Am Ende war die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft,
die die deutsche Öffentlichkeit vor einigen Monaten beschäftigte,
wohl nichts weiter als die übliche Sommerlochdebatte; und wie jede
gute Sommerlochdebatte wurde sie um einige Tonlagen aufgeregter
geführt, als dem Thema gut tat. Auslöser war Ende Juli ein Artikel
des Finanzstaatssekretärs Jens Spahn (CDU/EVP), in dem dieser
Sympathiebekundungen von Deutschtürken für den türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP/AKRE)
kritisierte und dabei auch die doppelte Staatsangehörigkeit in
Zweifel zog:
Grundsätzlich sind zwei Staatsbürgerschaften nicht per se von Schaden. […] Wenn sich aber die Interessen, Ziele und Prinzipien zweier Staaten immer stärker widersprechen und wenn sich gleichzeitig offensichtlich eine so große Gruppe wie die Deutschtürken nicht so recht entscheiden kann, welchem der beiden Staaten eigentlich ihre Loyalität gilt […], dann muss auch die Bundesrepublik Deutschland ihr Recht einfordern.
Ein
Sommerloch-Thema
Wenig
später wurde das Thema in einem
gemeinsamen Papier der
Innenminister der CDU/CSU (EVP) aufgegriffen. Im
Entwurf für eine Erklärung
zur inneren Sicherheit bezeichneten
sie die doppelte Staatsbürgerschaft Anfang
August als
ein „großes Integrationshindernis“, das
es abzuschaffen gelte. Vor allem der zu
diesem Zeitpunkt wahlkämpfende Berliner Innensenator Frank Henkel
(CDU/EVP) zeigte sich als Scharfmacher und erhielt
dafür Lob von der Rechtsaußenpartei AfD.
In
den folgenden Tagen jagte das Thema einmal durch das politische
Feuilleton. Die große Mehrheit der Kommentatoren
(von der Zeit
über den Tagesspiegel
bis zur FAZ)
kritisierte dabei den Vorstoß der CDU-Innenminister;
andere, wie die
islamkritische Soziologin
Necla Kelek, unterstützten
ihn hingegen.
Und auch der
linke Publizist Jakob Augstein sprach
sich dafür aus, die
doppelte Staatsbürgerschaft nur EU-Bürgern
vorzubehalten. Für alle anderen hingegen
sollte gelten: „Wer
in Deutschland geboren wird, ist automatisch Deutscher. Und nur das.“
Debatte
ohne Folgen, aber mit Aussicht auf Wiederbelebung
Beendet
wurde die Debatte schließlich Ende
August durch Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU/EVP), die in
einem Interview erklärte, man werde das erst
2014 gelockerte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht
nicht jetzt schon wieder ändern. Gleichzeitig
wurde der entsprechende Passus in
der Endfassung der Erklärung
der CDU-Innenminister deutlich
abgemildert:
Übrig blieben
nur die Formulierung, die „Vermeidung von Mehrstaatigkeit“ müsse
„prägender Grundsatz im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht
bleiben“, und eine Forderung, die
2014 beschlossene Lockerung in den nächsten Jahren zu „evaluieren“.
Eine
Art Schlusswort sprach schließlich Michael
Grosse-Bröhmer, der parlamentarische
Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In
einem Interview erklärte
er,
seine Partei bleibe
zwar „Gegnerin
eines generellen Rechts auf doppelte Staatsangehörigkeit“, da
diese „zu Loyalitätsproblemen“ führe, doch
die 2014 mit
der SPD (SPE) erzielten Kompromisse würden wenigstens
„in dieser Wahlperiode nicht rückgängig
gemacht“. Und damit
verschwand die Debatte von der Tagesordnung
– ohne unmittelbare Folgen, aber mit der Aussicht auf eine
Wiederbelebung im Bundestagswahlkampf nächstes
Jahr.
