zahlreiche Rechte nicht ausüben können. Gerade für mobile Menschen, deren Leben sich in mehr als einem Nationalstaat abspielt und die deshalb womöglich mehrmals zwischen verschiedenen Ländern umziehen, sind Mehrfachstaatsbürgerschaften deshalb oft die einzig sinnvolle Lösung.

Doppelstaatler-Rechte bringen anderen kaum Nachteile

Auf der anderen Seite lässt sich auch gegen den Doppelpass ein Gerechtigkeitsargument formulieren: Da Doppelstaatler bestimmte Rechte in mehreren Ländern genießen, geht damit eine Bevorzugung gegenüber Menschen einher, die nur einen Pass besitzen. Auch im deutschen Föderalsystem kann schließlich niemand gleichzeitig in Bremen und in Brandenburg wahlberechtigt sein.

Doch dieses Argument kann kaum überzeugen, um Mehrfachstaatsbürgerschaften grundsätzlich abzulehnen. Denn zum einen ist das Gerechtigkeitsgefälle in diesem Fall deutlich kleiner: Dass Doppelstaatler auch in anderen Ländern Rechte ausüben können, bringt ihren Mitbürgern mit nur einer Staatsangehörigkeit kaum konkrete Nachteile. Es ließe sich sogar einwenden, dass mobile Menschen ja von der Gesetzgebung in mehreren Ländern betroffen sind, sodass es durchaus gute Gründe gibt, ihnen ein mehrfaches Wahlrecht zuzugestehen.

Und zum anderen wäre es durchaus möglich, ein mehrfaches Ausüben von Staatsbürgerrechten durch völkerrechtliche Abkommen einzuschränken – beispielsweise indem Staaten vereinbaren, das Wahlrecht von Mehrfachbürgern an deren Wohnort zu koppeln. Im Internationalen Privatrecht gibt es mit dem Konzept der „effektiven Staatsbürgerschaft“ schon jetzt entsprechende Ansätze. Es wäre verfassungsrechtlich nicht trivial, aber durchaus möglich, das auch auf das öffentliche Recht zu übertragen.

Die bestmögliche Annäherung

In einer idealen Welt würde die quasi lebenslange nationale Staatsbürgerschaft, wie wir sie heute kennen, keine relevante Rolle mehr spielen: Politische und soziale Rechte wären entweder unmittelbar an den Status als Mensch und Weltbürger oder an den Wohnort gebunden. In der realen, nicht-idealen Welt können wir uns dem am besten annähern, indem wir möglichst vielen Menschen den Zugang zu mehreren Staatsbürgerschaften erlauben, damit sie ihre Rechte jeweils dort ausüben können, wo sie sich tatsächlich aufhalten.

Ein Abschaffen der Mehrfachstaatsbürgerschaft hingegen ließe zuletzt die britische Premierministerin Theresa May (Cons./AKRE) Recht behalten, die in einer Parteitagsrede jüngst voll Verachtung erklärte: „Wenn du glaubst, du wärest ein Weltbürger, bist du ein Bürger von nirgendwo.“

Bild: By vxla [CC BY 2.0], via Flickr.

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