Es
kann daher nicht schaden, sich der Frage beizeiten noch einmal in
Ruhe zu nähern. Was also ist von der Mehrfachstaatsbürgerschaft zu
halten, wenn man Sommerloch, Wahlkampf und Recep Tayyip Erdoğan
einmal beiseite lässt?
Schlüsselbegriff
Loyalität
Das
größte Problem an der jüngsten Debatte scheint mir zu sein, dass
sie ein übermäßiges Gewicht auf Fragen der politischen Kultur und
Mentalität legte. Der zentrale Schlüsselbegriff sowohl für die
CDU-Innenpolitiker als auch für ihre Kritiker war „Loyalität“.
Dabei lautet das zentrale Argument der Doppelpass-Gegner, dass
Menschen sich entscheiden müssten, welchem Staat gegenüber sie
loyal sein wollen, und dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck dieser
Loyalität sein solle.
Dieses
Argument allerdings ist gleich auf zwei Ebenen zweifelhaft. Erstens
ist schon die Vorstellung einer alles dominierenden nationalen
Loyalität ein weltanschauliches Relikt aus der schlechten
alten Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der man die
Nation als eine Art Kampfgemeinschaft verstand, die sich notfalls mit
Gewalt gegenüber anderen durchsetzen musste. In Zeiten einer immer
enger verflochtenen und immer pluralistischeren Weltgesellschaft
sollte klar sein, dass politische Loyalitäten in Wirklichkeit
weitaus komplexer gestrickt sind.
Politische
Überzeugungen hängen nicht am Pass
So
verlaufen viele soziale Gegensätze völlig quer zu nationalen
Grenzen – sodass es rationaler
wäre, seine Loyalität auf transnationale Parteien zu richten als
auf nationale Regierungen. Aber auch wenn man den
Loyalitätsbegriff offener fasst und damit nur die Zustimmung zu
einem bestimmten politischen System meint, ist der Nationalstaat kein
besonders überzeugender Bezugspunkt dafür: Denn Demokratie,
Menschenrechte und sozialer Frieden werden längst nicht mehr nur
durch den nationalen Verfassungsrahmen geschützt, sondern auch und
gerade durch überstaatliche Regime wie die EU, die Europäische
Menschenrechtskonvention oder das UN-System.
Noch
absurder ist es, zweitens, die Frage der Loyalität mit dem Besitz
einer Staatsbürgerschaft zu verbinden. Denn weder die politischen
Überzeugungen noch die kulturellen Verhaltensweisen eines Menschen
hängen davon ab, welchen
Pass er in der Schublade liegen hat: Es gibt deutsche IS-Apologeten
und chinesische Demokraten, saudische Feministen und Franzosen, die
gerne Schwarzbrot essen. Und wer eine Staatsbürgerschaft annimmt
oder auf eine andere verzichtet, wechselt deshalb noch längst nicht
seine Denkweise.
Staatsbürgerschaft
ist ein Rechtsstatus
Das
Einzige, was sich für einen Menschen durch die Annahme oder den
Verlust einer Staatsbürgerschaft tatsächlich ändert, ist sein
Rechtsstatus. Denn nichts anderes ist die Staatsangehörigkeit: ein
Konvolut von Rechten und Pflichten, die ein Mensch gegenüber einem
bestimmten Staat besitzt.
Über
welche Rechte wir dabei genau sprechen, unterscheidet sich freilich
bis heute je nach Land. Die Einteilung der Menschheit in Angehörige
verschiedener Staaten hat sich zwar weltweit durchgesetzt und ist
auch im Völkerrecht verankert. Was daraus folgt, bleibt den Staaten
aber weitgehend selbst überlassen: So gestehen Demokratien ihren
Bürgern mehr Rechte zu als Diktaturen, und manche Staaten lassen
bestimmte Rechte für alle Einwohner (also auch Ausländer) gelten,
die andere nur ihren eigenen Angehörigen zukommen lassen.
Welche Menschen sollten welche Rechte wo besitzen?
Dennoch
lassen sich einige typische Rechte identifizieren, die meistens mit
der Staatsbürgerschaft einhergehen:
●
ein uneingeschränktes Einreise- und Aufenthaltsrecht,
●
Schutz vor Auslieferung an andere Staaten und konsularischer Schutz
im Ausland,
●
das Recht zur politischen Teilhabe, insbesondere das Wahlrecht,
●
bestimmte politische Freiheiten (in Deutschland etwa die
Versammlungsfreiheit, die nach Art.
8 Grundgesetz nur für Deutsche gilt),
●
bestimmte soziale Rechte, besonders der Anspruch auf Sozialhilfe.
Wenn
über den Sinn der doppelten Staatsangehörigkeit diskutiert wird,
sollten also nicht diffuse Vorstellungen von „Loyalität“ im
Vordergrund stehen. Vielmehr müsste es um die Frage gehen, welche
Menschen diese Rechte gerechterweise in welchem Staat besitzen
sollten.
Weltbürgerrechte
Um
sich einer Antwort anzunähern, kann es nützlich sein, sich diese
Frage zunächst in einer idealen Welt vorzustellen – einer föderal
geordneten Welt, in der nicht nur jedes Land in sich, sondern auch
das
globale politische System insgesamt so handlungsfähig und
demokratisch wäre, dass es uns bestimmte Menschenrechte effektiv als Weltbürgerrechte
garantieren könnte.
In
einer solchen idealen Welt läge es nahe, zahlreiche der
heutigen Staatsbürgerrechte auf die globale Ebene zu verlegen: Menschen in Bezug auf politische Freiheiten wie das Versammlungsrecht nicht überall gleich zu behandeln, würde in einer
freiheitlich-demokratischen Weltordnung keinen Sinn ergeben. Auch ein
globales
Recht auf Freizügigkeit, mit dem alle
Menschen ihren Wohnort frei wählen können, sollte in
einem solchen System selbstverständlich
sein. Und die Garantie eines sozialen Existenzminimums läge
als Menschenrecht am
sinnvollsten in
der Hand eines globalen Sozialstaats.
An den Wohnsitz gebundene Rechte
Andere
Rechte wären hingegen auch in einer idealen Welt weiterhin auf
nationaler Ebene angesiedelt: Zum Beispiel gäbe es natürlich
weiterhin nationale Parlamente und damit auch ein nationales
Wahlrecht. Allerdings läge es in einem föderalen, demokratischen
Weltsystem nahe, diese nationalen Rechte nicht an eine
angeborene oder auf Lebenszeit erworbene Staatsangehörigkeit zu
koppeln – sondern schlicht
an den Wohnsitz, so wie das heute schon innerhalb von nationalen
Föderalstaaten üblich ist.
Innerhalb
Deutschlands etwa verliert ein Bremer, der nach Brandenburg zieht,
sein Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft; dafür darf er sich (nach
einer Übergangszeit von einem Monat) an der Brandenburger
Landtagswahl beteiligen. Das ist aus demokratischer Sicht nur
sinnvoll, schließlich ist er nach seinem Umzug nicht mehr von der
Bremer, sondern von der Brandenburger Gesetzgebung betroffen.
Nicht-Staatsbürger sind erheblichen Nachteilen ausgesetzt
In
einem idealen Weltsystem käme der Staatsangehörigkeit also eine
ähnliche Bedeutung zu wie heute der Zugehörigkeit zu einer Region in
einem Bundesstaat: Man hätte nur eine, könnte sie aber bei
einem Umzug schnell wechseln – und für viele der wichtigsten
Rechte würde sie ohnehin keine entscheidende Rolle spielen, da diese
auf der höhergelegenen, globalen Ebene garantiert wären. Für das
Ziel, Menschen möglichst gleiche politische und soziale Rechte
zuzugestehen, wäre das zweifellos die beste Lösung.
In
der Realität sind wir davon allerdings noch weit entfernt, und
natürlich hat es auch kein Staat in der Hand, eine solche
Weltordnung allein herbeizuführen. Kurzfristig stellt sich deshalb
vor allem die Frage, wie man auf einzelstaatlicher Ebene eine
möglichst gerechte Annäherung an dieses Ziel erreichen kann – in
einer Zeit, in der die globale Gesellschaft zusammenwächst und
grenzüberschreitende Migration immer mehr zu einer Normalität wird.
In
dieser Welt sind Menschen, die in ein Land ziehen, dessen
Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen, erheblichen Nachteilen
ausgesetzt. Der Wechsel der
Staatsbürgerschaft setzt fast immer eine mehrjährige Wartezeit
voraus, während derer die Betroffenen zahlreiche Rechte nicht ausüben können. Gerade für mobile Menschen, deren Leben sich in mehr als einem
Nationalstaat abspielt und die deshalb womöglich mehrmals zwischen
verschiedenen Ländern umziehen, sind Mehrfachstaatsbürgerschaften
deshalb oft die einzig sinnvolle Lösung.
Doppelstaatler-Rechte bringen anderen kaum Nachteile
Auf
der anderen Seite lässt sich auch gegen den Doppelpass ein
Gerechtigkeitsargument formulieren: Da Doppelstaatler bestimmte
Rechte in mehreren Ländern genießen, geht damit eine Bevorzugung
gegenüber Menschen einher, die nur einen Pass besitzen. Auch im
deutschen Föderalsystem kann schließlich niemand gleichzeitig in
Bremen und in Brandenburg wahlberechtigt sein.
Doch
dieses Argument kann kaum überzeugen, um
Mehrfachstaatsbürgerschaften grundsätzlich abzulehnen. Denn zum
einen ist das Gerechtigkeitsgefälle in diesem Fall deutlich kleiner:
Dass Doppelstaatler auch in anderen Ländern Rechte ausüben können,
bringt ihren Mitbürgern mit nur einer Staatsangehörigkeit kaum
konkrete Nachteile. Es ließe sich sogar einwenden, dass mobile
Menschen ja von der Gesetzgebung in mehreren Ländern betroffen sind, sodass es durchaus gute Gründe gibt, ihnen ein mehrfaches
Wahlrecht zuzugestehen.
Und zum
anderen wäre es durchaus möglich, ein mehrfaches Ausüben von
Staatsbürgerrechten durch völkerrechtliche Abkommen einzuschränken
– beispielsweise indem Staaten vereinbaren, das Wahlrecht von
Mehrfachbürgern an deren Wohnort zu koppeln. Im Internationalen
Privatrecht gibt es mit dem Konzept der „effektiven
Staatsbürgerschaft“ schon jetzt entsprechende Ansätze. Es
wäre verfassungsrechtlich nicht trivial, aber durchaus möglich, das
auch auf das öffentliche Recht zu übertragen.
Die
bestmögliche Annäherung
In
einer idealen Welt würde die quasi lebenslange nationale
Staatsbürgerschaft, wie wir sie heute
kennen, keine relevante Rolle mehr spielen: Politische
und soziale Rechte wären entweder
unmittelbar an
den Status als Mensch und Weltbürger oder
an den Wohnort gebunden. In der realen, nicht-idealen Welt können
wir uns dem am besten annähern, indem wir möglichst vielen Menschen den Zugang zu mehreren
Staatsbürgerschaften erlauben, damit sie ihre Rechte jeweils dort
ausüben können, wo sie sich tatsächlich
aufhalten.
Ein Abschaffen der Mehrfachstaatsbürgerschaft hingegen ließe zuletzt die britische
Premierministerin Theresa May (Cons./AKRE) Recht behalten,
die in einer Parteitagsrede jüngst voll
Verachtung erklärte: „Wenn du glaubst, du
wärest ein
Weltbürger, bist du ein Bürger von nirgendwo.“
Bild: By vxla [CC BY 2.0], via Flickr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.